Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE

GESELLSCHAFT/244: Fremdeln in der Vielfalt (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 135/März 2012
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Fremdeln in der Vielfalt
In ethnisch bunten Gesellschaften nimmt das Vertrauen ab

von Susanne Veit



Kurzgefasst: Experimente bestätigen die These, dass Bewohner ethnisch heterogener Regionen weniger Vertrauen in ihre Nachbarschaft haben als Bewohner ethnisch homogener Gegenden. Dieses geringere Maß an Vertrauen ist auch durchaus begründet. Ursachen sind aber nicht Vorurteile oder eine bewusste Benachteiligung von Angehörigen anderer ethnischer Gruppen. Vielmehr scheint die Wahrnehmung von Unterschieden, insbesondere hinsichtlich von Werten und Normen, Bürger generell zu verunsichern.

In den vergangenen Jahren wurden viele empirische Studien veröffentlicht, die belegen, dass die ethnische und kulturelle Heterogenität von Gesellschaften eine Herausforderung für den sozialen Zusammenhalt darstellen kann. Einer großen Umfragestudie in den USA zufolge, deren Ergebnisse Robert Putnam 2007 veröffentlichte, leben Bewohner kulturell heterogener Regionen sozial zurückgezogener als Bewohner ethnisch homogener Gegenden. Sie haben weniger Freunde und sind misstrauischer gegenüber Fremden. Auch schätzen sie die Bereitschaft anderer, einen Beitrag zum Wohl des Gemeinwesens zu leisten, pessimistischer ein, beispielsweise wenn es darum geht, bei Wasserknappheit Wasser zu sparen. Gleichzeitig zeigen die Ergebnisse dieser Studie, dass auch das tatsächliche Engagement, wie die Wahlbeteiligung, das Spendenaufkommen und ehrenamtliche Tätigkeiten, unter Bewohnern ethnisch heterogener Regionen geringer ausgeprägt ist als unter Bewohnern homogener Gegenden.

Worauf ist dieser soziale Rückzug in heterogenen Gemeinschaften zurückzuführen? In der wissenschaftlichen Literatur werden unterschiedliche Gründe für die häufig geringere Kooperation in heterogenen Gruppen diskutiert. Zunächst könnten das geringere Vertrauen und die mangelnde Kooperationsbereitschaft in heterogenen Kontexten durch die jeweiligen Präferenzen erklärt werden. Wenn Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln verschiedene Dinge für erstrebens- oder erhaltenswert erachten, dann sinkt die Kooperationswahrscheinlichkeit.

Zudem können Ängste, Vorurteile und Abneigungen zwischen Angehörigen unterschiedlicher ethnischer oder kultureller Bevölkerungsgruppen sowie die Tendenz zur Bevorzugung von Vertretern der eigenen Gruppe (Eigengruppenfavorisierung) den sozialen Zusammenhalt gefährden. Eine andere Erklärung betrifft mögliche Probleme bei der Realisierung gemeinsamer Projekte, die in kulturell heterogenen Gruppen häufiger sind oder als wahrscheinlicher erachtet werden, wie beispielsweise Abstimmungsprobleme aufgrund von Sprachbarrieren oder unterschiedlichen Erfahrungen und Verhaltensnormen.

Eine weitere Hürde könnte die geringere soziale Kontrolle in heterogenen Gemeinschaften sein. Das alte Sprichwort "Gleich und Gleich gesellt sich gern" lässt sich empirisch belegen. Menschen neigen dazu, Kontakt zu Personen zu pflegen, die ihnen ähnlich sind. Somit haben die meisten Menschen Freunde mit einem ähnlichen sozialen und kulturellen Hintergrund. Entsprechend existieren dichtere Netzwerke in ethnisch homogenen Gemeinschaften, die soziale Kontrolle ermöglichen und somit dazu beitragen, dass sich genügend Personen an gemeinsamen Projekten beteiligen. Soziales Trittbrettfahren, im Sinne des Profitierens vom Beitrag anderer, ohne selbst etwas beizutragen, wird dann nicht nur leichter entdeckt und somit zur Gefahr für die eigene Reputation, sondern auch eher geahndet.

Die meisten empirischen Studien zum Thema basieren auf großen nationalen und internationalen Umfragen. Grundsätzlich sind Umfragestudien zwar in der Lage, ein häufiges gemeinsames Auftreten von zwei Phänomenen, das nicht allein dem Zufall geschuldet sein kann, festzustellen; die altbekannte Frage nach der Kausalität, ob also zuerst Henne oder Ei da war, können sie hingegen nicht mit Sicherheit beantworten. Zudem lassen sich in Umfragen nur Einstellungen, Verhaltensintentionen und vergangenes Handeln erfragen. Diese Angaben sind jedoch häufig verzerrt. Bewusst oder unbewusst stellen sich Menschen tendenziell positiver bzw. sozial angepasster dar, als sie tatsächlich sind. Einen Ausweg bieten hier Experimente: wissenschaftliche Untersuchungen, bei denen Personen gezielt variierten Reizen ausgesetzt werden (Versuchsbedingungen), während alle anderen Umstände konstant bleiben. Differenzen, die sich daraufhin in Äußerungen oder im Verhalten zeigen, können aufgrund der zufälligen Zuordnung von Personen zu Versuchsbedingungen ursächlich auf die unterschiedlichen Reize zurückgeführt werden. Das eigentliche Ziel der Messung bleibt den Teilnehmern dadurch verborgen.

Wir haben in zwei Experimenten diese Vorteile experimenteller Studien genutzt, um den Zusammenhang zwischen kultureller Vielfalt und sozialem Zusammenhalt näher zu beleuchten. Das erste Experiment zum Vertrauen in Nachbarn war Teil einer deutschlandweiten Telefonumfrage. Zwei Fragen sollten beantwortet werden. Erstens: Vertrauen Bewohner ethnisch heterogener Kreise ihren Nachbarn weniger als Bewohner homogener Regionen? Zweitens: Ist dieses geringere Vertrauen ursächlich auf die Wahrnehmung kultureller Heterogenität zurückzuführen bzw. kann das Vertrauen in Nachbarn negativ beeinflusst werden, indem man die Aufmerksamkeit der Befragten auf die kulturelle Heterogenität ihrer Nachbarn lenkt? Dazu wurden die Teilnehmer der Telefonumfrage gebeten, die Wahrscheinlichkeit einzuschätzen, dass sie ein Portmonee (mit ihrer Adresse und Geld) samt Inhalt zurückerhalten würden, wenn sie es an ihrem Wohnort verloren hätten. Unter den circa 4.000 Befragten fiel das Vertrauen in ihre Nachbarn im Durchschnitt weder besonders positiv noch besonders negativ aus.

Bei genauerer Betrachtung zeigte sich jedoch, dass das Vertrauen variierte, und zwar je nach dem Maß an ethnischer Heterogenität des jeweiligen Kreises. Bei größerer ethnischer Heterogenität schätzten Menschen die Wahrscheinlichkeit, ihr Portmonee mitsamt Inhalt zurückzuerhalten, deutlich geringer ein. Um die Frage nach der Kausalität dieses Phänomens zu beantworten, wurden den Teilnehmern zuvor unterschiedliche Hinweise auf die Zusammensetzung ihrer Nachbarschaft gegeben. Allen Befragten wurde gesagt: "Wohnorte sind ganz unterschiedlich. In manchen Wohnorten sind sich die Bewohner sehr ähnlich, in anderen unterscheiden sie sich stark voneinander". Bei einem Viertel wurde es bei dieser sehr allgemeinen Beschreibung der Vielfalt belassen. Bei allen anderen wurde die Art der Vielfalt dagegen präzisiert. Ein Viertel wurde auf die ethnische Zusammensetzung hingewiesen mit der Ergänzung: "..., da sie aus unterschiedlichen Ländern stammen - zum Beispiel sind einige deutscher Herkunft, andere stammen aus der Türkei und wieder andere aus Italien". Ein drittes Viertel erhielt stattdessen den Zusatzhinweis auf die religiöse Vielfalt: "..., da sie unterschiedliche religiöse Überzeugungen haben - zum Beispiel sind einige Christen, andere Muslime und wieder andere Atheisten". Ein letztes Viertel wurde auf die Vielfalt der Generationen hingewiesen: "..., da sie unterschiedlichen Generationen angehören - zum Beispiel sind einige noch sehr jung, andere stehen mitten im Leben und wieder andere sind schon im Rentenalter".

Anschließend wurde verglichen, inwieweit sich das Vertrauen von Menschen unterscheidet, denen jeweils unterschiedliche Arten der Heterogenität als Kontext genannt wurden. Es zeigte sich, dass der Verweis auf unterschiedliche Herkunftsländer oder verschiedene religiöse Überzeugungen der Nachbarn einen leicht negativen Einfluss auf das Vertrauen der Befragten hatte. Wurde die Aufmerksamkeit der Studienteilnehmer hingegen auf die unterschiedlichen Lebensphasen der Nachbarn gelenkt (Altersbedingung), wirkte sich dies nicht auf das geäußerte Vertrauen aus. Zudem vertrauen Bewohner ethnisch heterogener Viertel ihren Nachbarn weniger, wobei der kausale Einfluss der Wahrnehmung von Heterogenität dadurch gezeigt werden konnte, dass die experimentelle Betonung der ethnischen oder religiösen Diversität der Nachbarschaft zu einem zusätzlichen Vertrauensverlust führte.

Nun könnte es aber durchaus sein, dass dieses geringere Vertrauen der Bewohner heterogener Gegenden letztlich nur auf gegenseitigen Vorurteilen beruht. Außerdem lässt sich bezweifeln, ob das bei einer Frage nach der persönlichen Einstellung geäußerte Vertrauen etwas über das tatsächliche Verhalten aussagt. Um dieses Problem ging es bei einem zweiten Experiment. Dazu wurden verstreut über ganz Berlin etwa 2.000 frankierte und adressierte Briefe auf Gehwegen verteilt, als hätte sie jemand verloren. Zwei Fragen galt es zu beantworten. Erstens: Wo werden mehr der "verlorenen" Briefe von Passanten aufgehoben und in den nächsten Briefkasten geworfen, in ethnisch homogenen oder ethnisch heterogenen Berliner Ortsteilen? Zweitens: Steht der Anteil der jeweiligen religiösen oder ethnischen Gruppen an der Anwohnerschaft im Zusammenhang mit der Rücklaufquote von Briefen bestimmter religiöser oder ethnischer Organisationen? Dazu wurde die vermeintliche ethnische oder religiöse Identität sowohl des Absenders als auch des Empfängers der Briefe experimentell variiert.

Es gab vier Arten von Briefen: Briefe von einer islamischen Kulturstiftung (religiöse Minderheitsbedingung) und einer türkischen Kulturstiftung (ethnische Minderheitsbedingung), die jeweils an einen Herrn Kadir Gökdal adressiert waren, und Briefe von einer christlichen Kulturstiftung (religiöse Mehrheitsbedingung) und einer neutralen, nicht näher bezeichneten Kulturstiftung (ethnische Mehrheitsbedingung), die jeweils an einen Herrn Johann Kolbe adressiert waren.

Diese Briefe wurden zu gleichen Teilen verstreut über ganz Berlin auf Gehwegen platziert. Anschließend wurde erfasst, wie viele der Briefe von Passanten aufgehoben und in einen Briefkasten geworfen wurden und dadurch die Zieladresse erreichten. Dies waren fast zwei Drittel (63 Prozent) aller Briefe. In Bezug auf die Frage nach der Bereitschaft, den "verlorenen" Brief weiterzuleiten, zeigte sich, dass Briefe aus ethnisch heterogenen Ortsteilen Berlins wie Tiergarten oder Wedding tatsächlich seltener weitergeleitet wurden als Briefe, die in ethnisch homogenen Ortsteilen platziert wurden. Die geringere Bereitschaft zur Weiterleitung ist aber nicht ausschließlich in ethnisch heterogenen Gegenden festzustellen: In ärmeren Gegenden der Stadt wie Kreuzberg oder dem Märkischen Viertel wurden weniger Briefe aufgehoben als in bessergestellten, im Ostteil der Stadt weniger als im Westteil.

Hinsichtlich der Frage nach dem Einfluss erkennbarer religiöser oder ethnischer Zugehörigkeit von Absendern und Adressaten ergab sich: Briefe von religiösen und ethnischen Minderheitsorganisationen, die an eine Person mit Migrationshintergrund adressiert waren, wurden genauso häufig weitergeleitet wie Briefe von einer christlichen oder neutralen Kulturstiftung, die an eine Person mit einem deutschen Namen adressiert waren. Zusätzlich haben wir überprüft, ob eventuell Briefe von einer islamischen Kulturstiftung häufiger aus Ortsteilen weitergeleitet wurden, in denen viele Anwohner aus islamischen Ländern (arabischen Ländern oder der Türkei) stammen. Analog dazu könnten Briefe einer türkischen Kulturstiftung aus Nachbarschaften mit einem hohen Anteil türkischer Anwohner und Briefe einer christlichen oder neutralen Kulturstiftung aus Ortsteilen mit einem hohen Anteil deutscher Anwohner ohne Migrationshintergrund häufiger ihr Ziel erreicht haben. Wäre dies der Fall, so könnte die Bevorzugung von Vertretern der eigenen kulturellen Gruppe die unterschiedlichen Rücklaufquoten aus mehr oder weniger heterogenen Ortsteilen erklären. Unsere Ergebnisse bestätigen dies jedoch nicht. Die Briefe wurden unabhängig von der kulturellen Identität des Absenders und Empfängers seltener aus Berliner Kiezen weitergeleitet, in denen Menschen mit unterschiedlichem ethnischen Hintergrund zusammenleben.

Insgesamt zeigen die Ergebnisse der beiden Experimente, dass ethnische Heterogenität in einer Gesellschaft den sozialen Zusammenhalt schwächt. Dies betrifft nicht nur die Wahrnehmung, also das geäußerte Vertrauen in die Nachbarn, sondern auch das tatsächliche Verhalten von Bewohnern heterogener Nachbarschaften. Das geringere Vertrauen von Bewohnern heterogener Nachbarschaften scheint somit zumindest zum Teil gerechtfertigt zu sein.

Die Ergebnisse deuten zudem an, dass dieses Phänomen tatsächlich ursächlich auf die individuelle Wahrnehmung religiöser und ethnischer Heterogenität zurückzuführen ist. Belege für die Bedeutung von Vorurteilen oder die Ungleichbehandlung von Vertretern unterschiedlicher Gruppen konnten hingegen nicht gefunden werden. Vielmehr scheint die Wahrnehmung von Heterogenität einen sozialen Rückzug zu befördern, der unabhängig von der kulturellen Identität des Gegenübers den sozialen Zusammenhalt schwächt. Wodurch dieser Rückzug erklärt werden kann, muss in zukünftigen Studien untersucht werden. Letztlich jedoch - und dies ist wichtig zu betonen - geben die Ergebnisse der zweiten Studie Anlass zu Optimismus. Ohne jeglichen persönlichen Nutzen und unabhängig von der ethnischen oder religiösen Identität des Absenders werden in zwei Drittel der Fälle verlorene Briefe von Anwohnern und Passanten weitergeleitet. Auf die lose Gemeinschaft in Nachbarschaften ist insofern Verlass.


Susanne Veit ist Psychologin und seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin der Abteilung Migration, Integration, Transnationalisierung. In ihrem Dissertationsprojekt befasst sie sich mit dem Zusammenhang zwischen ethnischer Heterogenität und Engagement.
veit@wzb.eu


Anmerkungen
Koopmans, Ruud/Dunkel, Anna/Schaeffer, Merlin/Veit, Susanne: Ethnische Diversität, soziales Vertrauen und Zivilengagement. Projektbericht. Berlin: Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2011.

*

Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 135, März 2012, Seite 9-12
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785‍ ‍Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu
 
Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr.
Der Bezug ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 5. April 2012