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FRAGEN/007: Prof. Dr. Matthias Grundmann - "In unserem System denkt jeder nur an sich" (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014 - Nr. 108

"In unserem System denkt jeder nur an sich"

Interview mit von Prof. Dr. Matthias Grundmann von Benjamin Klaußner


Nachhaltig sein wollen heute viele - Einzelpersonen ebenso wie Unternehmen. Doch konsequent nachhaltig zu leben und zu wirtschaften ist schwierig. Eine kleine Gruppe von Menschen versucht das in sogenannten intentionalen Gemeinschaften oder Ökodörfern. Was sie auszeichnet und welche Aspekte des Ökodorfs bereits in der Gesellschaft angekommen sind, erklärt der Gemeinschafts- und Nachhaltigkeitsforscher Prof. Dr. Matthias Grundmann.


DJI Impulse: Herr Professor Grundmann, Nachhaltigkeit ist gerade trendy: Stars schmücken sich mit Niedrigenergiehäusern, die Palette nachhaltiger Produkte erstreckt sich von Kosmetika bis hin zu Hundefutter. Firmen weisen auf ihre "Corporate Social Responsibility" hin. Welche Facetten umfasst die Idee der Nachhaltigkeit?

Prof. Dr. Matthias Grundmann: In der klassischen Definition von Nachhaltigkeit ist sie ein ökologischer beziehungsweise biologischer Begriff, der auf den Erhalt verweist: auf den Systemerhalt, auf den Artenerhalt und auf den Erhalt der Ressourcen. Zudem gibt es noch die soziale Nachhaltigkeit: Dabei geht es darum, was soziale Gruppen dazu in die Lage versetzt, auf Dauer zu existieren. Darin steckt auch etwas Urchristliches: nämlich dass die Menschen fürsorglich miteinander umgehen müssen, damit die späteren Generationen ebenfalls von den natürlichen Ressourcen profitieren können und gleichzeitig der soziale Zusammenhalt gesichert wird.


DJI Impulse: Warum ist das Thema gerade im Moment sehr präsent in den Medien und in der Gesellschaft?

Grundmann: Es ist richtig, dass es momentan einen Hype um nachhaltige Produkte gibt. Dass dieser Begriff heute eine so große Rolle spielt, liegt an der Ausbeutung oder auch der Beherrschung der Welt durch den Menschen. Der Mensch macht sich die Erde untertan und geht mit den natürlichen Ressourcen nicht umsichtig um. Das findet seinen Höhepunkt in einer kapitalistischen Wirtschaftsordnung - nicht, weil der Kapitalismus an sich schlecht ist, sondern weil er auf den Mehrwert abzielt. Dieses "Mehr" muss irgendwo herkommen, und wenn man es nicht selbst erschaffen kann, muss es aus etwas herausgezogen werden - aus dem Boden oder aus den Menschen. Im Prinzip zieht der Mensch etwas aus der Welt heraus, was eigentlich nicht drin ist. Diese Ausbeutungslogik ist das Gespenst des Kapitalismus. Aus diesem Grund werden die verschiedenen Aspekte der sozialen und ökologischen Nachhaltigkeit momentan politisch dringlich. Außerdem hat es auch etwas damit zu tun, dass gewisse natürliche Ressourcen nicht mehr so stark ausgeschöpft werden können wie früher. Dafür steht besonders der Begriff des "Peak Oil", der besagt, dass das Maximum der globalen Ölförderung fast erreicht ist und danach abfallen muss. Diese messbare Einsicht, die inzwischen auch nicht mehr bestritten werden kann, bringt die Menschen zum Nachdenken und führt dazu, dass nachhaltiges Denken stärker wird.


DJI Impulse: Das Thema einer nachhaltigeren und gerechteren Welt ist spätestens seit dem Umweltgipfel von Rio de Janeiro im Jahr 1992 ein wichtiges Politikfeld. Damals einigten sich mit der "Agenda 21" 178 Staaten, auch Deutschland, auf soziale, wirtschaftliche und ökologische Veränderungen. Kritiker werfen ihr vor, kaum etwas bewirkt zu haben. Welchen konkreten Nutzen haben solche globalen Programme?

Grundmann: Sie machen auf aktuelle Probleme aufmerksam. Sie haben also einen politischen Nutzen: Die Probleme werden benannt. Es ging bei diesen Programmen nie nur um eine "grüne Politik", sondern immer auch darum, dass die Menschen anders mit den natürlichen Ressourcen umgehen müssen.


DJI Impulse: Manche Menschen schließen sich in Gemeinschaften zusammen und versuchen unabhängig von der Politik möglichst nachhaltig zu leben. Mit Erfolg: Ökodörfer wurden im Jahr 1998 von den Vereinten Nationen als "exzellente Modelle nachhaltigen Lebens" ausgezeichnet. Was sind die Grundprinzipien dieser Gemeinschaften?

Grundmann: Man muss dabei unterscheiden zwischen "intentionalen Gemeinschaften", wie zum Beispiel Klöstern oder Kooperativen, und Ökodörfern. Das Prinzip Ökodorf bedeutet zunächst einmal nur, dass Menschen auf eine bestimmte Art und Weise Produkte herstellen. Sie versuchen, keine Ressourcen zu verschwenden beziehungsweise darauf zu achten, dass sie nicht mehr Ressourcen verwenden, als reproduziert werden. Das ist eine umsichtige Art der Haushaltsführung. Der wichtigste Aspekt dabei ist ein Kreislaufdenken: Man kann nicht mehr verbrauchen, als wieder nachwachsen kann. Ökodörfer sind zudem so aufgebaut, dass die Produktionsprozesse nicht unabhängig voneinander laufen. Wenn einige im Dorf das Feld bestellen und ernten, ist das eine Grundversorgung auch für diejenigen, die in anderen Bereichen im Ökodorf arbeiten, beispielsweise in der Kinderbetreuung oder in Dienstleistungsberufen. Auch das ist ein sozialökologischer und -ökonomischer Kreislaufgedanke. Die Menschen in einem Ökodorf sind stark vernetzt, so dass sie nicht mehr einzeln für sich produzieren, sondern eine Wirtschaftsgemeinschaft bilden. Um als Ökodorf offiziell anerkannt zu werden, müssen bestimmte Kriterien erfüllt sein. Ein Kriterium ist der sogenannte ökologische Fußabdruck.


DJI Impulse: Der ökologische Fußabdruck beschreibt den Ressourcenverbrauch einer Person in einer Zahl: Alles, was ein Mensch zum Leben braucht, zum Beispiel Nahrung, Kleidung und Energie, wird umgerechnet auf die Fläche, die notwendig ist, um die Rohstoffe und Energie dafür herzustellen. Laut dem "Living Planet Report" des WWF bräuchten die Deutschen im Durchschnitt fast drei Erden, um ihren derzeitigen Lebensstandard zu decken.

Grundmann: Die Menschen in einem Ökodorf praktizieren eine humane und umsichtige Art des gemeinsamen Lebens. Dabei geht es nicht um eine Rückkehr zu den Wurzeln nach dem Motto "ab ins Mittelalter". Ökodörfer wurden deswegen von den Vereinten Nationen ausgezeichnet, weil sie die unterschiedlichen Aspekte in ihren wechselseitigen Wirkungsweisen im Auge haben. Das heißt, der einzelne Mensch ist nicht allein, sondern er ist eingebunden in einen kommunalen Prozess, und diese Kommune wiederum ist eingebettet in einen regionalen Zusammenhang. Das ist ein Gegenentwurf zu einer privaten Lebens- und Wirtschaftsform. In intentionalen Gemeinschaften ist der Gedanke eines gemeinschaftlichen Lebens noch stärker ausgeprägt. Dort gibt es zum Beispiel gemeinschaftliche Wohnhäuser, während in Ökodörfern auch Privathaushalte vorkommen können. In einem Ökodorf dominiert das ökologische, gesunde und nachhaltige Leben noch stärker als in einer intentionalen Gemeinschaft.


DJI Impulse: Können Sie abschätzen, wie viele Ökodörfer es in Deutschland oder weltweit gibt?

Grundmann: Viele Ökodörfer vernetzen sich miteinander in dem weltweiten Netzwerk "Global Ecovillage Network". Manche sind dort aber nicht aufgeführt, weil sie entweder nichts von dem Netzwerk wissen oder weil ihr Alltag ein Engagement dafür erschwert. Gerade die Ökodörfer in den Schwellenländern, beispielsweise in Asien oder Afrika, haben kaum die Ressourcen dafür, um sich zu vernetzen. Aus diesen Gründen ist es sehr schwierig, realistische Zahlen zu nennen. Organisierte Ökodörfer gibt es in Deutschland etwa 20, weltweit vielleicht 2.000.


DJI Impulse: In Ökodörfern wird großer Wert gelegt auf die Nachhaltigkeit, in intentionalen Gemeinschaften ist der Gemeinschaftsgedanke sehr wichtig. Worin unterscheiden sich diese alternativen Lebensformen noch voneinander?

Grundmann: Intentionale Gemeinschaften können ebenfalls in Form eines Dorfes bestehen. Aber der dahinter stehende Gedanke ist zunächst einmal die erklärte Absicht, gemeinsam miteinander zu leben. Die Grundstruktur einer intentionalen Gemeinschaft sieht folgendermaßen aus: Menschen tauschen sich aus und lassen sich gegenseitig Hilfe zukommen in Bezug auf Eigentum, Ressourcen und Produktionsweisen. Sie verstehen sich als eine Gesinnungsgruppe. Sie wohnen zusammen und sind sich emotional und kommunikativ nah. Wirtschaftlich kann das auch bedeuten, eine gemeinsame Kasse zu führen, in die alle das gleiche Geld einbezahlen und in der alles, was sie tun, aufeinander bezogen ist. Intentionale Gemeinschaften sind aber keine Erfindung der 1970er-Jahre, diese Idee gibt es schon seit der Aufklärung. Die ersten Gemeinschaften wie "Monte Veritas" gründeten sich schon in den 1830er-Jahren. Auch im Bereich der sozialtherapeutischen Arbeit gibt es einige intentionale Gemeinschaften, die schon seit über 100 Jahren bestehen. Und natürlich gibt es schon länger christliche intentionale Gemeinschaften in Deutschland: zum Beispiel Klöster, die meistens auch in ihrem Wirtschaften nachhaltig sind.


DJI Impulse: Wie finanzieren sich intentionale Gemeinschaften?

Grundmann: Ganz unterschiedlich. In den meisten Fällen über eigene landwirtschaftliche Betriebe oder freischaffend zum Beispiel im psychosozialen oder therapeutischen Bereich. Die Gemeinschaft "Stiftung Synanon" in Berlin zum Beispiel arbeitet im Bereich des Drogenentzugs. Viele christliche Gemeinschaften, die keine Klöster sind, sind Lebensgemeinschaften, die sich der Kranken- oder Altenpflege oder der sozialen Arbeit verschrieben haben. Bei anderen Gemeinschaften mischt sich das. Sie sind Produzenten oder Dienstleister in ganz unterschiedlichen Formen. Die meisten dieser Gemeinschaften haben eine Mischfinanzierung: Einnahmen durch Dienstleistungen, durch Seminare im Bereich der Erwachsenenbildung, durch die Einnahmen ihrer Mitglieder, die Freischaffende oder Angestellte sind, aber auch Hartz IV-Empfänger sein können. Auch Erbschaften fließen in die Finanzierung ein. Das Entscheidende ist - wie auch bei den Ökodörfern - der Kreislaufgedanke. Insofern sind auch intentionale Gemeinschaften meist dem Gedanken der Nachhaltigkeit verpflichtet. Es gibt dabei eine riesige Vielfalt.


DJI Impulse: Wenn diese Gemeinschaften so vielfältig sind, kann man dann überhaupt sagen, welcher Typ oder welcher Schlag Mensch dorthin zieht?

Grundmann: Ja. Das sind - politisch gesprochen - meist die sogenannten Kulturkreativen. Im Wesentlichen ist das die obere Mittelschicht und seltener auch Arbeitermilieus, die zum Teil an intentionalen Gemeinschaften mitwirken, zum Beispiel in Form von Kooperativen. Wenn man der Definition der Sinus-Studien folgt, kommen diese Menschen meist aus dem liberal-intellektuellen Milieu, dem sozialökologischen Milieu und aus der bürgerlichen Mitte. Sie sind aufstiegsorientiert und kulturell gebildet. Grob gesagt sind es diese drei Milieus, die sich besonders häufig Ökodörfern oder intentionalen Gemeinschaften anschließen. Sie sind dazu bereit, sich aus traditionellen oder eingefahrenen Lebensführungsmodellen zu lösen.


DJI Impulse: Was motiviert diese Menschen, sich einer nicht-traditionellen Lebensgemeinschaft anzuschließen?

Grundmann: Die Art der Lebensführung. In diesen Gemeinschaften herrscht eine Art von Verbundenheit und Solidarität, die das Gefühl des Entfremdet-Seins abmildert. Die individuellen Lebensführungsprozesse sind weniger fremdbestimmt.


DJI Impulse: Der Gedanke einer nachhaltigen Lebensführung ist also nachgeordnet, es geht in erster Linie um das Eingebundensein in eine Gemeinschaft?

Grundmann: Ja, davon bin ich fest überzeugt. Die Nachhaltigkeit ist nur ein Resultat dieser Art von Lebensführung. Nicht nur in intentionalen Gemeinschaften, sondern auch in Ökodörfern ist der Gemeinschaftsgedanke sehr wichtig. Unsere individualisierte Gesellschaft stärkt das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Verbundenheit. Allerdings betrachten wir diese Lebensmodelle meist aus einer eurozentrischen Perspektive: In anderen Kulturkreisen, etwa in Asien oder in Afrika, ist das nicht gegeben. Da ist Gemeinschaft so normal und alltäglich, dass die Menschen überhaupt nicht darüber reden oder darüber nachdenken müssen.


DJI Impulse: Könnten intentionale Gemeinschaften oder Ökodörfer für eine größere Gruppe der Gesellschaft ein Alternativmodell zu den derzeit "normalen" Lebensformen sein?

Grundmann: Menschen können ihre ganze Kraft für ein Projekt nur dann einbringen, wenn sie sich entsprechend ihres Naturells bewegen können. Manche Menschen brauchen ihren Privatraum, für sie kommt ein Gemeinschaftsmodell nicht in Frage. Von den Prinzipien des Kreislaufdenkens her allerdings glaube ich, dass es auf eine größere Gruppe der Gesellschaft übertragbar sein könnte. Dafür bräuchte man aber eine andere Wirtschaftsethik und eine gemeinwohlorientierte Form des Wirtschaftens. Das ist nicht unbedingt ein Gegenmodell zum Kapitalismus, aber ein Gegenmodell zu dem System, in dem Privatpersonen den Mehrwert des Wirtschaftens abschöpfen. In unserem Wirtschaftssystem denkt derzeit jeder nur an sich. Allerdings gibt es ja schon Bestrebungen in der Gesellschaft, die dem entgegen wirken: Man denke etwa an den Erfolg der Tauschbörsen, an Nachbarschaftshilfe, Second Hand-Läden oder Gemeinschaftswerkstätten - das ist eine politische Kultur, in die die Praktiken des Ökodorfs bereits eingeflossen sind. Ich denke, dass die Gesellschaft viel lernen kann von intentionalen Gemeinschaften, aber dass diese trotzdem keine Generallösung sind für das Glück der Menschen.


DJI Impulse: Ist dieser Ansatz, die Gesellschaft von unten her zu verändern, vielversprechender als politische Strategien wie beispielsweise die bereits angesprochene "Agenda 21"?

Grundmann: Ich denke schon, weil diese Veränderungen von unten besser und nachhaltiger wirken. Es braucht allerdings beides, Veränderungen von oben und von unten.


ZUR PERSON

Prof. Dr. Matthias Grundmann ist seit dem Jahr 2000 Professor für Soziologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Davor war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung. Seine Forschungsschwerpunkte sind Sozialstruktur und Sozialisation, die sozialökologische Bildungsforschung, individuelle Entwicklung und Lebensführung in sozialen Kontexten sowie die Soziologie sozialer Beziehungen, von Vergemeinschaftungsprozessen und sozialer Nachhaltigkeit.


DJI Impulse 4/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014
- Nr. 108, S. 27-29
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
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Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert
werden unter vontz@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Juli 2015

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