Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE

GESELLSCHAFT/210: Bürger vergleichen ihre Lage zunehmend mit der in anderen Ländern (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 125/September 2009
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Der Blick ins Ausland
Bürger vergleichen ihre Lage zunehmend mit der in anderen Ländern

Von Ulrich Kohler


In ihrem Buch "Das kosmopolitische Europa" bezichtigen Ulrich Beck und Edgar Grande die soziologische Ungleichheitsforschung der Blindheit gegenüber der europäischen Dimension der sozialen Ungleichheit. Soziologen würden immer die Unterschiede zwischen Menschen in einem Land betrachten und darüber völlig vergessen, dass die Unterschiede zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern viel größer sind. Mit zunehmender Internationalisierung würden sich die Menschen dieser Unterschiede bewusst werden, und in der Folge würden Konflikte um die Verteilung von Gütern verstärkt zwischen Menschen aus verschiedenen Ländern ausgetragen werden. Höchste Zeit also, bei der Untersuchung sozialer Ungleichheit eine grenzüberschreitende Perspektive einzunehmen.

Eindeutige Belege für die These von Beck und Grande, Menschen würden ihre Lebensumstände verstärkt mit denen in anderen Ländern vergleichen, sind bislang Mangelware. Dies liegt aber nur zum Teil am diagnostizierten blinden Fleck der Soziologie. Autoren, die sich mit Tendenzen der Europäisierung oder Internationalisierung befassen, haben zudem meist das Handeln politischer Eliten im Blick und übersehen dabei, was deren Handeln in den Köpfen der Menschen bewirkt. Möchte man anstelle der "Europäisierung von oben" auch die Europäisierung in den Köpfen der Menschen betrachten - die "Europäisierung von unten" -, so stellt man bald fest, dass es gar nicht so einfach ist, diese vermuteten Veränderungen auch empirisch messbar zu machen.

Neue Wege zur Untersuchung eines Themas ergeben sich in der Forschung oft durch überraschende Befunde zu einem anderen Thema. So auch in diesem Fall. Erforscht wurde die Lebensqualität in europäischen Gesellschaften anhand von zwei Indikatoren, die dann aufeinander bezogen wurden: dem verfügbaren Einkommen und der subjektiven Lebenszufriedenheit in den fünf reichsten und den fünf ärmsten Ländern der EU. Verglichen werden dabei jeweils das reichste und das ärmste Viertel der Bevölkerung. In den ärmsten Ländern Europas hat das ärmste Viertel der Bevölkerung ca. 128 Euro pro Monat zur Verfügung; die Reichsten haben dort sechsmal so viel. In den fünf reichsten Ländern haben die Ärmsten im Durchschnitt 750 Euro zur Verfügung, das reichste Viertel etwa viermal so viel. Es erstaunt nicht, dass die Reichsten zufriedener mit ihrem Leben sind als die Ärmsten. Auf einer Skala von 1 bis 10 stufen sich in den fünf ärmsten EU-Staaten die Reichsten im Durchschnitt auf 6,2 ein, die Ärmsten auf 4,6. Ähnliche subjektive Unterschiede zwischen Arm und Reich gibt es in den wohlhabendsten EU-Mitgliedstaaten (8,0 zu 7,3).

Dies wäre nicht allzu bemerkenswert, wäre da nicht noch ein dritter Befund, der überrascht: die Reichsten der armen Länder sind unzufriedener als die Ärmsten der reichen Länder, wie Abbildung 1 zeigt.

Der Befund ist überraschend, weil er der "Theorie der relativen Deprivation" zu widersprechen scheint, einer der am weitesten akzeptierten Theorien in den Sozialwissenschaften. Die Wurzeln der Theorie der relativen Deprivation gehen auf das Jahr 1949 zurück, und zwar einerseits auf ein Autorenteam um den Soziologen Samuel Stouffer, andererseits auf den Ökonomen James Duesenberry. Stouffer und seine Kollegen hatten in einer Untersuchung an Veteranen des Zweiten Weltkrieges festgestellt, dass sich diese bei der Einschätzung ihrer Situation weniger an den objektiven Gegebenheiten orientierten als daran, ob es ihnen besser oder schlechter ging als den Kameraden ihrer Einheit.

James Duesenberry hatte im selben Jahr die Hypothese des relativen Einkommens entwickelt, nach der Konsum-Entscheidungen nicht allein vom gegenwärtigen Einkommen abhängen, sondern auch von der relativen Stellung dieses Einkommens in der gesellschaftlichen Einkommenspyramide. Seither haben sich zahlreiche Autoren an Weiterentwicklungen der Ideen von Stouffer bzw. Duesenberry versucht, darunter Robert Merton, Ray Hyman, Robert Easterlin und die Nobelpreisträger Daniel Kahneman und Amos Tversky. Der zentrale Kern der Theorie blieb dabei jedoch erhalten: Entscheidend ist nicht, wie es den Menschen geht, sondern ob es ihnen besser geht als Anderen. Die Implikationen dieser Kernannahme sind vielfältig. Unter anderem ergibt sich hieraus, dass Menschen auch dann noch nach mehr Wohlstand streben, wenn sie bereits ein hohes Maß an Wohlstand erreicht haben. Dies ist auch der Grund, warum zum Beispiel Armut in der Europäischen Union und anderswo als relative Armut definiert wird.

Eine der Implikationen der Theorie ist: Es sollte den Menschen egal sein, dass ihr absolutes Wohlstandsniveau eher niedrig ist, solange sie in ihrer Gesellschaft relativ gut gestellt sind. Genau dies wurde mit dem oben dargestellten Befund widerlegt. Ist also doch der absolut erreichte Lebensstandard entscheidender als die relative Position innerhalb einer Gesellschaft? Ist die Theorie der relativen Deprivation falsch?

Den entscheidenden Hinweis zur Beantwortung dieser Fragen liefern die eingangs skizzierten soziologischen Großtheorien der Internationalisierung. Wenn man darauf besteht, dass sich die Bedürfnisse von Menschen daran ausrichten, was ihre Mitmenschen erreicht haben, so ist die entscheidende Frage doch, wer diese relevanten Anderen sind. Die Theorie der relativen Deprivation selbst gibt darauf keine Antwort. In der Forschungspraxis wird diese "Referenzgruppe" meist aus Menschen der engeren Umgebung gebildet: Freunde, Nachbarn, Kollegen - oder aus "ähnlichen" Menschen: gleiche Hautfarbe, Schicht, Geschlecht. Aber egal wie, letztlich sind es immer die eigenen Landsleute. Hier kommt die Globalisierungstheorie ins Spiel. Wenn sie Recht behält, dürften sich die Referenzgruppen heute nicht mehr nur aus Landsleuten zusammensetzen, sondern zunehmend auch aus Menschen anderer Länder. Das würde auch das angesprochene Beispiel erklären helfen, dass die Reichen in armen Ländern nicht zufriedener sind als die Armen aus reichen Ländern: weil sie nämlich im Vergleich zu einer internationalen Referenzgruppe eine ähnliche Position einnehmen.

Erklärungen, die zu einem bereits bestehenden Befund entwickelt werden, sind jedoch wertlos, wenn sie nicht durch eine weitere unabhängige Untersuchung gestützt werden. Daher galt es zu prüfen, ob Menschen bei der Beurteilung ihrer eigenen Lebensbedingungen die Lebensbedingungen in anderen Ländern ins Kalkül ziehen. Fündig wurden wir dabei in der von Wolfgang Zapf am WZB entwickelten Euromodul-Umfrage, die zwischen 1999 und 2002 in mehreren Ländern ins Feld ging. Unter anderem wurde danach gefragt, wie die Menschen ihre eigenen Lebensbedingungen und die Lebensbedingungen in mehreren anderen Ländern einschätzen. Da beide Fragen mit der gleichen Skala abgefragt wurden, lassen sich die Werte direkt miteinander vergleichen. Die Differenz der beiden Skalen ist eine Maßzahl dafür, ob die Befragten ihre eigenen Lebensbedingungen schlechter, gleich oder besser einschätzen als die Lebensbedingungen in anderen Ländern. Diejenigen, die glauben, dass es den Menschen in einem anderen Land besser geht als ihnen selbst, sollten gemäß der Globalisierungstheorie eher unzufrieden sein, während diejenigen, die glauben, dass es ihnen selbst besser geht, eher zufrieden sein müssten.

Spielen die Lebensbedingungen in anderen Ländern dagegen keine Rolle, so dürfte sich kein derartiger Zusammenhang einstellen. Die empirische Untersuchung dieser Implikationen mit Daten aus der Türkei, Ungarn und Deutschland ergab eine deutliche Bestätigung der Aussagen der Globalisierungstheorie (Abbildung 2).

Der internationale Blick beeinflusst die Zufriedenheit

Zur Erläuterung der Abbildung: Gezeigt werden Koeffizienten einer linearen Regression. Werte über Null bedeuten, dass die Menschen umso zufriedener mit ihrem Leben sind, desto besser sie ihre eigenen Lebensbedingungen im Vergleich zur jeweiligen Referenzgruppe einschätzen. Je höher der Wert, desto stärker der Zusammenhang. Als Referenzgruppen wurden die entlang der horizontalen Achse abgetragenen Länder wie Spanien, Polen oder Ungarn verwendet sowie (zum Vergleich) zwei Referenzgruppen aus dem eigenen Land. Die Schattierung gibt die Unsicherheitsmarge der ermittelten Werte wieder.

Die wichtigste Nachricht der Abbildung ist, dass alle We rte der internationalen Vergleichgruppen deutlich über Null liegen. Türken, Ungarn, Deutsche sind zufriedener, wenn sie glauben, dass es ihnen besser geht als den Bürgern in anderen Ländern - und zwar weitgehend unabhängig davon, welches Land als Vergleichsland betrachtet wird. Dabei sind die Zusammenhänge nicht schwächer als bei den zum Vergleich eingezeichneten nationalen Referenzgruppen. Wir stellen überdies fest, dass die Bedeutung internationaler Referenzgruppen im vergleichsweise wohlhabenden Westdeutschland tendenziell was schwächer ausgeprägt ist als in der Türkei, Ungarn und Ostdeutschland. Dazu passt ein zweiter Befund, der hier nur angedeutet werden kann: Die Menschen sind unzufriedener, wenn sie sehen, dass es anderswo besser läuft, aber sie sind nicht viel zufriedener, wenn sie sehen, dass es anderswo schlechter läuft. Relative Deprivation ist in diesem Sinne asymmetrisch.

Das Fazit lautet: Die Lebensbedingungen in anderen Ländern sind heute mitentscheidend dafür, wie Menschen ihre eigenen Lebensbedingungen einschätzen. Möglicherweise ist dies ein Indiz für die von Autoren wie Beck und Grande beschriebene Internationalisierung. Allerdings scheint da Vorsicht geboten. Denn wir wissen nicht, ob die Referenzgruppen heute internationaler sind als noch vor zehn Jahren. Und wir können nicht sagen, ob sich die Befragten mit Ländern in der ganzen EU verglichen oder es für sie auch noch andere Referenzgruppen in einem anderen Teil Europas oder in den USA gab, die aber nicht abgefragt wurden. Antworten auf diese Fragen könnte eine noch breitere, international vergleichende Forschung bieten.


Ulrich Kohler, geboren 1967, studierte Soziologie, Geschichte und Öffentliches Recht an den Universitäten Konstanz und Mannheim, wo er promoviert wurde. Seit 2003 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter der WZB-Abteilung "Ungleichheit und soziale Integration". Er forscht in erster Linie über politische Partizipation, soziale Ungleichheit und empirische Forschungsmethoden. Er ist Associate Editor des Stata Journal und Leiter des DFG-Projekts "Die wirtschaftlichen Folgen zentraler Lebensrisiken in Deutschland und den USA und ihre Entwicklung seit den achtziger Jahren".


Kurz gefasst

Soziologische Großtheorien der Globalisierung legen nahe, dass die Lebensbedingungen in anderen Ländern für Menschen zunehmend an Bedeutung gewinnen. Umfragedaten aus Deutschland, Ungarn und der Türkei zeigen in der Tat, dass Vergleiche mit anderen Ländern für die Lebenszufriedenheit der Menschen wichtig sind. Je mehr man glaubt, schlechter als die Bürger anderer Länder dazustehen, desto unzufriedener ist man mit seinem Leben. Die Wohlhabendsten in den ärmsten Ländern Europas sind unzufriedener mit ihrer Lebenssituation als die Ärmsten in den reichsten Ländern.


Literatur

Jan Delhey, Ulrich Kohler, "From Nationally Bounded to Pan-European Inequalities? On the Importance of Foreign Countries as Reference Groups", in: European Sociological Review, Vol. 22, 2006, S. 125-140.

Jan Delhey, Ulrich Kohler, "Where We Stand in Europe. National Quality of Life, EU-average, and Personal Life Satisfaction", in: Jens Alber, Tony Fahey, Chiara Saraceno (Eds.), Handbook of Quality of Life in the Enlarged European Union. London: Routledge 2008, S. 385-404.

Ulrich Kohler, "Containers, Europeanisation and Individualisation: Empirical Implications of General Descriptions of Society", in: Stefanie Scherer, Reinhard Pollak, Gunnar Otte, Markus Gangl (Eds.), From Origin to Destination. Trends and Mechanisms in Social Stratification Research, Frankfurt a. M./New York: Campus 2007, S. 202-319


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abbildung 1: Durchschnittliche Lebenszufriedenheit der reichsten und ärmsten Viertel der Bevölkerung in den fünf reichsten Ländern der EU
Abbildung 2: Einfluss transnationaler Vergleiche auf die Lebenszufriedenheit nach Umfrageland und Referenzgruppe


*


Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 125, September 2009, Seite 9 - 12
Herausgeberin:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
10785 Berlin, Reichpietschufer 50
Tel.: 030/25 49 10, Fax: 030/25 49 16 84
Internet: http://www.wzb.eu

Die WZB-Mitteilungen erscheinen viermal im Jahr
(März, Juni, September, Dezember)
Bezug gemäß § 63, Abs. 3, Satz 2 BHO kostenlos


veröffentlicht im Schattenblick zum 25. September 2009