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GESELLSCHAFT/312: Wohnungslosigkeit als extreme Form sozialer Erschöpfung (Soziale Psychiatrie)


Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017
Rundbrief der Deutschen Gesellschaft für Soziale Psychiatrie e.V.

Wohnungslosigkeit als extreme Form sozialer Erschöpfung

von Ronald Lutz


In der Auseinandersetzung mit Armut gibt es viele Facetten, die nicht immer zentral beleuchtet werden. Eine davon ist Wohnungslosigkeit. Generell ist es um dieses soziale Problem ruhiger geworden,(1) das Phänomen wird zudem vielfach im Kontext anderer Diskurse "abgearbeitet". Im Fokus sozialpolitischer und wissenschaftlicher Aufmerksamkeit befinden sich Themen wie Kinder- und Jugendarmut, die Situation von allein Erziehenden, die extreme Benachteiligung von Migranten und neuerdings die vielfach prognostizierte Altersarmut. In all diesem steht Wohnungslosigkeit dennoch auf der Agenda. Als Extremform sozialer Ungleichheit sehe ich sie als Kulminationspunkt von Benachteiligung, Ausgrenzung und Armut. In der Realität des Faktischen zeigt sich, welche Drohungen auf verwundbaren Menschen lasten, die Arbeitslosigkeit, fragiler Sozialpolitik, einem ausgrenzenden Wohnungsmarkt, sozialer Marginalisierung sowie Verelendungsprozessen ausgesetzt sind. In manifester Wohnungslosigkeit verdichten sich Phänomene sozialer Verwundbarkeit und sozialer Erschöpfung.

Wohnungsnotfälle und Wohnungslosigkeit

Nach der Definition der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Wohnungslosenhilfe sind Menschen als Wohnungsnotfälle zu begreifen, wenn sie wohnungslos sind, von Wohnungslosigkeit bedroht werden oder in unzumutbaren Wohnverhältnissen leben.(2) Da es in Deutschland keine bundeseinheitliche Wohnungsnotfall-Berichterstattung auf gesetzlicher Grundlage gibt, sind nur Schätzungen möglich, die lediglich eine Ahnung von den tatsächlichen Dimensionen vermitteln. Die BAG Wohnungslosenhilfe berichtet auf ihrer Website von einem drastischen Anstieg der Wohnungslosigkeit in Deutschland(3):

  • Danach waren 2014 ca. 335.000 Menschen in Deutschland ohne Wohnung seit 2012 sei dies ein Anstieg um ca. 18 Prozent.
  • Die Zahl der Menschen, die "Platte machen" und somit ohne jede Unterkunft auf der Straße leben, stieg danach seit 2012 um fast 50 Prozent auf ca. 39.000 in 2014 (ca. 26.000 in 2012).
  • Von 2015 bis 2018 wird sogar ein Zuwachs um 200.000 auf dann 536.000 wohnungslose Menschen erwartet, eine Steigerung um ca. 60 Prozent.

Auch erhöhte sich laut der BAG Wohnungslosenhilfe die Zahl der bedrohten Wohnverhältnisse ebenfalls deutlich:

  • So waren in 2014 ca. 172.000 Haushalte (2012: 144.000) vom Verlust ihrer Wohnung unmittelbar bedroht.
  • In ca. 50 Prozent der Fälle konnte die Wohnung durch präventive Maßnahmen erhalten werden.
  • Doch insgesamt gab es 86.000 neue Wohnungsverluste in 2014: davon ca. 33.000 (38 Prozent) durch Zwangsräumungen und ca. 53000 (62 Prozent) durch so genannte kalte Wohnungsverluste.

Wesentliche Ursachen sieht die BAG Wohnungslosenhilfe in einer seit Jahren unzureichenden Armutsbekämpfung sowie einer verfehlten Wohnungspolitik. Explizit genannt werden: Wohnungsmangel, insbesondere bei zu wenigen kleinen Ein- bis Dreizimmerwohnungen, zu hohe Mieten, ein weitestgehend privatisierter Wohnungsmarkt, eine Verfestigung von Armut und Ausgrenzung und sozialpolitische Fehlentscheidungen.

Neben den Fakten, die Wohnungsnotfälle als ökonomisch und sozial verursachtes Phänomen zeigen, will ich den Blick auf die Subjekte werfen. Mit der weiten Definition wird nämlich ein Kontinuum geöffnet, das einen individuell erfahrenen Prozess von der Drohung des Wohnungsverlustes bis hin zum Leben auf der Straße nachzeichnet. Faktische Wohnungslosigkeit lässt sich als Ergebnis sozialer Ausgrenzung diskutieren, das mit den Konzepten von Verwundbarkeit und Erschöpfung gefasst werden soll und das somit Folgen für die Subjekte erörtert.

Ich will Wohnungslose als "verwundbare und schließlich erschöpfte Menschen" verstehen. Viele von ihnen sind in sozialen und ökonomischen Krisen der Arbeits- und Wohnungsmärkte gescheitert und an den Rand gedrängt werden. Wohnungslosigkeit ist der Kulminationspunkt langwieriger Armuts- und Ausgrenzungserfahrungen, die das Leben, das Handeln und die Einstellungen geprägt haben. Dieser Prozess beginnt mitunter in den Familien, zeigt sich in gebrochenen Erwerbsbiografien, in erlebter Arbeitslosigkeit, in Wohnungsverlusten, in einem Leben zwischen Straße und Notunterkunft sowie in Erlebnissen mit Hilfesystemen, die das Scheitern zu beschleunigen vermögen. Die Teilhabechancen der Einzelnen nehmen ab, eine damit verbundene und hautnah erlebte Chancen- und Perspektivlosigkeit schlägt sich schleichend in Verhaltensmustern und Einstellungen nieder.

Soziale Verwundbarkeit

Armut und soziale Benachteiligungen müssen prinzipiell mit ökonomischen und sozialen Faktoren erklärt werden, zu denen wesentlich Krisen und Entwicklungen am Arbeitsmarkt zählen, die zu Arbeitsplatzverlusten, zur Arbeitslosigkeit, zu Langzeitarbeitslosigkeit, zur Abhängigkeit von Transferleistungen und schließlich zu Wohnungsverlusten führen. Insgesamt zeigen sich eine Verschärfung sozialer Unsicherheit und eine wachsende Ungleichverteilung von Gütern. Auch ist die soziale Frage weniger denn je ein exklusives Problem sozialer Randlagen. Die Begriffe "Verwundbarkeit" und "prekärer Wohlstand" geben den Blick auf eine verunsicherte und statusbesorgte untere Mitte frei, in der sich Abstiegsängste und Deklassierungsfurcht auszubreiten beginnen (Heinze 2011; Lutz 2014).

Ausgrenzungs- und Verelendungsprozesse haben ihre wesentlichen Ursachen in einer Arbeitswelt, die immer haltloser wird:

  • die Erwartbarkeit von Normalbiografien bricht weg, diese sind immer seltener anzutreffen;
  • Arbeits- und Beschäftigungsverhältnisse werden prekär;
  • Arbeitsplatzverluste drohen ständig;
  • Arbeitszeitverdichtungen und Beschleunigungen der Arbeitsprozesse sind Alltag;
  • biografische Erwartbarkeit schwindet;
  • Niedriglöhne stellen weiterhin einen hohen Anteil der Beschäftigung dar;
  • neben regulären Beschäftigungen haben Arbeitnehmer Minijobs bzw. weitere Jobs, da das Einkommen zu gering ist;
  • prekäre Beschäftigungsformen ersetzen und verändern die bestehenden und wandern in stabile Zonen hinein (Dörre 2008; Dörre et al. 2013).

Diese Prozesse verfestigen sich aber auch in einem zunehmend schwieriger werdenden Wohnungsmarkt. Zu beobachten sind:

  • Segregationsprozesse, die Städte immer stärker in arme, wohlhabende und reiche Viertel aufspalten und sich dabei auch in ungleichen Infrastrukturen niederschlagen;
  • unzureichendes Angebot an preiswertem Wohnraum in Verbindung mit einem ständig schrumpfenden sozialen Wohnungsbestand, dem nicht durch Neubau und soziale Wohnungspolitik gegengesteuert wurde und wird;
  • immer weniger Sozialwohnungen;
  • Wohnungsbestände, die vielfach an private Investoren verkauft werden bzw. die in attraktiven Lagen liegen und wegen Gentrifizierungsprozessen Mieterhaushalten mit geringem Einkommen kaum noch zur Verfügung stehen;
  • ein eklatanter Wohnungsmangel bei kleinen Ein- bis Dreizimmerwohnungen;
  • ein starker Anstieg der Mietpreise in den Ballungsgebieten.

Die Grammatik sozialer Ungleichheit ändert sich, die Arbeitnehmerschaft wird aufgespalten, die Armut der unteren Einkommensgruppen hat sich verfestigt. Dabei beginnt die Zone der Verwundbarkeit bereits in der Mitte, bei Menschen, die um ihren Status fürchten und Ängste entwickeln. In dieser Mitte beginnen Abstiegsprozesse, die in extremer Armut und schließlich auch in Wohnungslosigkeit kumulieren können (Heinze 2011).

Sich verfestigende Ungleichheit und Drohungen mit Armut, die aus sozialen und ökonomischen Hintergründen resultieren, diskutiere ich in ihren Folgen und Konsequenzen für das individuelle Leben als "soziale Verwundbarkeiten" (Vogel 2009a/2009b), die, ungleich verteilt, Menschen unterschiedlich bedrohen. Mit diesem Begriff können vielfältige Belastungen analysiert werden, mit denen sich Menschen konfrontiert sehen. Verwundbarkeiten und soziale Ungleichheiten resultieren, neben den klassischen Kontexten, immer mehr auch aus den Fähigkeiten bzw. den eingeschränkten oder gar zerstörten Möglichkeiten, sich steigernden Belastungen aktiv zu begegnen, sie in eigener Zuständigkeit klein zu arbeiten und sie dabei zu bewältigen. Wohnungslose können hier als extremes Beispiel dafür gelten, wie Menschen sich immer weniger mit den sie bedrohenden und ausgrenzenden Kontexten arrangieren können und schließlich "auf der Straße landen".

Der Begriff der sozialen Verwundbarkeit kann und darf nicht mit dem eigentlich engen Begriff von Armut verglichen werden. Er soll diesen auch nicht ersetzen. In der erforderlichen Betrachtung der soziokulturellen Folgen von Armut und der darin eingelagerten Bedrohung des Wohnungsverlustes bis hin zur manifesten Wohnungslosigkeit hilft ein begriffliches Verstehen dieser Situation als Unterversorgung und relative Armut nur bedingt. Soziale Verwundbarkeit meint mehr und ist umfassender, das Konzept ermöglicht erst den Blick auf die soziale Erschöpfung, die sich als individuelles Handeln, als Verhaltensmuster und auch als Leiden darstellt. Ich verstehe soziale Verwundbarkeit als einen Komplex ökonomischer, sozialer und kultureller Bedrohungen, die auf Subjekten lasten. Aus sozioökonomischer Ungleichverteilung von Gütern und Möglichkeiten entsteht in den alltäglichen Konsequenzen und ihren individuellen Folgen ein Kontinuum der Ungleichverteilung von Verwirklichungschancen, die zur Bewältigung alltäglicher Gestaltungs- und Bewältigungsprozesse erforderlich sind. Je geringer die jeweiligen Möglichkeiten und Teilhabechancen zur Bewältigung des Alltags, seiner Pflichten, Lasten, Freuden und Herausforderungen sind, je weniger aus erkennbaren Möglichkeiten reale Wirklichkeiten werden, desto höher und in seinen Auswirkungen dramatischer ist der Grad der Verwundbarkeit, wie es sich bei wohnungslosen Menschen manifestiert.

In ihren Ursachen resultiert soziale Verwundbarkeit zum einen aus den klassischen Kontexten der Unterversorgungslagen beim Einkommen, beim Zugang zum Arbeitsmarkt, bei den Bildungschancen, beim Wohnraum und im Gesundheitssystem sowie aus Ungleichheitskategorien wie Partizipation, Geschlecht, Alter, Region und den Konsequenzen eines Migrationshintergrundes. Sie ergibt sich zum anderen aber auch aus neueren und kulturellen Kontexten, die ebenfalls ungleich verteilt sind, wie Resilienz, Flexibilität, Mobilität, Familie, Gemeinschaft, Religiosität, Netzwerke, Brückenkapital, Alltagsgestaltung, kulturelle Aktivität, Zukunftsorientierung, Werteorientierung, Bildungsaspiration und den Fähigkeiten ("capabilities"), sein eigener Agent zu sein, die Zumutungen des Autonomieversprechens und der Autonomieerwartungen in der Moderne auch leben zu können. In dieser Verwundbarkeit ist mögliche Wohnungslosigkeit eine doppelte Belastung: eine Bedrohung des Lebenszusammenhanges und eine Form der fatalen und die Lage verschärfenden Bewältigungsversuche.

Wohnungslosigkeit sehe ich deshalb als Endpunkt eines langen Weges der Ausgrenzung, eines Weges vom Drinnen ins Draußen, aus gefährdeten Mittelklassen bis zur extremen Armut am Rande der Gesellschaft. Im Ergebnis kann sich das Leben der Menschen durch ökonomische, soziale und kulturelle Marginalisierungen in einer Situation verdichten, in der faktische Wohnungslosigkeit eine weitere und mitunter endgültige Verfestigung der Ausgrenzung bedeutet. Dabei wird der Lebenszusammenhang derart verändert, dass Menschen in ihren Verwirklichungschancen in einer schrecklichen Realität bedroht sind. Es formt sich eine extreme Form sozialer Erschöpfung.

Soziale Erschöpfung

In ihrer extremen Form kann soziale Erschöpfung zu einem Ertragen des Schicksals und zu einem Sicharrangieren in Prekarität und Ausgrenzung führen (Lutz 2014). Darin ist sie eine erzwungene Reaktion von Menschen, die aufgrund einer besonderen und erhöhten Verwundbarkeit den sich stetig verändernden, verschärfenden und beschleunigenden Zumutungen und Belastungen einer tief gespaltenen Gesellschaft immer weniger aktiv zu begegnen vermögen. Eigentlich benötigten sie Unterstützung, diese wird aber nur unzureichend gewährt. Die BAG Wohnungslosenhilfe weist beispielsweise auf einen spezifischen Aspekt hin: Die Krise auf den Wohnungsmärkten mit ihrem Mangel an bezahlbarem Wohnraum führe zu einer Krise im ordnungsrechtlichen Unterkunftssektor; wohnungslose Menschen seien oft chancenlos auf dem Wohnungsmarkt und blieben in den Unterkünften, was zu einer Verfestigung ihrer Wohnungslosigkeit führe.(4)

Die Entstehungskontexte sozialer Erschöpfung habe ich mit einer Vielfalt an Risikofaktoren und sozialen Verwundbarkeiten diskutiert, die aus biografischen, sozialen, kulturellen, ökonomischen und traumatischen Anlässen kumulieren (Lutz 2014). Dabei lassen sich für Wohnungsnotfälle bzw. von Wohnungslosigkeit bedrohte Menschen vor allem folgende herausarbeiten:

  • materielle Belastungen wie Langzeitarbeitslosigkeit, Armut, Prekarität, Schulden, Wohnungsverluste;
  • soziale Belastungen wie soziale Konflikte, Isolation, Ausgrenzung, Orientierungslosigkeit, Leben in Unterkünften und auf der Straße;
  • biografische Belastungen wie Gewalt, Sucht, Erfahrungen von Ausgrenzung, Diskriminierung;
  • familiäre Belastungen wie Konflikte, Streit, Trennung.

Letztlich sind es vielfältige Überforderungen, die über ständige Entmutigungen schließlich zur Erschöpfung führen können. Diese Risikofaktoren führen allerdings nicht automatisch zur Erschöpfung; diese entsteht erst durch eine permanente Überlastung und durch Probleme, die Menschen nicht mehr aus eigener Kraft bewältigen können.(5) Je mehr unbewältigte Belastungen, desto stärker die Verdichtung der Überforderung, desto größer soziale Erschöpfung und Mutlosigkeit bzw. ein Sicheinrichten in der eigenen Lage, ein fatales Arrangement damit, lautet die erklärende Formel für diesen Prozess.

Das Konzept der Erschöpfung will nicht pathologisieren oder diese als individuelle Schuld und Versagen aufzeigen. Davon ist es weit entfernt. Soziale Erschöpfung ist vielmehr das Produkt einer Gesellschaft, die verstärkt auf individuelle Verantwortung setzt und Menschen darin überfordert und sich in den Handlungen und Einstellungen der Menschen spiegelt. Begriff und Phänomen richten aber den Blick auf Menschen, die der Ungleichverteilung, dem Tempo und den Belastungen der Gesellschaft nichts Entscheidendes entgegensetzen können.

Ich begreife soziale Erschöpfung deshalb als eine sozial und kulturell konstruierte Reaktion von Menschen, die sich in spezifischen und individuellen Verhaltensmustern niederschlägt. Diese sind zwar individuelle Handlungen, die in ihrer Summe zusätzliche Auswirkungen auf die Strukturen haben, in denen Menschen leben, und auch dazu beitragen, dass deren ohnehin eingeschränkte Teilhabechancen zusätzlich verengt werden. Soziale Erschöpfung ist wesentlich als soziale Situation zu verstehen, in der Menschen zwar initiativ sind, aber nicht im Sinne von Teilhabe, Reflexion und Gestaltung, sondern hinsichtlich eines alltäglichen Kampfes, die Zumutungen des Alltags einigermaßen zu bewältigen. Der Blick auf die Zukunft beginnt sich einzutrüben, da die Gegenwart übermächtig wird. Als Ergebnis arrangieren sich Menschen in ihrer Lage mit dieser - wie es bei Wohnungslosen vielfach zu beobachten ist.

Der oder die sozial Erschöpfte verharrt, und dieses Bild übernehme ich von Alain Ehrenberg, in einer Form der Verlangsamung, in einer Zeit ohne morgen, er oder sie verfügt kaum noch über Energie und verschließt sich in einem Zustand des "Nichts-ist-möglich" (Ehrenberg 2008). Formen sozialer Erschöpfung zeigen sich als ein von verwundbaren und verwundeten Menschen vielfach erlebtes Drama der Unzulänglichkeit, des Scheiterns und der Einsamkeit, da Unterstützung Mangelware ist. Man wird müde, selbst zu sein, und unterwirft sich letztlich den verfügbaren Mustern des Sicheinrichtens. Betroffenen fehlt die Macht (die Ressourcen), sich für dieses oder jenes zu entscheiden (Ehrenberg 2008, S. 269). Erschöpfung wird zur Kehrseite des Menschen, der in den Aktivierungszumutungen der Politik das Ideal ist.

Erschöpfte Wohnungslose

Mit den Begriffen Verwundbarkeit und Erschöpfung wird ein verstehender Blick auf Wohnungslose gerichtet. Wenn Belastungen steigen, dann reagieren Menschen mit Erschöpfung, Apathie und Resignation. Durch vielfältige Formen der Entmutigung hervorgerufen, durch eine höhere Verwundbarkeit, Verunsicherung, Statusverluste, Armut und dauerhafte Belastungen sind Menschen offenkundig immer weniger in der Lage, ihre alltäglichen Verrichtungen eigenständig, sinnvoll und nachhaltig zu organisieren oder gar eine zukunftsorientierte Verantwortung für sich selbst zu übernehmen.

Es lässt sich trotz aller Verweise auf soziale und ökonomische Ursachen und des Einforderns einer offensiven Sozialpolitik nicht übersehen: Die Folgen dieser Belastungen und Überforderung sind vielfältig. Es zeigen sich zum einen Vernachlässigungen und Beeinträchtigungen in körperlichen, gesundheitlichen, psychischen, kognitiven, sozialen und emotionalen Bereichen, zum anderen aber auch Auffälligkeiten im Verhalten wie Ängste, Depression, Rückzug, Selbstwertprobleme, Aggressivität, Unruhe, Konzentrationsstörungen, Dauerinfektionen, chronische Erkrankungen, Mangelerkrankungen und auch Suchterkrankungen.

Auch fehlen den Entmutigten Netzwerke, sie haben kaum Unterstützung bei der Bewältigung von Krisen, sie verfügen über kein Brückenkapital, das Beziehungen über ihre eigene soziale Lage hinaus organisiert, Beziehungen, die wichtig sind, um Unterstützung und Förderung zu erhalten. In ihrem Leben verfestigen und tradieren sich schließlich fatale Muster, wie man sich in Armut und Benachteiligung einrichten kann.

Wohnungslose Menschen stellen ein extremes Beispiel für ambivalente Dynamiken sozialer Erschöpfung dar. Der sich manifestierende Prozess verläuft in verschiedenen Stadien und Übergängen, die ihn beschleunigen, wenn Ausstiegsoptionen nicht greifen. Es lässt sich darin keine Zwangsläufigkeit feststellen; nicht alle Menschen, die als Wohnungsnotfall bzw. als potenziell davon Bedrohte gelten, werden zu Erschöpften und Entmutigten.

In der Offenheit einer stark individualisierten Gesellschaft gibt es immer auch unterschiedliche biografische Verläufe. In den Biografien lassen sich deshalb "Kipppunkte" zur Erschöpfung hin beobachten, die oftmals durch fehlende Unterstützung und nicht verfügbare Ressourcen und Kompetenzen hervorgerufen werden. Erschöpfung verdichtet sich in ihnen und kann schließlich jenen Punkt erreichen, ab dem Mutlosigkeit das Handeln immer mehr strukturiert und sich auch in Formen der Selbstausgrenzung verdichtet - wie es sich immer wieder auch bei Wohnungslosen beobachten lässt. Spätestens in diesen Kipppunkten kämen die Unterstützungssysteme "ins Spiel". Wenn diese nicht "greifen" oder unzulänglich sind, dann ist soziale Erschöpfung, insbesondere in der extremen Form der Wohnungslosigkeit, auch das Ergebnis sich erschöpfender Hilfen.

Fazit

Zweifelsohne gibt es vielfältige Wege in die Wohnungslosigkeit, die sich aus sozialer Ungleichheit und auch aus sozialpolitischer Untätigkeit ergeben. Dennoch oder trotzdem: Verwundbarkeit und Erschöpfung zeigen Ursachen und Kontexte als eine Kombination von sozialen Ursachen, die sich schließlich im Subjekt abbilden. Wohnungslose werden als Aporien sozialer Ungleichheit und versagender sozialer Hilfen erkennbar, präventiv ist Sozialpolitik gefragt und interventiv ist auch persönliche Hilfe als psychosoziale Unterstützung erforderlich, um die Spiegelung des Sozialen im Subjekt zu thematisieren.


Prof. Dr. phil. Ronald Lutz ist Soziologe an der Fachhochschule Erfurt mit den Schwerpunkten: besondere Lebenslagen, Armut, Ungleichheit und internationale Sozialpolitik.
E-Mail: lutz@fh-erfurt.de


Literatur:

DÖRRE, K. (2008): Armut, Abstieg, Unsicherheit. In: Aus Politik und Zeitgeschichte 33/34, S. 3-6.

DÖRRE, K. et al. (2013): Bewährungsproben für die Unterschicht? Soziale Folgen aktivierender Arbeitsmarktpolitik. Frankfurt am Main/New York.

EHRENBERG, A. (2008): Das erschöpfte Selbst. Frankfurt am Main.

HEINZE, R.G. (2011): Die erschöpfte Mitte. Weinheim/Basel.

LUTZ, R. (2014): Soziale Erschöpfung. Weinheim/Basel.

VOGEL, B. (2009a): Wohlstandskonflikte. Soziale Fragen, die aus der Mitte kommen. Hamburg.

VOGEL, B. (2009b): Minusvisionen in der Mittelklasse. Soziale Verwundbarkeit und prekärer Wohlstand als Leitbegriffe neuer sozialer Ungleichheiten. In; Widersprüche 111, S. 9-18.


Anmerkungen:

(1) Allerdings betreibt die BAG Wohnungshilfe noch immer eine sehr wichtige und auch fleißige Lobbyarbeit und wird nicht müde, auf neue Probleme sowie auf die ausgrenzenden Wohnungsmärkte hinzuweisen.

(2) www.bagw.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/wohnungsnotfall_def.html, 29.8.2016.

(3) www.bag-wohnungslosenhilfe.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/, 28.9.2016.

(4) www.bag-wohnungslosenhilfe.de/de/themen/zahl_der_wohnungslosen/, 29.9.2016.

(5) An dieser Stelle sind dann aber auch die Unterstützungssysteme gefragt, die sich stärker als bisher mit dem Phänomen "sozialer Erschöpfung" auseinandersetzen müssten.

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Quelle:
Soziale Psychiatrie Nr. 155 - Heft 1/17, Januar 2017, Seite 4 - 7
veröffentlicht mit freundlicher Genehmigung des Autors und der Redaktion
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Februar 2017

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