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GESELLSCHAFT/182: Über die Anfänge der Gesellschaft (Bi.research - Uni Bielefeld)


BI.research 31.2007
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"... Irgendwann ist eben Feierabend, und man muss schlafen gehen"

Ein Gespräch mit dem Soziologen André Kieserling über die Anfänge der Gesellschaft ihr Gewicht und ihre Selbstbeschreibungen


FRAGE: Stimmt der Eindruck, dass sich die Soziologie wenig für die Anfänge der Gesellschaft interessiert und dies lieber den Archäologen und Paläoanthropologen überlässt? Wenn ja, warum ist das so? Kann man daraus für die Gegenwart nichts lernen?

ANDRÉ KIESERLING: Der wissenschaftlich korrekte Umgang mit Knochenfunden oder mit ausgegrabenen Artefakten gehört nicht zu den Stärken der Soziologie, da sind wir dankbar, dass es andere Wissenschaften gibt, die uns das abnehmen. Und wenn es auf der Grundlage solcher Forschungen zu Theorien über Hominidenentwicklung kommt, dann lesen wir das unter dem Aspekt der Differenz: Wie unterscheidet sich Signalaustausch, den es auch unter Tieren schon gibt, von der über Sprache laufenden Kommunikation? Die soziologisch relevanten Anfänge liegen in Stammesgesellschaften, die voraussetzen, dass es sprachliche Kommunikation bereits gibt. Theorien, die Anfänge für wichtig halten, sind in der Soziologie praktisch ausgestorben. Es gibt mythische Konzeptionen von Anfang. Da ist es dann wichtig, den Anfang immer in Erinnerung zu behalten, weil alles, was danach kommt, dort immer schon präsent war. Das passt gut zu Gesellschaften, in denen alter Adel mehr zählt als junger oder später alter Reichtum mehr als neuer. Aber es gibt inzwischen eben viele Theorien, die den Anfang vergleichgültigen. Dazu gehört etwa die Vorstellung, dass die Ursachen, die man am Anfang mal brauchte, entbehrlich werden, wenn die Wirkung mal steht: Nach Weber leistet die protestantische Ethik eine religiöse Anschubfinanzierung für den Kapitalismus, aber sobald er sich selber trägt, braucht man die Religion, also den Anfang, nicht mehr. Oder es gibt Theorien der Abweichungsverstärkung: An einer kleinen Unebenheit auf einem Weg am Fluss, es könnte auch jede andere Stelle sein, bricht das Rad eines Wagens, die Leute können nicht mehr weiter, und dann entsteht dort - ganz anders als ursprünglich gedacht - eine Siedlung, und das ist dann schon eine größere Unebenheit. Oder es gibt seit dem 17. Jahrhundert Theorien über falsche Anfänge: Wahre Liebe kann mit geheuchelter Liebe anfangen.

FRAGE: Ab wann ist es eigentlich sinnvoll, von "Gesellschaft" zu reden? Ist Horde, Clan oder Stamm schon etwas, was man als Gesellschaft bezeichnen darf? Es gibt ja auch Theorien, nach denen Gesellschaft erst mit der Moderne, also vor gut 200 Jahren, anfängt, und alles andere ist dann Vorgeschichte.

ANDRÉ KIESERLING: Es gibt zwei Möglichkeiten, darauf zu antworten: Man kann auf die Selbstbeschreibungen, das heißt auf die Philosophiegeschichte, eingehen, und wenn man das macht, spricht viel dafür, dass Vorstellungen, die wir mit Gesellschaft verbinden, zum Beispiel die Möglichkeit, sie von Politik zu unterscheiden, sehr neu sind. Man kann aber auch unabhängig davon überlegen: Was ist denn soziologisch das Merkmal einer Gesellschaft? Und dann kommt man auch auf Stammesgesellschaften, etwa in dem Sinne, dass sie autark sind, dass sie also keine sozialen Systeme kennen, von denen sie abhängig sind, dass sie sich selbst reproduzieren können.

FRAGE: Solche Merkmale wie die Tatsache, dass archaische Gesellschaften kein Bewusstsein für Vergangenheit und Zukunft hatten, sind die soziologisch relevant oder spielen sie gar keine Rolle?

ANDRÉ KIESERLING: Also ich würde sagen: Die Gesellschaft ist das System, auf das man achten muss, wenn man erklären will, wie Zeit erlebt wird. Dass die Stammesgesellschaften diese aus unserer Sicht übersichtlichen Vorstellungen von Zeit ohne große Zukunftsentwürfe hatten, muss man dann erklären aus dem Fehlen von Schrift oder aus der Nähe der ganzen Gesellschaft zu Interaktionserfahrungen. So wie Interaktionen für sich selbst keine sehr lange Zukunft sehen - irgendwann ist eben Feierabend, und man muss schlafen gehen -, so ist das auch für Gesellschaft, wenn Interaktion und Gesellschaft gar nicht getrennt sind. Interaktion und Vollzug von Gesellschaft - und der heißt immer: Kommunikation - finden also im selben Moment und am selben Ort statt. Ich würde daher nicht hohe Ansprüche an weiträumig interpretierbare Zeithorizonte als Bedingung für Gesellschaft sehen. Das entsteht erst mit der modernen Gesellschaft.

FRAGE: Wer nicht gerade Soziologe ist, glaubt, Gesellschaft bestehe aus Menschen. Luhmann hat die Entwicklung soziologischer Gesellschaftsmodelle in Lehrveranstaltungen gerne so dargestellt, dass irgendwann die Frage aufkam: Wenn jemand zum Friseur geht und lässt sich die Haare schneiden - schneidet man dann auch etwas von der Gesellschaft ab? Dadurch sei man dann zu der Vorstellung gelangt, Gesellschaft bestehe nicht aus Menschen, sondern aus Handlungen und später waren es dann - bei Luhmann selbst - Kommunikationen.

ANDRÉ KIESERLING: Es gibt noch eine andere hübsche Luhmann-Formulierung: Wenn die Gesellschaft wirklich ein Personenverband wäre, dann hätte sie im Augenblick ein Gewicht von etwa 300 Millionen Tonnen!

FRAGE: Vielleicht ein wenig naiv gefragt: Kann man denn sagen, dass ältere Gesellschaften eher aus Menschen bestehen als die moderne Gesellschaft?

ANDRÉ KIESERLING: Ich würde auch hier wieder zwischen den Selbstbeschreibungen von Gesellschaften und der heutigen Sicht trennen. Die Philosophiegeschichte kennt sicherlich lange Phasen, in denen das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft als harmonisches Verhältnis beschrieben wurde. Die Gesellschaft wurde an einem menschlichen Maß gemessen. Die Lehre, dass die Gesellschaft aus Menschen besteht, ist aristotelisch. Das ist ein Organismus, der aus lebenden, aber unzusammenhängenden Teilen besteht im Unterschied zu normalen Organismen, denen ja die Arme nicht einfach weglaufen können. Die Vorstellung, dass man Individuum und Gesellschaft unterscheiden muss, dass die Gesellschaft eine psychologische Zumutung oder mit Dahrendorf "eine ärgerliche Tatsache" ist - das gehört in die moderne Gesellschaft. Die alte Harmonie zwischen Individuum und Gesellschaft ist verschwunden. Man spricht dann über "Entfremdung", und dafür können wir - etwa in der Romantik - Anfänge identifizieren. Aber unter dem Aspekt dessen, was wir heute über Bewusstsein und Kommunikation wissen, muss es doch auch für die alten Gesellschaften unmöglich gewesen sein, zum Beispiel im Kopf eines anderen Menschen weiterzudenken, oder umgekehrt alles, was irgendeinem "durch die Rübe rauscht", um es mit Gernhardt zu sagen, schon darum als Teil der Kommunikation anzusehen. Man darf sich nicht davon bluffen lassen, dass die Leute das nicht gesehen haben. Auch die alten Gesellschaften bestanden für die moderne Soziologie also nie aus Menschen.

FRAGE: In der marxistischen Tradition hatte die egalitäre "Urgesellschaft" vergleichsweise hohe Prominenz. Das ist natürlich in hohem Maße eine Rückprojektion eigener Utopien.

ANDRÉ KIESERLING: Ich glaube nicht, dass Marx selbst ein so romantisches Verhältnis zu den Stammesgesellschaften hatte, denn immerhin ist ja seine Theorie der Schichtung die Theorie einer zivilisatorischen Errungenschaft. Erst wenn man erwirtschaftete Überschüsse ungleich verteilt, machen sie einen Unterschied. Bei Gleichverteilung ergäbe das eine Birne mehr pro Kopf und würde keinen Niveauunterschied bedeuten. Aber wenn man eine Oberschicht ausdifferenziert, die sich alimentieren lässt und ein Interesse an technologischen Fortschritten hat, weil sie den Mehrwert alleine einstreicht, dann geht es mit der Gesellschaft voran.

FRAGE: Ein Sprung an das andere Ende der Zeitschiene: Inzwischen redet fast jeder von "Weltgesellschaft". Ansätze dazu gibt es schon im 18. Jahrhundert, damals mit großen idealistischen Implikationen. Was ist das Charakteristische und Neue an diesem Begriff in der Soziologie?

ANDRÉ KIESERLING: Die "normale" Soziologie spricht statt von "Weltgesellschaft" eher von "Globalisierung" und bezieht den Gesellschaftsbegriff auf den Nationalstaat. Und sonst gibt es noch die Formulierung "Global System". Aber auch die sieht dann wieder neben einem Gesellschaftsbegriff, der am Nationalstaat klebt und darüber hinaus nicht verlängert werden kann. Man kann beides machen, aber man muss wissen, was man tut. Wenn man Gesellschaft über die politische Handlungsfähigkeit definiert, dann kommt man natürlich nicht über den Nationalstaat hinaus, weil es dafür keine Weltäquivalente gibt. Aber wenn man sagt, Gesellschaft ist eigentlich immer die jeweils umfassendste Sozialordnung, die so weit reicht, wie Kommunikation verstanden und dann entweder angenommen oder abgelehnt wird, dann kommt man um die Feststellung nicht herum, dass heute zum ersten Mal jede Kommunikation überall verstanden wird und es also nur noch eine Gesellschaft auf Erden gibt. Das hängt mit der Beschleunigung im Austausch von Nachrichten, aber natürlich auch mit der Gewöhnung an eine einheitliche Weltzeit zusammen, in die alle lokalen Zeiten umrechenbar sind. Diese Merkmale bestreitet auch kein Soziologe, aber man zögert, bei fehlendem Weltstaat dafür den Begriff "Weltgesellschaft" herauszurücken.

FRAGE: "Was einen Anfang hat, muss auch ein Ende haben", heißt es bei Luhmann. Ist das Ende der Gesellschaft etwas, was im Horizont der Soziologie mitgedacht wird?

ANDRÉ KIESERLING: Ein Ende der Gesellschaft - was sollte das sein? Die Gesellschaft kann sich jedenfalls nicht selbst beenden. Firmen können Konkurs anmelden, aber für die Gesellschaft ist das schwierig. Wenn irgendein Weltherrscher sagen würde: Ruhe bitte!, und wenn daraufhin alle verstummen würden, dann wäre auch das noch Kommunikation, nämlich Kommunikation von Folgebereitschaft. Natürlich kann die Gesellschaft aber kommunikationslos, also von außen, beendet werden, zum Beispiel durch Naturkatastrophen oder durch ökologische Katastrophen, an denen wir ja bereits arbeiten.

Herr Professor Kieserling, wir danken Ihnen für dieses Gespräch!


Prof. Dr. André Kieserling lehrt Allgemeine Soziologie mit dem Schwerpunkt Soziologische Theorie an der Universität Bielefeld.


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Quelle:
BI.research 31.2007, Seite 52-57
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld,
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BI.research erscheint zweimal jährlich


veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2008