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GESELLSCHAFT/215: Familienleben auf Distanz (DJI)


DJI Bulletin 3/2009, Heft 87
Deutsches Jugendinstitut e.V.

Familienleben auf Distanz

Von Michaela Schier


Viele Eltern und Kinder müssen heutzutage nicht nur einen straff organisierten Tagesablauf bewältigen, sondern immer häufiger auch eine räumliche Entfernung überwinden. Trotz getrennter Wohnungen und Zeitnot eine emotionale Nähe aufrechtzuerhalten, erfordert Kraft und Kreativität. Wie moderne Familien ihren Alltag gestalten.


Raum, Zeit und Geschlecht sind im Familienalltag stets eng miteinander verknüpft. Es zählt zu den konstitutiven und sinnstiftenden Elementen des familialen Zusammenlebens, gemeinsam Zeit zu verbringen. Geteilte Zeit an einem Ort stiftet Nähe zwischen den Familienmitgliedern, ermöglicht gegenseitige Anteilnahme, Unterstützung sowie Fürsorge und ist eine wichtige Grundbedingung, damit sich Familien als gemeinschaftliches Ganzes erfahren können (BMFSFJ 2006). Sich zu sehen, zusammen zu sein und füreinander Zeit zu haben, das thematisieren Mütter und Väter heute jedoch als schwierige Herausforderungen in ihrem Alltag. Denn Veränderungsprozesse im Bereich von Erwerbsarbeit und Familie führen dazu, dass Familie immer häufiger in engen Zeitlücken sowie aus der Ferne gelebt werden muss. Die herrschenden Geschlechterverhältnisse, die sich ebenfalls im Wandel befinden, strukturieren hierbei die spezifischen Rollen, die Aufgabenteilung und Handlungsmöglichkeiten von Frauen und Männern (Jurczyk u. a. 2009).


Kindliche Bedürfnisse halten sich an keinen Zeitplan

Neue Familienformen, neue Arbeitsformen, eine starke Flexibilisierung der Arbeitszeiten und Arbeitsorte, die zunehmende Diversifizierung der Raum-Zeit-Pfade von Familienmitgliedern sowie die verstärkte Einbindung von Kindern und Erwachsenen in außerfamiliale Institutionen geben dem Alltag von Familien neue raumzeitliche Konturen. Die Verhältnisse verkomplizieren sich zusätzlich durch den »institutional lag«. Dieser weist darauf hin, dass sich die gesamten Rahmeninstitutionen des öffentlichen Lebens, wie Kinderbetreuungseinrichtungen, Schulen, Verkehrssysteme sowie Behörden, bis heute noch nicht auf die neuen Verhältnisse und Bedürfnisse von Familien eingestellt haben.

Die Etablierung von rhythmisch wiederkehrenden gemeinsamen Alltagszeiten (zum Beispiel Mahlzeiten, Bettgehzeiten) und Handlungsroutinen, die Abstimmungsprozesse vereinfachen, gestaltet sich unter diesen Bedingungen als schwierig. Gelegenheiten für ein familiales Miteinander entstehen nicht mehr quasi automatisch (etwa am Abend oder an den Wochenenden). Sie müssen häufig erst geplant und gezielt hergestellt werden. Familienleben findet überdies zunehmend unter der Prämisse von Zeitnot und Stress statt (Jurczyk 2009). Die Sonntage - nicht mehr das gesamte Wochenende - kristallisieren sich als letzte, überaus wichtige »temporäre Bastionen« für Familien heraus.

Familie als emotionsbasierter Fürsorgezusammenhang lässt sich allerdings nur bedingt geplant und in engen Zeitlücken herstellen. Prekär werden auf diese Weise das Moment der Verlässlichkeit sowie die Möglichkeiten für beiläufige Interaktionen der Familienmitglieder, die einen wesentlichen Anteil an erlebter Qualität von Familie ausmachen (Kremer-Sadlik/Paugh 2007). Ein Teil der Kommunikation, vielleicht oft der wichtigere, geschieht insbesondere zwischen Eltern und Kindern eher nebenher und spontan. Insbesondere kindliche Bedürfnisse nach Nähe, Austausch und Aufmerksamkeit können nur schwer aufgeschoben werden.


Die Autofahrt als wertvoller Moment des Austauschs

Familienleben muss aufgrund von beruflicher Mobilität sowie nach Trennung und Scheidung überdies zunehmend multilokal und »virtuell« gestaltet werden. Aus der Mehrörtlichkeit des Alltags vieler Familien resultieren besondere Herausforderungen in Bezug auf die praktische Gestaltung des Alltags, auf Fürsorgebeziehungen sowie auf das Aufrechterhalten von emotionaler und sozialer Verbundenheit (Schier 2009).

Prozesse der zeitlichen und räumlichen Flexibilisierung der Erwerbsarbeit eröffnen zudem sowohl in West- als auch in Ostdeutschland neue Betreuungslücken. Speziell in den frühen Morgenstunden, in der Zeit nach 17 Uhr und an Wochenenden sowie im Falle von beruflich bedingten Abwesenheiten der Eltern über Nacht fehlt es an preiswerten und passfähigen Betreuungsangeboten. Der Zugriff auf ein stabiles Netz von unbezahlten, flexibel verfügbaren Betreuungspersonen (beispielsweise Großeltern oder Freunde) ist inzwischen zur Verknüpfung von Familie und Beruf unabdingbar geworden.

Familie herstellen heißt unter den skizzierten Bedingungen, kreativ Praktiken für ein gutes Balance- und Alltagsmanagement sowie für die Aufrechterhaltung der familialen Verbundenheit, das sogenannte Doing Family, zu entwickeln (Schier/Jurczyk 2007). Eltern versuchen, die knappe gemeinsame Zeit möglichst qualitativ hochwertig und gezielt zu nutzen. Zeitknappheit führt so zu einer reflektierteren und stärker geplanten Gestaltung des gemeinsamen Alltags und geht manchmal durchaus mit einer subjektiv intensiver erlebten Elternschaft einher (Schier/Szymenderski 2009). Da gerade die selbstverständlichen Momente im Alltag selten werden, versuchen Eltern, Gelegenheiten für beiläufige Interaktionen gezielt herzustellen, indem sie zum Beispiel eine gemeinsame Autofahrt mit ihren Kindern als wertvolle Zeit des Austauschs einplanen - eine paradoxe Entwicklung.


Das Lustvolle am Familienleben schwindet

Für Familien geht es heute nicht mehr nur darum, Zeit füreinander zu haben, sondern Praktiken zu entwickeln, sich in dieser Zeit außerdem noch mit den anderen Familienmitgliedern am gleichen Ort zu befinden. Elternschaft sowie familiale Verbundenheit trotz der wachsenden Bedeutung räumlich getrennten Wohnens und der oft nur sehr kurzen gemeinsamen Zeitphasen aufrechtzuerhalten, ist eine anspruchsvolle Gestaltungsaufgabe, die Familien heute zu bewältigen haben. Regelmäßige Familientelefonkonferenzen, das Nachreisen an den Arbeitsort eines Familienmitglieds oder mobiles Wohnen, ähnlich dem von Schaustellern, sind Beispiele für neue Praktiken im Umgang mit beruflichen Mobilitätsanforderungen. Insbesondere das (Mobil-)Telefon hat eine große Bedeutung für das Vereinbarkeits- und Balancemanagement im Alltag sowie das Aufrechterhalten von Gemeinsamkeitsgefühlen.

Die Besonderheit von Familie als emotionsbasierter Fürsorgezusammenhang erfordert jedoch einen gewissen Grad an Kopräsenz der Familienmitglieder. Dafür sprechen die unmittelbare Körperbezogenheit vieler Fürsorgeleistungen, aber auch der Charakter intimer Partnerschaften sowie von Sozialisationsprozessen. Mangelnde Anteile an Face-to-Face-Kontakten können nur bedingt durch neue Kommunikationsmittel aufgefangen werden. Es gibt allerdings kein »objektiv« festlegbares Quantum notwendiger gemeinsamer Familienzeit, da dieses stark von den jeweiligen Konstellationen, individuellen Bedürfnissen sowie Familienkonzepten abhängt.

Auch wenn Familien durchaus kreative Umgangspraktiken mit den neuen Verhältnissen erfinden und das Vereinbarkeitsmanagement sowie die Organisation der täglichen Betreuung der Kinder zumindest in den befragten Familien meist klappen, bleibt die Gemeinsamkeit, das Lustvolle am Familienleben doch zunehmend auf der Strecke. Darüber, wie Familien ihren Alltag unter multilokalen Bedingungen gestalten und welche Rahmenbedingungen es braucht, damit dies dauerhaft gelingt, ist bisher wenig bekannt. Die am DJI angesiedelte Schumpeter-Nachwuchsgruppe »Multilokalität von Familie« nimmt dieses Phänomen derzeit aus der Perspektive von Kindern und Erwachsenen umfassend in den Blick.


Literatur:

Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (Hrsg.; 2006): Siebter Familienbericht. Familien zwischen Flexibilität und Verlässlichkeit. Perspektiven für eine lebenslaufbezogene Familienpolitik. Berlin

Jurczyk, Karin (2009): Familienzeit - knappe Zeit? Rhetorik und Realitäten. In: Heitkötter, Martina / Jurczyk, Karin / Lange, Andreas / Meier-Gräwe, Uta (Hrsg.): Zeit für Beziehungen? Zeit und Zeitpolitik für Familien. Opladen, S. 37-66

Jurczyk, Karin / Schier, Michaela / Szymenderski, Peggy / Lange, Andreas / Voß, G. Günter (2009): Entgrenzte Arbeit - entgrenzte Familie. Grenzmanagement im Alltag als neue Herausforderung. Reihe: Forschung aus der Hans-Böckler-Stiftung, Band 100, Berlin

Kremer-Sadlik, Tamar / Paugh, Amy (2007): Everyday moments. Finding quality time in American working families. In: Time and Society, Heft 2/3, S. 287-308

Schier, Michaela / Jurczyk, Karin (2007): »Familie als Herstellungsleistung« in Zeiten der Entgrenzung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nummer 34, S. 10-17

Schier, Michaela (2009): Räumliche Entgrenzung von Arbeit und Familie. Die Herstellung von Familie unter Bedingungen von Multilokalität. In: Informationen zur Raumentwicklung, Heft 1/2, S. 55-66

Schier, Michaela / Szymenderski, Peggy (2009): Von der Vorgabe zur Aufgabe - die Folgen der Entgrenzung von Erwerbsarbeit für Männlichkeit, Vaterschaft und Arbeitsteilung. In: Jurczyk, Karin / Lange, Andreas (Hrsg.): Vater werden und Vater sein heute. Neue Wege - neue Chancen! Gütersloh, S. 250-269


Das Forschungsprojekt »Entgrenzte Arbeit - entgrenzte Familie« führte das Deutsche Jugendinstitut (DJI) und die Technische Universität Chemnitz von März 2006 bis Ende Februar 2008 durch. Basis der Studie, die von der Hans-Böckler-Stiftung gefördert wurde, sind Intensivinterviews mit 76 berufstätigen Müttern und Vätern mit Kindern im Alter von null bis 16 Jahren sowie eine Sekundäranalyse quantitativer Daten. Die Befragten arbeiten im Einzelhandel sowie in der Film- und Fernsehproduktion. Die damals federführend beteiligte DJI-Wissenschaftlerin Michaela Schier übernahm vor kurzem die Leitung der Schumpeter-Nachwuchsgruppe »Multilokalität von Familie«, deren Arbeit die VolkswagenStiftung bis Ende 2013 fördert. Die Gruppe untersucht, wie Familien ihren Alltag unter multilokalen Bedingungen bewältigen können. Mehr Informationen zu den Projekten gibt es im Internet unter
www.dji.de/5_entgrenzung und www.dji.de/multilokale_familie.

Kontakt: schier@dji.de


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 3/2009, Heft 87, S. 22-23
Herausgeber:
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Nockherstraße 2, 81541 München
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. November 2009