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JUGEND/087: Das Ende der "Normalbiografie" (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104

Das Ende der "Normalbiografie"

Von Birgit Reißig



Die problemlose Abfolge von Kindheit, Schule und Beruf ist heute nicht mehr die Regel. Für Jugendliche ist vor allem der Übergang von der Schule in das Arbeitsleben schwierig, die Gefahr sozialer Ausgrenzung ist in dieser Phase besonders groß. Die sozialwissenschaftliche Forschung hat auf diesen Wandel teilweise bereits reagiert. Dennoch gibt es Fragen, denen sie zukünftig verstärkt nachgehen sollte.


Der Übergang von der Kindheit in das Erwachsenenalter ist für junge Menschen eine Herausforderung. Die Lebensphase "Jugend", die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts als eigenständiger biografischer Abschnitt wahrgenommen wird, stellt allerdings seit einigen Jahrzehnten besonders große Anforderungen an Jugendliche. Grund dafür ist ein in den 1980er-Jahren beginnender Wandel biografischer Abläufe. Seitdem wurde das zuvor dominante lineare Übergangsmuster heterogener und fragmentierter. Diese Entwicklung wird in der sozialwissenschaftlichen Jugendforschung bis heute unterschiedlich beschrieben: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen beispielsweise von einer "Entstrukturierung" oder "Destandardisierung" der Jugendphase (Olk 1985), von einer "Individualisierung" (Fuchs 1983; Heitmeyer/Olk 1990) oder "Entgrenzung" (Schröer 2004). Alle diese Begriffe zielen im Kern darauf, dass lineare Übergänge von der Kindheit in die Jugend und von der Jugend ins Erwachsensein aufgebrochen werden. Die Konturen der "Lebensphase Jugend" haben sich verändert.

Dies zeigt sich zum einen in einem späteren Eintritt in die Berufsausbildung - der Einstieg in die erste Berufsausbildung erfolgt in Deutschland heute mit durchschnittlich 19,5 Jahren - und zum anderen in der Verkürzung von Bildungs- und Studienzeiten (etwa durch das 8-jährige Gymnasium oder den Bologna-Prozess). Insbesondere der verzögerte und oft mit prekären Bedingungen einhergehende Einstieg nach Studium oder Berufsausbildung in die Erwerbsarbeit führt dazu, dass junge Menschen erst spät den Erwachsenenstatus erreichen (Hurrelmann 2010; Buchholz 2008).


Schwierige Rahmenbedingungen erzeugen mehr "Nesthocker"

Auf eine "normalbiografische Verknüpfung zwischen Bildung und Beschäftigung" können sich junge Menschen heute kaum mehr verlassen (Stauber/Walther 2013, S. 276). In den Fokus der Öffentlichkeit gelangen immer wieder die sogenannten "Nesthocker", junge Erwachsene (vor allem Männer), die noch bis weit über 30 Jahre bei ihren Eltern wohnen. Forscherinnen und Forscher verweisen zu Recht darauf, dass auch sozialstaatliche Rahmenbedingungen es für junge Frauen und Männer ohne Ausbildung oder Arbeit zusätzlich erschweren, aus dem Elternhaus auszuziehen und einen eigenen Haushalt zu gründen (Stauber/Walther 2013). Wenn junge Menschen über keine eigenen Einkünfte verfügen und auf sozialstaatliche Leistungen angewiesen sind, sieht es die SGB II-Gesetzgebung nur in begründeten Ausnahmefällen vor, dass junge Menschen unter 25 Jahren eine eigene Wohnung haben können. Auch die Familiengründung ist schwieriger geworden. Zwar haben Jugendliche nach wie vor früh sexuelle Beziehungen, Heirat und Kinder werden jedoch lebenszeitlich nach hinten geschoben (Hurrelmann 2010). Zugleich wächst der Wunsch der jungen Menschen nach Kindern und Familie (Gille 2006). Ihre fehlende Haushaltseigenständigkeit und späte Familiengründung geht in vielen Fällen mit einem Bedeutungszuwachs der Peerbeziehungen einher.

Jugend ist eine Zeit der Identitätssuche, des Ausprobierens und zum Teil auch des riskanten Verhaltens. Zwar betrachten Forscherinnen und Forscher diese Lebensphase nicht mehr generell kritisch, dennoch beobachten sie riskante Verhaltensweisen der jungen Menschen - von kritischem Verhalten im Straßenverkehr bis hin zum Drogenkonsum. Im Jugendalter findet zudem die politische Sozialisation statt, die mit Orientierungsprozessen einhergeht. Junge Menschen sind dabei unterschiedlichen Einflüssen ausgesetzt, sie müssen sich den vielfältigen Herausforderungen des Aufwachsens in einer Einwanderungsgesellschaft stellen. Neben einem Erfahrungsgewinn beinhaltet dies auch die Notwendigkeit, sich erweiterte (interkulturelle) Kompetenzen im gesellschaftlichen Zusammenleben anzueignen und verschiedene beziehungsweise als verschieden wahrgenommene Identitätsanteile zu integrieren. Eine besonders problematische Entwicklung sind fremdenfeindliche, antidemokratische und rechtsextreme Tendenzen. Damit kommt der Jugendphase auch mit Blick auf diese Entwicklungen und die Förderung eines friedlichen Zusammenlebens in einer pluralistischen Gesellschaft besondere Bedeutung zu (Glaser/Greuel 2013).

Die hier schlaglichtartig aufgezeigten Entwicklungen verdeutlichen die Prozesse einer Entstandardisierung des Jugendalters, und führen zu folgenden Thesen: Erstens wird deutlich, dass sich das junge Erwachsenenalter aufgrund dieser Prozesse immer mehr als eine eigenständige Phase im Lebenslauf herauskristallisiert (Stauber/Walther 2013; BMFSFJ 2013). Zweitens ist augenfällig, dass Prozesse der Entstandardisierung vor allem auf Auswirkungen veränderter Bedingungen im Bereich von Bildung, Ausbildung und Erwerbsarbeit zurückzuführen sind. Dennoch gewinnt Bildung "trotz ihrer inhaltlichen Entkopplung vom Beschäftigungssystem noch an Bedeutung" (Walther/Stauber 2013, S. 35). Junge Menschen investieren immer stärker in ihre Bildung, ohne zu wissen, ob sich diese Investitionen im Berufsleben auszahlen. Damit wird deutlich, dass allein das individuelle Meistern von Herausforderungen im Jugendalter zwar eine wichtige Voraussetzung für die Bewältigung von Übergängen darstellt, aber allein nicht ausreicht. Gesellschaftliche Rahmenbedingungen (beispielsweise Anforderungen des Arbeitsmarkts oder regionale Unterschiede) sind ein ebenso wichtiger Faktor für die erfolgreiche Bewältigung von Übergängen im Jugendalter.

Die sozialwissenschaftliche Forschung hat auf die Veränderungen im Aufwachsen junger Menschen mit unterschiedlichen Schwerpunktsetzungen reagiert. Zum einen folgte der beobachtbaren Ausdifferenzierung von Jugendbiografien auch eine Differenzierung der Betrachtungsebenen. Ausdruck dafür ist der bereits erwähnte spezifische Blick auf das junge Erwachsenenalter. Aber auch die neuen Anforderungen an das Individuum bei der Gestaltung der eigenen Biografie wurden in der Forschung durch erweiterte Blickwinkel reflektiert.

Deutlich wird dies beispielsweise in der Hinwendung zum Begriff des "Übergangs": Dieser fließendere Ausdruck hat die eindeutig festgelegte, starre "Statuspassage" weitgehend ersetzt. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler beschreiben Lebensläufe auch als eine Abfolge von Übergängen. Übergänge werden dabei als Wechsel zwischen Lebensphasen, Statuskonfigurationen und psychischen Zuständen in der Biografie von Individuen verstanden (Raithelhuber 2011; Walter/Stauber 2013). Damit wird der Blick auf Institutionen und Strukturen geöffnet, die Übergänge beeinflussen, und es werden gleichzeitig auch die Handlungspotentiale von Individuen beachtet.

Die Erkenntnis, dass "Statuspassagen mehr oder weniger erfolgreich absolviert, Übergänge hingegen bewältigt (werden)" (Schröer 2013, S. 70), verweist darauf, dass Fragen von Handlungsfähigkeit und Handlungsermächtigung seit einigen Jahren in der Forschung stärkere Beachtung gefunden haben. Dieses "Agency-Konzept" bietet die Möglichkeit, individuelle Handlungsfähigkeit zu betrachten, ohne jedoch den gesellschaftlich-strukturellen Kontext aus dem Blick zu verlieren. Dabei geht es darum, wie junge Menschen vor dem Hintergrund des Einflusses der sozialen Herkunft sowie gesellschaftlicher Rahmenbedingungen in Übergangssituationen individuelle Ressourcen mobilisieren können und sich als handelnde Akteure erweisen.


Übergänge sind "Zonen der Verwundbarkeit"

Übergangsprozesse sind mit Risiken und Unsicherheiten verbunden und stellen Zonen der Verwundbarkeit dar (Walter/Stauber 2013; Castel 2000). Damit sind Übergangsphasen für die Betroffenen besonders neuralgische Punkte innerhalb ihrer Biografie, an denen auch die Gefahr der sozialen Exklusion groß ist. Die Übergänge in das Erwachsenenalter stellen in besonderer Weise Anforderungen an junge Menschen, vor allem falls es ihnen nicht gelingt, von einem Lebensstadium in das nächste zu gelangen, etwa wenn sie keinen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz finden, und sie dadurch in prekäre Lebenslagen geraten. Kommen dazu noch fehlende Möglichkeiten materieller und kultureller Teilhabe sowie soziale Isolation, müssen junge Menschen als sozial ausgegrenzt gelten (Kronauer 2002).

Dieses Phänomen lässt sich nach wie vor in unserer Gesellschaft beobachten. Die sozialwissenschaftliche Forschung wird dem weiterhin Aufmerksamkeit schenken müssen, um die Wirkungsweisen von Prozessen der sozialen Inklusion und Exklusion aufzudecken. Ein Schwerpunkt sollte dabei - wie insgesamt in der Übergangsforschung - auf den Prozessbetrachtungen liegen. Denn dadurch können Inklusions- und Exklusionsprozesse im Spannungsfeld von strukturellen Einflüssen (zum Beispiel der sozialen Herkunft der jungen Menschen) und individueller Handlungsfähigkeit beobachtet werden, ohne dabei jedoch einem "Machbarkeitsmythos" aufzusitzen und die alleinige Verantwortung für die Gestaltung von Übergängen dem Individuum aufzubürden.

Jugendliche sind ein zunehmend "knapper werdendes Gut". Dies hat auch für die Jugendforschung Konsequenzen. Insbesondere vor dem Hintergrund des demografischen Wandels stellen sich viele Fragen neu. Wie kann beispielsweise in strukturschwachen Regionen langfristig die Chancengerechtigkeit beim Aufwachsen junger Menschen gewährleistet werden? Der Wegfall oder Abbau von kulturellen, bildungsbezogenen oder sozialen Strukturen geht einher mit der Gefahr, dass junge Menschen Benachteiligungen und Ausgrenzungen ausgesetzt sind. Vor diesem Hintergrund geht es auch um Bewältigungsstrategien beim Umgang mit regionalen Unterschieden im politischen und individuellen Handeln. Das Thema Jugend und regionale Disparitäten wird daher zukünftig nicht allein mit Blick auf Deutschland oder einzelne Regionen in Deutschland bearbeitet werden können, sondern auf die europäische Ebene erweitert werden müssen.


DIE AUTORIN

Dr. Birgit Reißig ist Leiterin des Forschungsschwerpunkts "Übergänge im Jugendalter" und der DJI-Außenstelle in Halle (Saale).
Kontakt: reissig@dji.de


LITERATUR

BUNDESMINISTERIUM FÜR FAMILIE, SENIOREN, FRAUEN UND JUGEND (BMFSFJ; 2013): 14. Kinder- und Jugendbericht. Bericht über die Lebenssituation junger Menschen und die Leistungen der Kinder- und Jugendhilfe in Deutschland. Drucksache 17/12200

BUCHHOLZ, SANDRA. (2008): Die Flexibilisierung des Erwerbsverlaufs. Eine Analyse von Einstiegs- und Ausstiegsprozessen in Ost- und Westdeutschland. Wiesbaden

CASTEL, ROBERT (2000): Die Metamorphosen der sozialen Frage. Eine Chronik der Lohnarbeit. Konstanz

FUCHS, WERNER (1983): Jugendliche Statuspassage oder individualisierte Jugendbiografie? In: Soziale Welt, Heft 34, S. 341-371

GILLE, MARTINA (2006): Werte, Geschlechterorientierung und Lebensentwürfe 12- bis 19-Jähriger. In: Gille, Martina/ Sardei-Biermann, Sabine/Gaiser, Wolfgang/de Rijke, Johann (Hrsg.): Jugendliche und junge Erwachsene in Deutschland. DJI-Survey 3, Wiesbaden, S. 131-211

GLASER, MICHAELA/GREUEL, FRANK (2013): Jugendarbeit und Rechtsextremismus. In: Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Online (EEO), Fachgebiet Jugend und Jugendarbeit, herausgegeben von Thomas Rauschenbach und Stefan Borrmann

HEITMEYER, WOLFGANG/OLK, THOMAS (1990): Individualisierung von Jugend: gesellschaftliche Prozesse, subjektive Verarbeitungsformen, jugendpolitische Konsequenzen. Weinheim/München

HURRELMANN, KLAUS (2010): Lebensphase Jugend. Eine Einführung in die sozialwissenschaftliche Jugendforschung. Weinheim

KRONAUER, MARTIN (2002): Exklusion. Die Gefährdung des Sozialen im hoch entwickelten Kapitalismus. Frankfurt am Main/New York

OLK, THOMAS (1985). Jugend und gesellschaftliche Differenzierung - Zur Entstrukturierung der Jugendphase. In: Heid, Helmut/ Klafki, Wolfgang (Hrsg.): Arbeit - Bildung - Arbeitslosigkeit. Zeitschrift für Pädagogik, Beiheft 19. Weinheim/Basel, S. 290-301

RAITHELHUBER, EBERHARD (2011). Übergänge und Agency. Eine sozialtheoretische Reflexion des Lebenslaufkonzepts. Opladen

SCHRÖER, WOLFGANG (2004): Befreiung aus dem Moratorium? Zur Entgrenzung von Jugend. In: Lenz, Karl/Schefold, Werner/ Schröer, Wolfgang: Entgrenzte Lebensbewältigung. Jugend, Geschlecht und Jugendhilfe. Weinheim/München, S. 19-74

SCHRÖER, WOLFGANG (2013): Entgrenzung, Übergänge, Bewältigung. In: Schröer, Wolfgang/Stauber, Barbara/Walther, Andreas/ Böhnisch, Lothar/Lenz, Karl (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel, S. 64-79

STAUBER, BARBARA/WALTHER, ANDREAS (2013): Junge Erwachsene - eine Lebenslage des Übergangs? In: Schröer, Wolfgang/Stauber, Barbara/ Walther, Andreas/Böhnisch, Lothar/Lenz, Karl (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel, S. 270-290

WALTHER, ANDREAS/STAUBER, BARBARA (2013): Übergänge im Lebenslauf. In: Schröer, Wolfgang/Stauber, Barbara/Walther, Andreas/ Böhnisch, Lothar/Lenz, Karl (Hrsg.): Handbuch Übergänge. Weinheim/Basel, S. 23-43


DJI Impulse 4/2013 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2013 - Nr. 104, S. 4-6
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veröffentlicht im Schattenblick zum 2. April 2014