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FRAGEN/006: Prof. Dr. Stefan Hradil - "Singles sind out" (DJI Impulse)


DJI Impulse
Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014 - Nr. 108

"Singles sind out"
Interview mit Prof. Dr. Stefan Hradil

Von Benjamin Klaußner


Sie leben in Großstädten, verdienen häufig gut und haben viele Freunde. Gleichzeitig fühlen sich Singles öfter einsam und sie haben mehr Angst vor dem Älterwerden als Menschen, die in einer Partnerschaft leben. Warum Singles heute nicht mehr "in" sind, erklärt der Gesellschaftsforscher Prof. Dr. Stefan Hradil.


DJI Impulse: Herr Professor Hradil, Sie haben das Leben als Single einmal als "eine riskante Lebensform" bezeichnet. Warum?

Prof. Dr. Stefan Hradil: Es ist in mehrfacher Hinsicht riskant. Wenn man Singles als partnerlos allein Lebende versteht, tritt das größte Problem dann auf, wenn sie älter werden. Wer älter wird, wird früher oder später hilfsbedürftig, vielleicht sogar einmal pflegebedürftig. Für jemanden, der niemanden im eigenen Haushalt hat, ist es schwierig, diese Hilfe zu bekommen oder gar gepflegt zu werden. Das belastet viele Singles sehr. Ein weiterer riskanter Faktor ist etwas ganz anderes: Die psychische Situation der meisten Singles ist in einem eher labilen Gleichgewicht. Viele Singles sind hin- und hergerissen zwischen der Sehnsucht nach Gemeinschaft auf der einen und dem Streben nach Autonomie auf der anderen Seite. Das kann man natürlich austarieren, aber das Risiko besteht darin, dass es Ausschläge gibt: An Sonntagen, Feiertagen oder an Weihnachten erleben viele Singles ihre schwierigen und depressiven Phasen - sofern sie nicht in den Schoß der Familie zurückkehren können. Und das dritte Risiko hat wieder etwas mit dem Alter zu tun: Wer lange allein lebt und sich beobachtet, wird merken, dass er in mancher Hinsicht schrullig wird und nicht mehr unbedingt gemeinschaftstauglich ist. Dieses Risiko kann man natürlich abfedern durch Außenkontakte und Selbstreflektion.


DJI Impulse: Wie viele Singles gibt es eigentlich in Deutschland? Eine Partnervermittlungsbörse behauptete nach einer Umfrage aus dem Jahr 2013, dass fast ein Drittel der Deutschen partnerlos ist. Laut Mikrozensus leben etwa 20 Prozent der Deutschen allein - was allerdings nichts über ihren Beziehungsstatus aussagt.

Hradil: Wenn man unter Singles partnerlose Menschen versteht, ist es natürlich schwieriger, deren Zahl festzustellen, als wenn man unter Singles Alleinlebende in einem Einpersonenhaushalt versteht. Was Partnerlosigkeit ist, überlässt man bei Umfragen in der Regel der Einschätzung der Befragten. Dabei gehen die Maßstäbe stark auseinander: Ob man eine geheim gehaltene Liebschaft als Partner definiert, ist sehr unterschiedlich. Grob geschätzt könnte man sagen, dass etwa ein Drittel der Alleinlebenden einen Partner haben. Ihre Anzahl ist in den letzten Jahren auf jeden Fall gestiegen.


DJI Impulse: Das ergäbe dann etwa 10 Millionen Singles in Deutschland. Sind denn die meisten Singles noch auf der Suche nach einem Partner oder einer Partnerin?

Hradil: Es ist falsch zu glauben, dass alle Singles aktiv auf Partnersuche seien. In klischeehaften Filmen wird das zwar vermittelt, aber es stimmt nicht. Ungefähr 40 Prozent der Single-Männer und weniger als 20 Prozent der Single-Frauen sind aktiv auf Partnersuche.


DJI Impulse: Wie viele Singles haben sich bewusst dafür entschieden, allein zu leben?

Hradil: Den Typ des Singles, der sagt, "das Alleinleben war schon immer mein Ding", mag es geben - aber nur sehr selten. Die krasse Minderheit hat sich aus freien Stücken dafür entschieden. Der Anlass, Single zu werden, ist in der überwiegenden Mehrheit ein negativer. Das bedeutet: Scheidungen oder gescheiterte Beziehungen. Das heißt natürlich nicht, dass Singles ihr Leben in einem Jammertal verbringen. Sie leiden nicht unbedingt darunter oder fühlen sich einsam. Die Mehrheit von ihnen arrangiert sich mit dem Alleinsein relativ gut. Das bedeutet allerdings nicht unbedingt, dass sie damit glücklich sind.


DJI Impulse: Singles sind unglücklicher, kränker und sterben früher als Menschen in einer Beziehung. So zumindest lauten Klischees, die auch durch wissenschaftliche Studien gestützt werden. Mehrere aktuelle Untersuchungen widersprechen dem: Die University of Texas in Austin (USA) etwa fand heraus, dass der Gesundheitszustand von Singles besser ist als der Verheirateter. Forscherinnen und Forscher von der Universität Rotterdam entdeckten, dass Alleinstehende gesünder und glücklicher sind. Stimmen die Klischees nicht?

Hradil: Singles sind nicht unglücklicher als Verheiratete. Sie sind eine sehr unterschiedliche Bevölkerungsgruppe, von der der Großteil keineswegs unglücklich ist. Allerdings sind sie im Schnitt etwas einsamer als der Durchschnitt der Bevölkerung. Ob Singles kränker sind, ist eine interessante Frage. Nach meiner Kenntnis waren die Forschungsergebnisse in dieser Hinsicht nie eindeutig. Mitte der 1990er-Jahre recherchierte ich gemeinsam mit einem Kollegen für ein Gutachten. Wir fanden heraus, dass Singles nicht kränker, sondern gesünder waren - also das Gegenteil von dem, was besonders Studien aus den USA nahelegten. Und wir waren damals nicht die Einzigen, die zu diesem Ergebnis kamen. Ich denke, dass die Ergebnisse damals wie heute uneindeutig sind.


DJI Impulse: Wie würden Sie den typischen deutschen Single beschreiben? Wo lebt er, und in welchen Berufsgruppen ist er besonders häufig anzutreffen?

Hradil: Den "typischen Single" gibt es nicht. Was man sagen kann ist, dass Singles Großstadtpflanzen sind. Alleinlebende ohne Partner sind weit überrepräsentiert in Großstädten. Das lässt sich leicht erklären: Dort finden sie die Infrastruktur, die sie brauchen. Das beginnt bei den Einkaufsmöglichkeiten und Gaststätten und geht weiter bei den Freunden, die dort relativ nah wohnen, bis hin zum kulturellen Angebot. Und natürlich sind Singles im großstädtischen Milieu heutzutage akzeptiert. Man kann nicht umgekehrt sagen, dass sie auf dem Land nicht akzeptiert wären, aber die Reserviertheit besonders gegenüber weiblichen Singles ist auf dem Land noch etwas größer. Alle anderen Kriterien gehen sehr stark auseinander. Das beginnt schon bei der materiellen Situation: Ein Großteil der Singles, fast alle weiblichen Singles, sind finanziell gut gestellt. Ihre Qualifikation ist meist überdurchschnittlich. Etwa ein Viertel der männlichen Alleinstehenden sind allerdings "Problemsingles", die dafür sorgen, dass die Armutsquote der Singles überdurchschnittlich hoch ist. Auch was die Mentalität angeht, kann man nicht von einem "typischen Single" sprechen: Man findet autonomieorientierte Singles, partnerschaftsorientierte Singles, kinderorientierte Singles und andere.


DJI Impulse: Männer sind häufiger "Problemsingles" als Frauen. Die Zahl der männlichen Alleinlebenden ist laut Mikrozensus in den Jahren 1991 bis 2011 um unglaubliche 81 Prozent angestiegen. Warum gelingt es Männern deutlich seltener als Frauen, in einer stabilen Partnerschaft zu leben?

Hradil: Das ist nicht einfach zu beantworten. Die Scheidungen nehmen zu, Partnerschaften werden schwieriger, weil die Ansprüche an die berufliche Karriere beider Partner und an die Selbstverwirklichung gestiegen sind. Das ist nicht nur für Männer ein Problem. Aber sie können damit vielleicht schlechter umgehen. Männer sind das schwache Geschlecht, was die Kommunikation, den Umgang mit ihren Gefühlen und Aushandlungsprozesse zwischen den Partnern betrifft. Allerdings hat sich natürlich auch etwas anderes verändert: Frauen sind weniger tolerant geworden, was Macken von Männern betrifft. Ein gewisses autoritäres Verhalten von Männern zum Beispiel dulden Frauen nicht mehr. Das könnte ein Grund dafür sein, dass es Männer heute etwas schwerer haben als Frauen, sich in Partnerschaften zu finden, und sie deshalb häufiger allein leben. Allerdings wissen wir aus der Scheidungsforschung, dass es Männern schwerer fällt als Frauen, allein zu leben.


DJI Impulse: Ob Mann oder Frau - ist das Single-Leben einfacher und stressfreier geworden, weil sie nicht mehr so stark diskriminiert werden wie noch vor einigen Jahrzehnten?

Hradil: Jein. Natürlich sind die großen Vorurteile weitgehend vorbei. Allerdings ist auch die Hoch-Zeit der Bewunderung von Singles vorbei. In den 1980er- und 1990er-Jahren, auf dem Höhepunkt der Selbstverwirklichungs- und der Individualisierungswelle, war Single-Sein "in". Heute wird das Single-Dasein kaum noch bewundert. Die Leitfigur ist inzwischen ganz eindeutig das Elternpaar mit kleinen Kindern auf dem Arm und keineswegs der Single, der - polemisch gesprochen - von der Dachterrasse seiner Wohnung auf sein Cabrio blickt. Das hat mit der demografischen Situation zu tun, aber auch mit einer gewissen kulturellen Pendelbewegung: Wenn früher die Menschen immer mehr Ressourcen wie Geld, Wohnung oder Bildung für sich allein und ihre eigene Verwirklichung nutzten, erscheint es heute angebrachter, eine Balance zwischen dem "ich" und dem "wir" zu schaffen. Dazu kommen heute recht massive Vorwürfe wie zum Beispiel der des "Sozialschmarotzers", mit denen sich Singles auseinandersetzen müssen. Diese Vorwürfe sind natürlich nicht immer berechtigt, aber der Generalverdacht, egoistisch zu sein, macht ihr Leben dennoch nicht einfach.


DJI Impulse: Was könnte man denjenigen entgegnen, die behaupten, dass Singles "Schmarotzer" seien, da sie sich nicht am Generationenvertrag beteiligen?

Hradil: Zunächst einmal ganz banal: Ein erheblicher Teil der Singles hat Kinder - sie beteiligen sich also am Generationenvertrag. Ein weiteres Argument dagegen ist, dass die meisten Singles beruflich außerordentlich aktiv sind. Das heißt, sie zahlen viele Steuern und sind dadurch überproportionale zivile Leistungsträger. Zudem sind Singles gute Konsumenten, sie kaufen häufig ästhetisch anspruchsvolle Produkte. Auch unser Wirtschaftssystem freut sich über Singles: Der Kapitalismus in seiner derzeitigen Form benötigt flexible Arbeitnehmer, wozu Singles besser geeignet sind als Menschen mit Familie. Ein letzter Punkt gegen das Sozialschmarotzer-Vorurteil ist, dass Singles in Vereinen und Bürgerinitiativen überrepräsentiert sind. Das mag auch daran liegen, dass sie kontaktfreudiger und kontaktbedürftiger sind, aber es spricht eindeutig gegen das Bild des egomanen Singles.


DJI Impulse: Singles sind kontaktfreudiger und haben deshalb meist größere soziale Netzwerke als Paare. Können Freunde die Familie ersetzen?

Hradil: Singles haben in der Tat größere Netzwerke als Menschen, die in einer Partnerschaft oder in einer Familie leben. Sie investieren sehr viel Zeit und Kraft in die Pflege von Netzwerken. Das lässt sich sehr leicht erklären: Sie brauchen größere Netzwerke für ihre Kommunikation, ihre Freizeitgestaltung, für alltägliche Hilfeleistungen oder eventuell auch für sexuelle Kontakte. Dennoch haben diese Netzwerke einen anderen Stellenwert als die Familie.


DJI Impulse: Kann man sich auf den Freundes- und Bekanntenkreis im Ernstfall weniger verlassen als auf die Familie?

Hradil: Ja, das ist empirisch belegt: Im Ernstfall trägt nur die Familie. Wenn Sie zwei Wochen krank sind und jemanden brauchen, der Sie besucht und für Sie einkauft, ist das kein Problem. Dann trägt das Netzwerk der Freunde. Auch dann, wenn Sie sich 100 Euro leihen wollen. Aber sollten Sie ein halbes Jahr lang pflegebedürftig sein oder 10.000 Euro brauchen, dann bröckeln die meisten sozialen Netzwerke. Singles wissen das und bereiten sich darauf vor. Sie achten auf sich und investieren in Ideen, wie sie das gerade im Alter auffangen können.


DJI Impulse: Zum Beispiel durch alternative Wohnprojekte wie "Alten-WGs"?

Hradil: Ja, zum Beispiel. Die Zahl der originären Alten-WGs hält sich dennoch in engen Grenzen. Es liegt häufig an juristischen oder vertraglichen Problemen, die dazu führen, dass Alten-WGs nicht funktionieren. Man könnte meinen, das seien sture alte Leute, die sich nicht mehr zusammenfinden wollen. Aber das ist oft weniger das Problem als zum Beispiel die Frage, wie das gemeinsame Haus finanziert und aufgeteilt werden soll. Aus diesem Grund gibt es weniger die Alten-WGs und häufiger "weichere" Formen des gemeinsamen Lebens, zum Beispiel dadurch, dass Nachbarschaften sehr intensiv geführt werden. Häufig kommt es zu Alterspartnerschaften, oder alte Menschen ziehen in die Nähe von Familienangehörigen.


ZUR PERSON

Prof. Dr. Stefan Hradil war Professor für Soziologie an der Universität Bamberg und von 1991 bis 2011 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Die Universität für Wirtschaftswissenschaften Budapest verlieh ihm 1994 den Dr. h.c. sc. oec. Von 1995 bis 1998 war er Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (DGS). Seit 2006 ist er Mitglied, seit 2013 Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz. Stefan Hradil untersucht die Struktur und Entwicklung moderner Gesellschaften, insbesondere deren Sozialstruktur, auch im internationalen Vergleich, sowie soziale Ungleichheit, soziale Milieus und Lebensstile, Singles und die demografische und gesellschaftliche Zukunft Deutschlands.


DJI Impulse 4/2014 - Das komplette Heft finden Sie im Internet als PDF-Datei unter:
www.dji.de/impulse

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Quelle:
DJI Impulse - Das Bulletin des Deutschen Jugendinstituts 4/2014 - Nr. 108, S. 7-9
Herausgeber: Deutsches Jugendinstitut e.V.
Nockherstraße 2, 81541 München
Telefon: 089/623 06-140, Fax: 089/623 06-265
E-Mail: info@dji.de
Internet: www.dji.de
 
DJI Impulse erscheint viermal im Jahr.
Die Hefte können kostenlos bestellt und auf Wunsch auch abonniert
werden unter vontz@dji.de.


veröffentlicht im Schattenblick zum 23. Juni 2015

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