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JUGEND/052: Hiphop - Jugendbewegung mit Brückenfunktion (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2008

Hiphop - Jugendbewegung mit Brückenfunktion

Von Murat Güngör


Hiphop hat sich mittlerweile zu einer milieuübergreifenden globalen Jugendkultur entwickelt. Gerade für MigrantInnen ist er auch der Inbegriff eines Lebensgefühls. Die teilweise Romantisierung einer "Gettokultur" führt aber an den wahren Problemen von Jugendlichen oft vorbei.


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Hiphop-Künstler sind erfolgreich - auch hierzulande, weil sie Beobachter einer anderen sozialen Realität sind, das Erlebte und den rauen Alltag in ihrer Musik verarbeiten und ungeschliffen wiedergeben. Hiphop ist also einerseits ein Ventil für die kreative Verarbeitung von Alltagserfahrungen, andererseits aber auch ein Zugang in die Gesellschaft. Zumeist stehen dabei die so genannten "sozialen Brennpunkte" im Zentrum der Erzählung. Die Texte klingen oft aggressiv, sexistisch, bedrohlich - aber auch spannend. Daher gilt die Sprache der Rapper auch als cool. Dies sind die Gründe für die erfolgreiche Aneignung der Hiphop-Kultur gerade durch junge MigrantInnen.


Globale Bewegung mit lokaler Ausprägung

Hiphop hat sich in den letzten drei Jahrzehnten rasant entwickelt: Aus einer anfänglichen Subkultur, die in den 70er Jahren in New York entstand, wurde eine weltumspannende Jugendkultur. Die beiden Künstler Kool DJ Herc und Grandmaster Flash, die Anfang der 70er Jahre nur in dem sozial vernachlässigten New Yorker Stadtteil Bronx bekannt waren, legten die ersten Bausteine für die Hiphop-Kultur. Aus einer kreativen Ursuppe schälten sich die einzelnen Disziplinen heraus: Breakdance (Tanz), Rap (Sprechgesang), Djing (Discjockey) und Graffiti (Straßenkunst). Mittlerweile wird Hiphop weltweit konsumiert, produziert und vermarktet und Plattenfirmen, Spraydosenhersteller, Textil- und Medienunternehmen setzen mit den Insignien dieser Jugendkultur Millionen um.

Doch Hiphop ist mehr als ein globales Geschäft. Er ist auch kultureller, politischer und sozialer Ausdruck einer Jugendbewegung. Hiphop wurde zudem als globale Bewegung lokal jeweils unterschiedlich angeeignet. Gerade diese unterschiedlichen lokalen Ausprägungen machen auch den Reiz und die Flexibilität dieser Jugendkultur aus.

In Deutschland wurden zunächst Graffiti und Breakdance - also nicht so sehr die Musik, die heute in erster Linie mit Hiphop assoziiert wird - wahrgenommen. Jugendliche Breakdancer konnte man in den 80er Jahren in den Fußgängerzonen der Großstädte beobachten. Breakdance erfreut sich heute zwar immer noch großer Beliebtheit, ist aber hauptsächlich in private Kurse und Jugendzentren verdrängt worden. Graffiti hingegen lässt sich im Alltag fast an jeder Straßenecke bemerken.

In Deutschland haben sich vor allem Afrodeutsche und MigrantInnen früh mit Hiphop auseinandergesetzt. Maßgeblich zu nennen ist hier die Gruppe Advanced Chemistry, die aus zwei Afrodeutschen, einem Italiener und einem Deutschtürken besteht. In ihren Texten spielen die Lebenssituation und der Alltag von Afrodeutschen und MigrantInnen in Deutschland eine entscheidende Rolle. Doch nicht nur historisch, sondern auch aktuell sieht man, dass die Geschichte der Migration und ihre Auswirkungen auf die Gesellschaft wichtige Referenzen für Rapsongs sind.


Hiphop will sichtbar sein

Spätestens seit Mitte der 90er Jahre entwickelte sich Hiphop zu einer großen Jugendbewegung auch in Deutschland. Die Grenzen gesellschaftlicher Kategorien wie Schicht, Ethnie und Geschlecht wurden in den späten 80er Jahren übersprungen. Vom Jugend- bis zum Reihenhaus entwickelte sich eine übergreifende Subkultur. Dies bedeutet nicht, dass die unterschiedlichen Lebenswelten der Jugendlichen aufgelöst wurden, aber man konnte Brücken schlagen. Gerade für Türken, Afrodeutsche, Griechen, Italiener oder Jugendliche aus dem ehemaligen Jugoslawien beinhaltet diese gemeinsame Kultur eine Möglichkeit, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine gemeinsame kulturelle Identität erfordert gemeinsame Sprache und Codes. "Es gab keine Trennung zwischen Bühne und Publikum", beschreibt Torch von der Gruppe Advanced Chemistry dieses Lebensgefühl. Die Sprache, in der man in den späten 80er Jahren zunächst rappte, war Englisch. Erst später entwickelte sich ein Verhältnis zur deutschen Sprache.

Wie ist es zu erklären, dass sich aus den illegalen New Yorker Blockpartys der 70er Jahre eine globale Jugendkultur entwickeln konnte? Grob vereinfacht kann man sagen: Hiphop will sichtbar sein! Diese Kultur möchte in die Gesellschaft hinein und sich nicht etwa - wie Punk - von ihr lösen. Hiphop kreist um Werte wie: Anerkennung, Teilnahme, Leistung, Kreativität, Gemeinschaft, Wettkampf und politische Artikulation.


Identitätsfindung in der Fremde

Die Kinder der sogenannten Gastarbeiter schufen musikalisch einen neuen Rapsound, indem der persönliche Musikkosmos, mit dem man aufwuchs, Eingang in die Rapszene fand. So wurden z.B. musikalische Versatzstücke von Orhan Gencebay, Baris Manco, Ferdi Tayfur oder auch Ibrahim Tatlises, die alle Stars der Arabeskszene in der Türkei waren, zu musikalischen Zitaten. Dabei ging es den Künstlern nicht darum den nationalen Bezug herzustellen, sondern die eigene musikalische Vielfalt zu präsentieren. Versatzstücke von Arabeskkünstlern wurden mit Funk-, Jazz- oder auch Rocksamples gemixt und ließen so neue Soundcollagen entstehen. Das Besondere war, dass einerseits der musikalische Horizont originell verarbeitet und andererseits Bezug auf die Migrationsgeschichte genommen wurde. Denn Arabesk ist selbst ein musikalischer Schmelztiegel, entstanden in den 70er Jahren in der Türkei, produziert von Künstlern, die den Soundtrack für die Abwanderung vom Dorf in die Stadt schufen. Arabesk besteht aus arabischen und persischen Musikstrukturen, die jedoch mit westlichen Musikinstrumenten gespielt werden. Thematisch werden die Schwierigkeiten der Binnenmigration innerhalb der Türkei besungen. Arabesksongs kreisen um die Fremde, Heimat, Liebe, Unglück und Verlust. So werden durch diesen Bezug in der Rapmusik sowohl die Migrationsgeschichte der Eltern wie auch die eigene Erfahrung thematisiert. Arabesk schuf musikalische wie inhaltliche Verbindungen zwischen den Generationen. Auch im Turkish Rap wurden und werden die Schwierigkeiten der Identitätsfindung in der Fremde thematisiert.


Brückenschlag zwischen den Milieus

Für Jugendliche aus dem bürgerlichen Milieu stellte die Beschäftigung mit Hiphop eine Rebellion gegen die Moral- und Wertvorstellungen der eigenen Eltern dar. Mit Hiphop konnte man provozieren und gleichzeitig kreativ sein. Durch diesen Brückenschlag wurde die Verschiebung der Jugendkultur Hiphop vom Abseits der Gesellschaft ins Zentrum erst möglich.

Diese beiden Zugänge auf Hiphop von Migrantenjugendlichen und Afrodeutschen einerseits und Mittelstandsjugendlichen andererseits haben in Deutschland schon immer existiert und stehen mal in engerem, mal in entfernterem Verhältnis zueinander. In diesem Punkt gibt es zudem ein Stadt-Land-Gefälle. Zu einem Konflikt zwischen diesen beiden Momenten kam es erst, als es durch die Kommerzialisierung von Hiphop möglich wurde, diese Kultur ökonomisch zu verwerten. Die Schaffung des Produktes "Deutschrap" erzeugte den Ein- sowie Ausschluss in den bzw. aus dem Musikmarkt. Dieser Prozess wurde durch die deutsche Wiedervereinigung und das gesellschaftliche Bedürfnis nach nationalen Kulturprodukten beschleunigt. Die rassistischen Anschläge Anfang der 90er Jahre führten zu einer Entfremdung beider Momente in der Hiphop-Kultur. Es entwickelte sich eine Schieflage zwischen der massenmedialen Aufbereitung von Hiphop und der Realität eines Großteils der Jugendlichen, die weiterhin in den Jugendhäusern ihre Vorstellung von Hiphop lebten.

Oberflächlich betrachtet kann man sagen, dass die Bandbreite der medialen Akteure des Hiphop pluralistisch geworden ist. Es gibt erfolgreiche afrodeutsche, türkische und deutsche Künstler. Rapper wie Bushido, Azad oder Kool Savas, die alle einen Migrationshintergrund haben, verkaufen mittlerweile durchschnittlich 100.000 Einheiten ihrer Alben und schaffen es damit, Hiphop in den Mainstream zu katapultieren. In ihren Videos stilisieren sie sich als Kämpfer in einem vermeintlich rauen Migrantengetto. Bei genauerer Betrachtung wird jedoch deutlich, dass die Pluralisierung einhergeht mit einer fehlenden politischen Artikulation. Doch auch hier gibt es interessante Ausnahme-Phänomene wie das Projekt Brothers Keepers. Insgesamt ist Hiphop komplexer geworden. Der Grund besteht darin, dass es keine homogene Szene gibt. Es existieren parallele Hiphop-Szenen in Deutschland. Die medial vermittelte steht nicht immer im Einklang mit den regionalen oder auch virtuellen Szenen in Deutschland. Eine Verschiebung von Inhalten in den einzelnen Szenen lässt sich ebenfalls verfolgen. Sexistische, rassistische, homophobe und Gewalt verherrlichende Metaphern haben verstärkt Einzug gehalten.

Daneben produziert Rapmusik - wie auch die Popmusik - sexistische und konservative Rollenmodelle, die oft nicht gebrochen sind, sondern herrschende Zuschreibungen reproduzieren: Sex, Drogen und der eigene Block als Mantra für heterosexuelle Rapper. Frauen kommen in den gängigen Rap-Videos nur als allzeit bereite sexuelle Objekte vor, die unterwürfig und stumm ihren Körper präsentieren. In diesem männlichen Blick offenbaren sich die Allmachtsfantasien junger Männer nach der Kontrolle des weiblichen Körpers. Oft werden Männer, die von Arbeitslosigkeit, fehlenden Perspektiven und Vaterlosigkeit betroffen sind, davon angezogen. Das Bild von der Heiligen und der Hure wird hier stets aufs Neue bedient.

Es gibt inzwischen aber auch eine agile Szene, die sich trotz ökonomischer Krisen seitens der Plattenindustrie eine eigene Infrastruktur aufbaut. In diesem Zusammenhang sind die Erfolge von Independent Labels wie Royalbunker oder Aggroberlin zu nennen. Inhaltlich ist auffällig, dass es in den Songtexten aktuell erfolgreicher Produktionen eine Hinwendung zu einem scheinbar authentischen Ort wie dem Block, der Straße oder dem Getto gibt. Damit geht eine Idealisierung und Romantisierung einher. Begriffliche Zuschreibungen wie gefährlich, bedrohlich, Unberechenbarkeit, Aufbegehren, Männerbund, Authentizität und eine aufgeladene Sexualität vermischen sich dabei und machen die Bezugnahme auf das Getto sowohl für Poplinke wie auch für Mittelstandsjugendliche interessant. Für die Mittelstandsjugendlichen repräsentiert das Getto neben der Rebellion und dem Tabubruch gegenüber den Eltern auch die Betonung einer unkontrollierten Sexualität. Für die Poplinke symbolisiert das Getto einen Ort des Aufbegehrens gegenüber rassistischen Zuschreibungen. Beiden Betrachtungen liegt die Suche nach einem authentischen Rap zugrunde. Das Getto verkörpert bei dieser Betrachtung eine scheinbar wahre lokale Praxis. Durch diese einseitige Betrachtung des Gettos fokussiert sich der Blick auf eine männlich orientierte Praxis der Revierverteidigung. Damit einher geht eine sexistische, patriarchalische, homophobe und aggressive Haltung, welche sich in Sprache und Inhalt bemerkbar macht. Die romantisierenden Bilder sind statisch und nicht dynamisch angesetzt. Diese Betrachtung produziert Einschluss in den Musikmarkt und gleichzeitig Ausschluss, da die Rapper auf bestimmte stereotype Rollen festgeschrieben werden. Der Moment des Ausbruchs, die Teilnahme, Mitgestaltung und Veränderung der Gesellschaft, geht bei dieser Betrachtung verloren. Die wirklichen Probleme wie Arbeitslosigkeit, fehlende Bildungschancen, sozial desolate Vorstädte, repressive Ausländergesetze, Ausgrenzungen von Frauen und Schwulen sowie schwierige ökonomische Bedingungen fallen dabei unter den Tisch.


Murat Güngör (*1969) studierte Kulturanthropologie, Soziologie und Politik. Er war Rapper, Produzent, gründete das Musik-Label Looptown und das antirassistische Netzwerk Kanak Attak. Derzeit freier Jugendbildungsreferent und angehender Lehrer.
murat-guengoer@web.de


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Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 10/2008, S. 50-53
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Anke Fuchs,
Siegmar Gabriel, Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka und Thomas Meyer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. November 2008