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JUGEND/070: Jugend heute - im Zwiespalt (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97

Jugend heute: im Zwiespalt
Verglichen mit früheren Generationen sind junge Menschen heute mit ungewissen Zukunftsaussichten konfrontiert.

Von Martina Gille



Während in den 1960er- und 1970er-Jahren die Jugendgenerationen gegen das autoritäre Elternhaus und das Establishment aufbegehrten, war seit Beginn der 1980er Jahre ein Wertewandel bei jungen Menschen zu finden, der die eigene erfolgreiche Integration in die Gesellschaft und das private Glück ins Zentrum individueller Lebensplanungen rückte. Wie lässt sich die Situation der heutigen Jugend beschreiben?

In ganz Europa gehen Jugendliche auf die Straße, um verlorene Lebenschancen einzuklagen. Sie fordern bezahlbaren Wohnraum, Studienplätze sowie qualifizierte Arbeitsstellen.

Die Auswirkungen der Wirtschafts- und Finanzkrise sowie der Wandel der Arbeitsgesellschaften bedeuten für die junge Generation, dass die Einstiegschancen in stabile und gut bezahlte Arbeitsverhältnisse, so wie sie für die Elterngeneration noch selbstverständlich waren, häufig nicht mehr gegeben sind. Wie nehmen junge Menschen diese veränderten gesellschaftlichen Bedingungen wahr? Verstärken sich bei ihnen Gefühle von Orientierungsunsicherheit? Entwickeln sie zunehmend das Gefühl, nicht mehr den Platz in der Gesellschaft einnehmen zu können, der ihnen gerechterweise zusteht? Inwieweit können sie angesichts geringer werdender biografischer Planungssicherheit ihr hohes Leistungsstreben aufrecht erhalten? Anhand des DJI-Surveys AID:A 2009 (Aufwachsen in Deutschland: Alltagswelten) und durch Vergleiche mit den früheren Ergebnissen des DJI-Jugendsurveys (1992 bis 2003) werden im Folgenden Entwicklungstendenzen seit Beginn der 1990er-Jahre in den Orientierungen junger Frauen und Männer in Deutschland beschrieben.


Der Schritt in die Selbstständigkeit wird schwieriger

Die junge Generation wird heutzutage häufig mit dem Etikett der Génération Précaire versehen (Dörre 2010). Damit wird auf gesellschaftliche Veränderungen der Arbeitsgesellschaft Bezug genommen, die zu einem tiefgreifenden Wandel der Jugendphase geführt haben. Diese sind vor allem durch einen Strukturwandel der heutigen Erwerbsarbeit gekennzeichnet: Es gibt eine Abkehr vom Normalarbeitsverhältnis, das durch einen lebenslang beständigen Beruf und eine entsprechende tarifliche und soziale Absicherung charakterisiert werden kann und zudem im Kontext traditioneller Geschlechterverhältnisse vor allem für Männer in ihrer Rolle als Familienernährer selbstverständlich war. Stattdessen nimmt prekäre Beschäftigung zu, die sich stichwortartig umschreiben lässt mit der Zunahme befristeter Beschäftigung, von Teilzeitarbeit und einer Ausweitung des Niedriglohnsektors.

Dies bedeutet für junge Frauen und Männer nicht nur erhöhte berufliche Flexibilität in räumlicher und zeitlicher Hinsicht, sondern auch hohe ökonomische Unsicherheit, wachsendes Armutsrisiko und geringe Planungssicherheit im Hinblick auf langfristig verpflichtende biografische Entscheidungen die Wahl des Wohnsitzes oder die Familiengründung. Damit stellen postfordistische Arbeitsgesellschaften das Moratorium der Jugendphase in Frage (Böhnisch/Lenz/Schröer 2009). Jugend kann nicht mehr als Übergangsphase von der Kindheit in das Erwachsenenalter angesehen werden, da es das Erwachsenenalter mit einer lebenslangen, sicheren und auskömmlich bezahlten Berufsausübung so nicht mehr gibt.


Die Orientierungsunsicherheit nimmt zu

Wie reagieren Jugendliche und junge Erwachsene auf diese Veränderungen, auf die wachsenden Diskrepanzen zwischen eigenen Zukunftsplänen und nicht oder nur schwer realisierbaren biografischen Etappen in Richtung eines selbstständigen und ökonomisch gesicherten Erwachsenenstatus? Fühlen sie sich zunehmend verunsichert?

Orientierungsunsicherheit bedeutet, dass man die eigenen Handlungsmöglichkeiten in einer gesellschaftlichen Situation des Umbruchs, der gegenüber man sich als nur unzureichend gewappnet empfindet, als unklar einschätzt, dass man ein Gefühl fehlender Kontrolle hat (Gaiser/Gille/de Rijke 2011). Diese allgemeine Orientierungsunsicherheit steigt seit 1992 etwas an. Fast ein Drittel der 18- bis 29-Jährigen fühlt sich heute verunsichert (siehe Abbildung "Junge Menschen fühlen sich zunehmend verunsichert").



Hohes Gerechtigkeitsempfinden

Trotz schwieriger gewordener Zukunftsperspektiven vertritt eine zunehmende Zahl junger Menschen die Einschätzung, sehr viel mehr als den gerechten Anteil oder immerhin den gerechten Anteil zu bekommen im Vergleich dazu, wie andere Menschen in Deutschland leben. Waren im Jahr 1992 circa die Hälfte der 18- bis 29-Jährigen dieser Auffassung, so waren es im Jahr 2009 bereits vier Fünftel. Wie bei der Orientierungsunsicherheit finden wir eine Angleichung zwischen West und Ost, allerdings haben zu allen Zeitpunkten die westdeutschen jungen Erwachsenen häufiger eine positive Gerechtigkeitsbewertung. Erstaunlich ist der Anstieg von positiven Gerechtigkeitsbewertungen:

Obwohl die wachsende Staatsverschuldung und der Abbau sozialstaatlicher Leistungen für die junge Generation bedeutet, dass sie nicht mehr in dem Maße wie ihre Elterngeneration staatlich abgesichert ist, ziehen Jugendliche heute für ihre Bewertung eines gerechten Anteils nicht das Generationenverhältnis früherer Tage heran, sondern richten ihre Vergleichsmaßstäbe offensichtlich an den aktuellen Gegebenheiten aus (siehe Abbildung "Jüngere fühlen sich heutzutage gerechter behandelt").



Ein Wertewandel ist erkennbar

Angesichts schwierig gewordener gesellschaftlicher Rahmenbedingungen setzen junge Menschen vermehrt auf private soziale Netzwerke. Persönliche Beziehungen sind verbindliche und vor allem auf Dauer stabile Fixpunkte in ihrem Leben. Herkunftsfamilie, Gleichaltrige, Partnerschaft und eine eigene zukünftige Familie werden als immer wichtiger eingeschätzt, wie der Zeitvergleich mit Hilfe der DJI-Jugendsurvey-Daten und des DJI-Surveys AID:A 2009 ergibt. Konflikte in den persönlichen Generationenbeziehungen sind eher selten. Das Verhältnis zu den Eltern wird überwiegend positiv beschrieben. Die meisten Jugendlichen erleben zu Hause ein gutes Familienklima und möchten deshalb ihre eigenen Kinder ähnlich erziehen, wie sie selbst erzogen wurden, wie die Ergebnisse der 16. Shell Jugendstudie zeigen (Leven/Quenzel/Hurrelmann 2010).

Während 1992 noch Werte der Selbstverwirklichung wie »eigene Fähigkeiten entfalten« an erster Stelle standen, rücken im Jahr 2009 Werte der Prosozialität in der Rangreihe auf: »Anderen Menschen helfen« ist an erster Stelle, aber auch »Verantwortung für andere übernehmen« oder »Rücksicht auf andere nehmen« werden wichtiger. Pflichtbewusstsein rangierte 1992 noch im mittleren Bereich der Rangreihe und hat seitdem einen starken Bedeutungsanstieg erfahren. Auch »ehrgeizig sein« ist wichtiger geworden. »Sich gegen Bevormundung wehren« und »kritisch sein« verlieren dagegen an Wertschätzung. Eine materielle Absicherung ist jungen Menschen wichtig, worauf die generell gestiegene Sicherheitsorientierung verweist, wie sie in den Shell-Jugendstudien festgestellt werden konnte (Gensicke 2010), jedoch verliert explizit »hohes Einkommen« an Wichtigkeit.

In dem Werteprofil heutiger Jugendlicher spiegelt sich das Bemühen, sich angesichts ungewisser Zukunftsperspektiven an Werten der Pflicht und Leistung zu orientieren. Persönliche Selbstentfaltung und Lebensgenuss bleiben nach wie vor wichtige Lebensziele. Aber zugleich soll mit einer verstärkten Ausrichtung auf die Sekundärtugenden eine erfolgreiche gesellschaftliche Integration erreicht werden. Dies bedeutet aber nicht, dass sich Jugendliche und junge Erwachsene heute nicht kritisch mit gesellschaftspolitischen Entwicklungen auseinandersetzen. Das politische Interesse und die Bereitschaft zu politischem Protest in Form von kurzfristigen Aktionen wie Demonstrationen und Unterschriftensammlungen sind gestiegen (Gille 2011). Die wachsenden Probleme junger Menschen, sich in einer alternden Gesellschaft Gehör zu verschaffen, werden in Zukunft vermutlich vermehrt zu spontanen politischen Aktionen führen.


DIE AUTORIN

Martina Gille ist wissenschaftliche Mitarbeiterin in der Abteilung »Zentrum für Dauerbeobachtung und Methoden« am Deutschen Jugendinstitut und koordiniert verantwortlich das Kompetenzteam Jugend. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Lebenslagen, Orientierungen und Partizipation Jugendlicher und junger Erwachsener im Wandel.
Kontakt: gille@dji.de


LITERATUR

BÖHNISCH, LOTHAR / LENZ, KARL / SCHRÖER, WOLFGANG (2009): Sozialisation und Bewältigung. Eine Einführung in die Sozialisationstheorie der zweiten Moderne. Weinheim/München

DÖRRE, KLAUS (2010): Génération Précaire - ein europäisches Phänomen? In: Busch, Michael / Jeskow, Jan / Stutz, Rüdiger (Hrsg.): Zwischen Prekarisierung und Protest. Die Lebenslagen und Generationsbilder von Jugendlichen in Ost und West. Reihe Sozialtheorie. Bielefeld. S. 39-73

GAISER, WOLFGANG / GILLE, MARTINA / DE RIJKE, JOHANN (2011): Jugend in der Finanz- und Wirtschaftskrise. In: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ), Heft 12/2011, S. 39-48; Im Internet verfügbar unter:
http://www.bpb.de/files/EPCQ28.pdf (Zugriff: 4.1.2012)

GENSICKE, THOMAS (2010): Wertorientierungen, Befinden und Problembewältigung. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Frankfurt am Main, S. 187-242

LEVEN, INGO / QUENZEL, GUDRUN / HURRELMANN, KLAUS (2010): Familie, Schule, Freizeit: Kontinuitäten im Wandel. In: Shell Deutschland Holding (Hrsg.): Jugend 2010. Eine pragmatische Generation behauptet sich. Frankfurt am Main, S. 53-128

DJI Impulse 1/2012 - Das komplette Heft finden Sie im Internet unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 1/2012 - Nr. 97, S. 19-21
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
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Die Hefte können kostenlos unter www.dji.de/impulsebestellung.htm

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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Juni 2012