Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → SOZIOLOGIE

FRAGEN/004: "Die Gesellschaft wird sich das nicht gefallen lassen" - Gespräch mit Wolfgang Streeck (NG/FH)


Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012

DER KAPITALISMUS UND SEINE KRITIK
Gespräch mit Wolfgang Streeck
"Die Gesellschaft wird sich das nicht gefallen lassen"

Die Fragen stellte Thomas Meyer



Wolfgang Streeck ist Geschäftsführender Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln und Professor für Soziologie an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität zu Köln. Sein Hauptforschungsthema ist das Spannungsverhältnis zwischen demokratischer Politik und kapitalistischer Wirtschaft. In seinem Buch "Re-Forming Capitalism" analysiert er u.a. die permanenten Versuche des Marktes und seiner Akteure, die Errungenschaften der Sozialen Demokratie rückgängig zu machen und die Gegenreaktion der Gesellschaft.


NG/FH: Sie haben kürzlich zwei verschiedene konzeptionelle Analysen vorgelegt, die offenbar zwei Seiten derselben Medaille darstellen. Damit werden die Debatten zum Thema "kapitalistische Demokratie" und Finanzkrise neu strukturiert. Der eine Strang bezieht sich darauf, wie der regulierte Kapitalismus hierzulande schrittweise wieder dereguliert, re-liberalisiert wird. Der andere Strang versucht nachzuweisen, dass sich die ökonomischen Möglichkeiten für den sozialdemokratischen Kompromiss, der der kapitalistischen Demokratie zugrunde liegt, in der gegenwärtigen Finanzkrise erschöpft haben. Beginnen wir mit Ihrer Analyse Desorganisation des ehedem organisierten Rheinischen Kapitalismus. Was ist der Kern dieser Analyse und inwieweit ist durch die neuen Entwicklungen der Rheinische Kapitalismus destruiert, an ein Ende gekommen? Ist das eine graduelle Veränderung oder doch eine qualitative Überwindung dieses Systems?

Wolfgang Streeck: In der bekannten Theorietradition schlägt ja graduelle Transformation irgendwann in qualitative um. Das sehen wir hier auch. In den 70er Jahren hat noch jeder geglaubt, der Kapitalismus sei nach dem Krieg domestiziert worden, durch die Beteiligung von Gewerkschaften und Sozialdemokraten; dass er zu einem "modernen Kapitalismus" oder einer "Mixed Economy" geworden sei. Die 70er Jahre waren dann charakterisiert durch einen "profit squeeze" in der gesamten entwickelten kapitalistischen Welt. In dieser Zeit hat sich die Geduld des kapitalistischen "Raubtieres" mit seinem sozialdemokratischen "Käfig" erschöpft. Von da an spätestens wollte es da raus und daran arbeitet es seit 30 Jahren. Das geht zunächst graduell, aber dabei werden immer mehr der Nachkriegsversprechungen und Garantien widerrufen, mit denen man der damals mächtigen Arbeiterklasse den Kapitalismus als eine automatisierte Wohlstandsproduktionsmaschine verkauft hat.

Was war versprochen worden? Konjunkturzyklen und Krisen sollte es nicht mehr geben; die glaubte man mit Keynes beherrschen zu können. Das bedeutete politisch garantierte Vollbeschäftigung, auch weil es allgemeine Ansicht war, dass Arbeitslosigkeit von mehr als 1 oder 2% das Ende von Demokratie und sozialem Frieden bedeuten würde. Weiter zum Paket gehörten Beschäftigungsschutz und -sicherheit, gewährleistet durch umfassende Vertretung aller Arbeitnehmer durch starke Gewerkschaften und Mitbestimmung bei den Entscheidungen der großen Unternehmen. Hinzu kamen ein großer öffentlicher Sektor mit vielen gesicherten Arbeitsplätzen, als Modell für die Privatwirtschaft, eine staatliche Sozialpolitik, die die Lebenschancen der Menschen so weit wie möglich gegenüber den Wechselfällen des Marktes absichern und ein hohes Maß an sozialer Gleichheit herbeiführen sollte, und nicht zu vergessen stetiges wirtschaftliches Wachstum mit gesicherten Aufstiegsmöglichkeiten für die nächste Generation. Das war, mit gewissen nationalen Modifikationen, das Programm nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa und, nicht zu vergessen, den USA. Alles dies ist in den Jahrzehnten nach den 70er Jahren langsam schrittweise zurückgenommen worden, im Prinzip ebenfalls weltweit. In meinem Buch Re-Forming Capitalism zeige ich anhand von fünf Entwicklungslinien des institutionellen Wandels in der Bundesrepublik, wie verschiedene sich gegenseitig verstärkende Liberalisierungsprozesse sich immer weiter durchgesetzt haben.

NG/FH: Kann man sagen, dass das in unterschiedlichen Abstufungen in allen Varianten des regulierten Kapitalismus so passiert ist und heißt das, dass die Theorie der "Spielarten des Kapitalismus", nach der es ganz verschiedene Kapitalismustypen gibt, nicht mehr stimmt?

Streeck: Die hat so nie gestimmt. Ich war ja selbst in den 80er Jahren an der Entstehung dieser Denkrichtung beteiligt, als unterschiedliche Länder unterschiedlich auf die damalige Umstrukturierung der kapitalistischen Wirtschaft reagierten. Deutschland wurde damals für eine gewisse Zeit zum Modell einer Reaktionsweise, die wir "diversified quality production" genannt haben. Dabei kamen hohe Löhne, breite betriebliche Qualifikationen, Beschäftigungsstabilität und Mitbestimmung zusammen mit einer spezifisch deutschen Ingenieurstradition, die es ermöglichte, den Industrialisierungsgrad der deutschen Volkswirtschaft durch Exporterfolge zu verteidigen. Anfangs haben die neustrukturierten industriellen Kerne ein hohes Maß an sozialem Ausgleich finanziert, was sich in einer im Vergleich außerordentlich niedrigen sozialen Ungleichheit niederschlug. In der Folge aber wurden diese Kerne kleiner und konnten oder wollten den sozialen Ausgleich nicht mehr tragen. Heute sprechen wir von einem tiefgehenden Dualismus, einer Zweiteilung der deutschen Gesellschaft in einen schrumpfenden Kern und einen wachsenden Rand. Nirgendwo in den OECD-Ländern hat die soziale Ungleichheit in den letzten Jahren so zugenommen wie in Deutschland, und in Bezug auf das Armutsniveau sind wir auf den Durchschnitt der OECD-Länder zurückgefallen.

NG/FH: Sie stützen sich ja auf das Konzept von Karl Polanyi. Danach gibt es eine Pendelbewegung: Wenn der Kapitalismus längere Zeit destruktiv genug gewirkt hat, wehrt sich die Gesellschaft, baut soziale Rahmenbedingungen und Regulative auf, bettet den Kapitalismus politisch und ökonomisch ein. Sobald ein bestimmter Punkt an Einbettung erreicht ist, beginnen die kapitalistischen Akteure an diesem "Käfig" zu rütteln. Es folgt eine Pendelbewegung rückwärts in Richtung Desorganisation, Re-Liberalisierung. Was sind aber die tieferen Ursachen dafür, dass diese Pendelbewegung jetzt so weit zurückschlägt? Drei Ursachen kommen ja in Betracht: die "Ermüdung" der Kräfte der sozialen Einbettung, die Globalisierung, die diese Kräfte schwächt und das Ende des Ost-West-Gegensatzes mit seinen legitimatorischen Zwängen auf den Kapitalismus.

Streeck: Jede wichtige historische Entwicklung ist überdeterminiert: Es gibt immer mehrere Faktoren, die eine Rolle spielen. Der Zerfall des Nachkriegskompromisses zwischen Arbeit und Kapital hat schon früh angefangen und durchlief verschiedene Phasen, in denen auf unterschiedliche Weise versucht wurde, Zwischenlösungen zu finden und dem System, wenn man so will, einen Aufschub zu erwirken. In den 70er Jahren, kurz nach dem Ende der Wiederaufbauphase, war die Arbeiterklasse in den entwickelten kapitalistischen Gesellschaften noch stark genug, Lohnerhöhungen auszuhandeln, die über den Produktivitätszuwachs hinausgingen, in dem Bestreben, nicht auf eine Umverteilungskomponente in der Lohnpolitik verzichten zu müssen. Daraufhin machten die Regierungen, die sich gezwungen glaubten, Arbeitslosigkeit um jeden Preis verhindern zu müssen, eine lockere Geldpolitik. Das führte zu hoher Inflation, in Deutschland weniger als im Rest der kapitalistischen Welt, weil am Ende der Ära Brandt, nach den 10% Lohnerhöhung 1974, die Bundesbank auf Monetarismus umgestellt hatte, ein halbes Jahrzehnt vor Thatcher und Reagan.

In den 80er Jahren versuchte man dann, von der Inflation herunterzukommen, getrieben von den USA, wo Paul Volcker als Präsident der Zentralbank, noch von Garter eingesetzt, die Zinsen auf astronomische Höhen trieb. Ergebnis war eine gewaltige De-Industrialisierung in den Vereinigten Staaten, die mit riesigen Haushaltsdefiziten und einem rasanten Anstieg der Staatsverschuldung einherging. Auch dies hatte Parallelen in den anderen kapitalistischen Demokratien, wo staatliche Schuldenaufnahme an die Stelle staatlichen Gelddruckens trat. Freilich ließ sich auch das nicht ewig durchhalten, und in den 90er Jahren begann eine erste, wiederum weltweite, Welle von Versuchen der Konsolidierung der öffentlichen Haushalte. Allerdings musste nun ein weiteres Mal ein Ausgleich für stagnierendes Wachstum, zunehmende soziale Ungleichheit und sinkende Reallöhne gefunden werden. In vielen Ländern bestand dieser in einer Ausweitung der Verschuldungsmöglichkeiten der privaten Haushalte, als Ersatz für öffentliche Verschuldung. Das lenkte den Akkumulationsprozess, vor allem in den USA, weg von der Industrie. Die Folge war ein enormes Wachstum des Finanzsektors, der sich zum globalen Finanzsektor ausweitete. Als der dann 2008 auch noch zusammenbrach, mussten die Staaten die faulen Kredite, die sie zur Beruhigung ihrer Bürger zugelassen hatten, sozialisieren. Und jetzt lautet die Preisfrage: Was soll in Zukunft als Ausgleich für die demokratischen Lieferschwierigkeiten des Kapitalismus an die Stelle von Wachstum treten, nachdem Inflation, Staatsverschuldung und Privatverschuldung sich erschöpft haben?

NG/FH: Da sind wir beim zweiten Strang Ihrer Analyse. Der erste Strang endet ja ziemlich radikal mit der Diagnose: Der Kapitalismus ist zurück in der Realität, nun sollten wir ihn auch in unsere theoretischen Debatten zurückbringen. Im zweiten Strang untersuchen Sie die Bedingungen des sozialdemokratischen Kompromisses: Wie kann eine Arbeiterklasse dazu gebracht werden, diesen Kapitalismus zu akzeptieren? Der historische sozialdemokratische Kompromiss lautet ja: Wir akzeptieren Marktwirtschaft, Privateigentum und parlamentarische Demokratie und bekommen dafür sozialstaatliche Sicherung, hohe Löhne, ein gewisses Maß an Teilhabe. Nacheinander sind seit den 70er Jahren die unterschiedlichen Ausprägungen in die Krise geraten und jetzt haben sich mit der Schuldenkrise des Staates und seiner Abhängigkeit von den Finanzmärkten seine Möglichkeiten erschöpft. Die Wähler müssen die Finanzmärkte finanziell bedienen, die Verteilungsspielräume schrumpfen. Man kann sich jetzt eigentlich gar nicht vorstellen, was für eine Art von Kompromiss nun noch kommt, wir sind in einer Sackgasse. Ist jetzt der Kapitalismus, wenn man nun diese beiden Stränge zusammenführt, sozusagen an allen Fronten in der Sackgasse und wir sehen keinen Ausweg?

Streeck: Mit ihrer Interpretation kann man beginnen und dann schauen, was zu modifizieren ist. Zunächst muss man feststellen, dass die traditionell sozialdemokratischen Parteien schon seit einiger Zeit völlig ratlos dem gegenüber stehen, was da gerade passiert. Ich sehe nicht, dass da irgendjemand auf eine konstruktive Idee käme.

NG/FH: Seit wann?

Streeck: Sehr wichtig war die Erfahrung der Blair-Regierung, die erfolglos versucht hat, mit ihrem "Dritten Weg" auf dem Tiger zu reiten. Großbritannien unter Blair war das einzige größere Land in den 90er Jahren, in dem die Ausgaben für Sozialpolitik - eine "investive" Sozialpolitik, wie andere sie nachzumachen versucht haben - gestiegen sind. Zugleich aber hat die Staatsverschuldung zugenommen, weil die Besteuerbarkeit der "globalisierten" britischen Wirtschaft zurückgegangen war. Um überhaupt an Geld zu kommen, musste man den gewaltigen Finanzsektor fördern, der dann das ganze Land in den Abgrund gerissen hat. England braucht diesen Finanzsektor, weil es genauso deindustrialisiert ist wie die USA, wenn nicht mehr. Von ihm kamen die Steuern, die Gewinne und das gute Leben in London. Wir wissen mittlerweile: Je größer der Finanzsektor in einem Land, desto größer die Fiskalkrisen nach einer Finanzkrise. Die Blair-Regierung war in meinen Augen der letzte Versuch, auf den bereits liberalisierten Kapitalismus eine sozialdemokratische Komponente zu setzen. Sein Scheitern hat paradigmatische Bedeutung für den Rest der sozialdemokratischen Parteien.

NG/FH: Gilt das auch für Schweden?

Streeck: Schweden ist ein hochinteressanter Fall. 1995 hatte das Land eine riesige Finanz- und Fiskalkrise mit einer Staatsverschuldung jenseits dessen, was es selbst in Amerika gegeben hat. Dann haben konservative und sozialdemokratische Regierungen saniert. Mittlerweile ist die Steuerquote in Schweden kontinuierlich gesunken und liegt heute nur noch leicht über der französischen. Die Arbeitslosigkeit ist gestiegen; die strukturelle Arbeitslosigkeit in Schweden liegt heute bei 7 bis 8%. Der Unterschied in den Einkommen, zwischen "oben" und "unten", ist in Schweden dabei, auf mitteleuropäischem Niveau anzukommen. Die Verschuldung der privaten Haushalte ist insbesondere im Bereich der Grundstücke hoch, etwa so wie in den Vereinigten Staaten. In den USA hat der Staat unter Bush jr. und schon unter Clinton, als er die Staatsverschuldung zurückfuhr, die Schleusen für die Verschuldung der privaten Haushalte geöffnet, damit die den Ausfall kompensieren konnten: privatisierter Keynesianismus. Genau dasselbe sehen Sie in Schweden nach 1995. Die Besonderheiten der Schweden schwinden, aber natürlich landen sie aus sehr großer Höhe. Dennoch bewegen sie sich in Richtung eines mitteleuropäischen Normal-Pfades, der ein wettbewerbsorientierter liberalisierter Kapitalismus ist. Die sozialdemokratische Utopie, dass Lebenschancen abgekoppelt werden können von Marktchancen, oder Marktchancen so arrangiert werden können, dass eine annähernde Gleichheit der Ausgangspositionen für die Beteiligten geschaffen werden kann, wird aufgegeben.

NG/FH: Damit tut der neue Kapitalismus, indem er sich immer mehr von seinen sozialen "Fesseln" löst, der Gesellschaft immer mehr weh. Die Wirkungen sind: Armut, Ungleichheit, soziale Unsicherheit. Das wäre dann aber in der Analyse von Polanyi der Zeitpunkt, wo das Pendel anfängt zurückzuschwingen und wieder soziale Einbettung erkämpft wird. Was aber sind die Faktoren und wo sind die Akteure, die unter den heutigen Bedingungen den Rückschlag des Pendels in Richtung Stärkung der sozialen Netze und Regulierungen zustande bringen können?

Streeck: Das ist die Frage! Zunächst kann man konstatieren, dass das Schlachtfeld, auf dem dieser Kampf gewonnen werden müsste, heute in erstaunlicher Weise unübersichtlich ist. Damit meine ich: In den 60er, 70er Jahren konnten die Arbeitnehmer und ihre Gewerkschaften gegebenenfalls die Brocken hinwerfen, damit der Arbeitgeber besser zahlte. In der Phase der Staatsverschuldung gab es dann die Parteien, denen man die Stimme entziehen konnte, wenn sie nicht lieferten, und sei es auf Kredit. In der Phase der Privatverschuldung seit den 90er Jahren war der Gegner der Vermögensberater, und der konnte einen schon individuell über den Tisch ziehen. Helfen konnte allenfalls noch die Verbraucherberatung. Aber selbst bei der Riester-Rente hat das Vielen nichts genützt.

Jetzt sind die Leute, die verteilungspolitisch das Sagen haben, die Finanzdiplomaten, die zwischen Zentralbank, Europäischer Kommission und den Finanzministerien alles Mögliche aushandeln, was für den Normalmenschen völlig unbegreiflich ist. Jetzt heißt es Nation für oder gegen Nation. Entweder müssen die "faulen Griechen" zur Räson gebracht werden, oder "wir" müssen mit "den Griechen" internationale Solidarität üben, oder beides auf einmal. Dabei weiß jeder: Es gibt Griechen, die unvorstellbar reicher sind als die allermeisten Deutschen, die gemeinsam dafür aufkommen sollen, dass die reichsten Griechen zuhause keine Steuern zahlen. Und der Normal-Slowene, der den Normal-Iren retten soll, hat im Durchschnitt ein weit niedrigeres Pro-Kopf-Einkommen als dieser. Wir sehen hier einen Verteilungskampf entlang der erstaunlichsten Fronten,die sich zu jeder denkbaren demagogischen Vereinfachung anbieten. Unter diesen Bedingungen sind Ansatzpunkte für politische Gegenmobilisierung ungeheuer schwer zu finden. Sehr viel schwerer jedenfalls als noch vor ein paar Jahrzehnten.

NG/FH: Aber es gibt doch den von Polanyi dargestellten Zusammenhang: moralische Empörung ("Der Kapitalismus raubt uns Existenzchancen"), politische Hebel für deren Umsetzung in praktisches Handeln, heute etwa eine mobilisierte Zivilgesellschaft und dafür sensibilisierte Parteien, die sehen, dass etwas getan werden muss, um Wähler und Unterstützung zu erhalten. Kann das nicht auch unter Bedingungen der Globalisierung funktionieren?

Streeck: Das weiß ich nicht. Ich würde mich sehr freuen, wenn ich es mir besser vorstellen könnte. Sozialdemokratie hat ja immer verantwortliche Mobilisierung unter der Annahme bedeutet, dass der Arbeiterbewegung dann Macht erwächst, wenn sie ein Projekt entwickeln kann, das sowohl ihren Interessen als auch der Entwicklung der kapitalistischen Produktivkräfte zuträglich ist.

NG/FH: Das war der sozialdemokratische Kompromiss.

Streeck: Und das war auch lange eine erfolgreiche Strategie! Denn die Organisationen der Arbeiterschaft, Parteien und Gewerkschaften, machten sich damit für das Interesse des Kapitals an seinem eigenen Fortschritt unentbehrlich.

NG/FH: Aber heute müsste ja die transnationale Koordination noch dazu kommen!

Streeck: Jetzt fragen wir uns: Gibt es dafür heute ein Äquivalent? Gibt es noch die Möglichkeit einer verantwortlichen Opposition? Ich sehe das zurzeit überhaupt nicht! Zum Teil wegen der Internationalisierung, zum Teil wegen der veränderten Produktionsstrukturen, der sogenannten Dienstleistungsgesellschaft, die ja im Grunde aus zwei Gesellschaften besteht: Süd-Manhattan, wo die 30.000 Beschäftigten bei Goldman Sachs im Durchschnitt 500.000 Dollar pro Jahr verdienen. Und die andere Dienstleistungsgesellschaft der Putzfrauen und 400-Euro-Jobber. Die haben eigentlich nichts miteinander zu tun; wie soll man da die Starken und die Schwachen zusammenbringen, damit die Schwachen von der Macht der Starken profitieren?

Das wirft die Frage auf: Wenn verantwortliche Opposition nichts mehr nützt, was ist dann mit unverantwortlicher Opposition? Vielleicht passiert etwas, wenn die Leute einfach immer wieder Steine schmeißen? Wenn alles, was vernünftig und verantwortlich ist, nur darin bestehen kann, jetzt irgendwem irgendwelche Schulden abzuzahlen, die irgendwelche anderen für mich gemacht haben, vielleicht ist es dann noch am verantwortlichsten, wenn man sich mal verantwortungslos verhält. Was passiert dann? Werden diejenigen, die dieses System zu erhalten versuchen, anfangen müssen, auf diejenigen wieder mehr Rücksicht zu nehmen, denen zwei Jahrzehnte Neoliberalismus den Boden aus dem Arbeitsmarkt geschlagen haben? In dem Moment, in dem Sie anfangen, verantwortungsethisch über Ergebnisse nachzudenken, besteht die Gefahr, dass Sie in der Logik dieser internationalen Finanzdiplomatie mit ihren Austeritätszwängen landen. Da haben die kleine Frau und der kleine Mann nichts zu gewinnen.

NG/FH: Ihr Buch Re-Forming Capitalism hat ein fast romantisches Ende: Wir haben heute keine Antworten, eine neue Generation muss sich etwas einfallen lassen. Werden wir eine Phase irregulärer, unverantwortlicher Proteste erleben und dann Akteure, die den Laden zusammenhalten, die sagen: Jetzt muss etwas passieren, es muss wieder reguliert werden?

Streeck: Von Polanyi kann man eine Art von Minimal-Optimismus lernen: Die Gesellschaft wird sich ihre Auflösung nicht gefallen lassen. Insoweit bin ich zuversichtlich, dass etwas geschieht. In welchen Organisationsformen, kann ich aber nicht sagen. Nehmen Sie unsere Gewerkschaften. Zur europäischen Finanz- und Fiskalkrise fällt ihnen zunächst mal ein: Wir müssen die Griechen im Euro behalten, weil diese dann nicht mehr gegen uns abwerten können und sie den Außenwert des Euro niedriger halten als es der Außenwert der D-Mark wäre. So können wir wunderbar weiter exportieren. Vielleicht müssen die so kalkulieren. Das macht sie aber unfähig, irgendetwas dagegen zu unternehmen, wie zurzeit die Logik der Demokratie der des Kapitals untergeordnet wird. Was Sie "romantisch" genannt haben, ist, wenn die Leute sich dies nicht mehr gefallen lassen und spüren, wie die Absurdität der Lage ihre Würde angreift. Im Fernsehen kommentierte eine Griechin die Senkung ihres Lohnes um 20% so: "Das ist mir völlig egal, ich bekomme seit einem Jahr sowieso keinen Lohn mehr." Wenn sich solche Situationen häufen, können vielleicht, ähnlich wie im 19. Jahrhundert, aus Bewegungen, die zunächst nur zielloser radikaler Protest sind, Organisationskerne neuer Art entstehen.

*

Quelle:
Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte Nr. 4/2012, S. 21-27
Herausgegeben für die Friedrich-Ebert-Stiftung von Siegmar Gabriel,
Klaus Harpprecht, Jürgen Kocka, Thomas Meyer, Bascha Mika und
Peter Struck
Redaktion: c/o Friedrich-Ebert-Stiftung Berlin
Hiroshimastraße 17, 10785 Berlin
Telefon: 030/26 935-71 51, -52, -53
Telefax: 030/26 935-92 38
ng-fh@fes.de
www.ng-fh.de
 
Die NG/FH erscheint monatlich, wobei die Hefte 1+2
und 7+8 im Januar bzw. Juli als Doppelheft erscheinen.
Einzelheft: 5,50 Euro zzgl. Versand
Doppelheft: 10,80 Euro zzgl. Versand
Jahresabonnement: 50,60 Euro frei Haus


veröffentlicht im Schattenblick zum 28. April 2012