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FRAGEN/001: Soziologische Forschung über Liebe - Gespräch mit André Kieserling (Uni Bielefeld)


BI.research 36.2010
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

"In Zweierbeziehungen wird mehr geschmollt als irgendwo sonst in der Gesellschaft"
Ein Gespräch über Liebe in der Soziologie mit André Kieserling

Die Fragen stellte Hans-Martin Kruckis.


Eine der allerersten Lehrveranstaltungen an der Universität Bielefeld hatte das Thema "Liebe" zum Gegenstand und wurde von niemand Geringerem als dem großen Soziologen Niklas Luhmann angeboten. 1982 erschien seine berühmte Abhandlung "Liebe als Passion". Anders als man bei diesem Titel vielleicht erwarten würde, handelt es sich um einen sperrigen und ganz und gar "unsinnlichen" Text. Dennoch hatte (und hat) er eine breite Wirkung, nicht zuletzt in der Belletristik. Alexander Kluges 166 Liebesgeschichten "Das Labyrinth der zärtlichen Kraft" (2009) sind dafür nur das neueste Beispiel. Luhmann tritt hier selbst als Protagonist auf, und dem Band ist eine DVD mit einem Interview zwischen Kluge und Luhmann beigegeben. Als Textgrundlage für seine Seminare und Vorstufe von "Liebe als Passion" verfasste Luhmann 1969 eine kürzere Abhandlung, die der Bielefelder Soziologe Prof. Dr. André Kieserling 2008 aus dem Nachlass unter dem Titel "Liebe. Eine Übung" herausgab. Sie eignet sich hervorragend als Einstieg in Luhmanns Forschungen zur Liebe.


FRAGE: Warum ist Liebe überhaupt Gegenstand soziologischer Forschung? Sind zwei Personen schon eine gesellschaftliche Einheit?

ANDRÉ KIESERLING: Hinter der Frage steckt die Vorstellung, dass Liebe ein Gefühl ist und daher eher für Psychologen und weniger für Soziologen ein Thema sein kann. Aber natürlich kommt es in sozialen Situationen nicht auf das eigene Gefühl an, sondern darauf, den anderen davon zu überzeugen, dass man es hat, und dafür braucht man Kommunikation. Eine Mitteilung aber kann soziologisch untersucht werden, was immer psychisch dabei vorgehen mag.

FRAGE: Wie intensiv ist die soziologische Forschung über Liebe und welche Hauptrichtungen und -ansätze gibt es dabei?

ANDRÉ KIESERLING: Das ist wie bei vielen anderen Themen auch: Liebe erscheint gar nicht als solche, sondern im Einzugsbereich anderer Themen. Wenn man sich zum Beispiel für Ungleichheit interessiert, kann man fragen, wer wen heiratet und ob das in derselben Schicht oder wenigstens in derselben Kategorie von Bildungsabschlüssen bleibt. Das ist eine interessante Frage, weil davon abhängt, welche Erziehung die Kinder bekommen, und davon wiederum die Schulerfolgschancen. Folglich kann man sich auch ein Interesse der Erziehungssoziologie an diesem Thema denken, aber auch dann ist eher die Familie gemeint als die Liebesbeziehung unter den Gatten.

FRAGE: Gibt es eine spezifisch soziologische Definition von Liebe?

ANDRÉ KIESERLING: Es gibt Versuche, sehr allgemeine Konzepte auf Liebesbeziehungen anzuwenden und dann etwa zu sagen, Liebe sei eigentlich eine Form von Tausch. So argumentieren Theorien des Heiratsmarkts, nach denen die Partner ungleich schön, ungleich reich, ungleich wertvoll sind. Folglich versuche jeder, einen besonders hochwertigen Partner abzubekommen, aber da das auch die anderen versuchen, bleibe man meistens auf einem Gleichwertigen sitzen. Das kann dann als Tausch beschrieben werden - vielleicht sogar als gerechter Tausch. Richtig überzeugend ist das nicht, denn es gibt ja viele Gleichwertige, und wie ich gerade auf diesen einen komme, bleibt dabei offen. Und die allgemeine Präferenz, dass man zunächst einmal keine Ungleichwertigen sucht, kann ja auch aus der Liebe selbst erklärt werden. Wenn der Partner nämlich arm ist, während ich reich bin, dann weiß ich gar nicht, wen er nun mehr liebt, mein Konto oder mich. Das Beweisproblem wird also bei Ungleichwertigkeit größer. Darum die Formel aus Heiratsanzeigen: Parität erwünscht. Wenn man den Tauschbegriff einsetzt, um nicht das Finden eines Partners, sondern die Kommunikation mit dem schon gefundenen zu beschreiben, ist das gleichfalls nicht sehr überzeugend. Wäre das wirklich ein Tausch, dann wäre völlig unverständlich, warum das Schenken in Liebesbeziehungen eine so große Rolle spielt. Die Liebe beweist sich doch gerade in unverpflichteten Handlungen. Wenn man einfach Dankespflichten dem anderen gegenüber abträgt, hat dies nicht halb so viel Ausdruckswert wie das unverlangte, spontane und noch durch keine vorangegangene Gabe motivierte Handeln. Sogar bei der Verteilung von Hausarbeit kann ein Bestehen auf Tauschgerechtigkeit sehr erkältend wirken.

FRAGE: Das ist jetzt aber nicht Luhmanns Ansatz?

ANDRÉ KIESERLING: Luhmanns Ansatz ist in der Tat gegen diese Tauschtheorien gerichtet. Er beginnt mit der These, dass die moderne Gesellschaft den Personen Individualität erlaubt, aber nicht im Sinne ihrer objektiven Merkmale, sondern im Sinne ihrer subjektiven Sicht auf die Welt. In jedem Menschen steckt demnach eine eigensinnige Perspektive auf die Welt und auf die anderen Menschen in ihr. Für diese anderen ist dieser Eigensinn natürlich erstmal ein Fluchtmotiv: So genau wollen die das gar nicht wissen, was mit mir los ist. Wenn meine Weltsicht aber sozial völlig ohne Bestätigung bliebe, wäre es wahrscheinlich bereits psychisch gar nicht möglich, so zu erleben. Deshalb, so Luhmann, ist es Sache dessen, der liebt, die Weltsicht des anderen zu beglaubigen, selbst da, wo sie "überempfindlich" oder schrullig ist oder mit irgendwelchen common sense-Annahmen bricht. Zu sagen: Es ist hier objektiv nicht kalt, wenn der andere friert, ist vielleicht kein Zeugnis von Liebe. In denselben Zusammenhang individualisierter Erwartungshaltungen gehört sicher auch, dass es wichtig ist, dem anderen zuvorzukommen. Es ist keine gute Idee, auf einen Wunschzettel zu warten, sondern man sollte von selber darauf kommen, was dem anderen eine Freude macht. Ganz ähnlich sollte man nicht warten, bis der andere seinen Vorwurf ausspricht, und man damit weiß, wofür man sich zu entschuldigen hat. An sich hätte es schon das Fehlverhalten gar nicht geben dürfen, aber nachdem es nun einmal passiert ist, sollte man wenigstens von selbst darauf kommen, was man falsch gemacht hat. Würde man es erst noch sagen müssen, wäre die ganze Entschuldigung schon nichts mehr wert. Deswegen wird in Zweierbeziehungen auch mehr geschmollt als irgendwo sonst in der Gesellschaft. Schmollen heißt: sauer sein, bestreiten, dass man es ist, und dann die Dosis zu erhöhen.

FRAGE: Ist die Existenz von Partnerschaftsinstituten eigentlich ein Argument gegen zu hoch getriebene Individualitätsvorstellungen in der Liebe? Schließlich holen sie ja etwas von der alten Eheanbahnung durch die Eltern in die Gegenwart zurück.

ANDRÉ KIESERLING: In der Sprache der professionellen Eheanbahnung haben sich viele ständische Muster gehalten. Die Frauen werden zum Beispiel gerne als Unternehmertöchter beschrieben, so als wäre dieser soziale Status durch das bloße Faktum der Verwandtschaft bereits auf sie übergegangen, auch wenn sie sonst wenig vorweisen können. Aber das ist deutlich als Anachronismus erkennbar und stößt viele Leser vermutlich nur ab. Wenn sie kein Institut vorschicken, sondern für sich selbst sprechen, beschreiben sie sich jedenfalls eher als Individuen denn als Familienmitglieder, und wenn sie berufliche Erfolge oder soziale Kontakte erwähnen, dann sind es ihre eigenen und nicht die der Eltern.

FRAGE: Ein zentraler Aspekt von Luhmanns Forschungen über Liebe sind seine Semantikstudien, also einfach gesagt: das unterschiedliche Reden über Liebe im Lauf der Jahrhunderte. Romane spielen dabei als Quellenmaterial eine wichtige Rolle. Ist es eigentlich sinnvoll, von Fiktionen so direkt auf gesellschaftliche Wirklichkeit zu schließen?

ANDRÉ KIESERLING: Bei "Semantik" geht es zunächst einmal um die Interpretationen von Gefühlen anhand von Romanen, die man gelesen hat, heute auch anhand von Liebesfilmen. An solchen fiktiven Darstellungen lernt man, die eigenen Unsicherheiten bei der Annäherung an das andere Geschlecht als Liebe zu interpretieren. Die Fiktionen haben also eine Sozialisationsfunktion für Liebe übernommen. Das leuchtet mir im Prinzip ein, denn die Eltern können die Liebe nicht lehren, das scheitert schon am Inzesttabu, und die Gleichaltrigen sind dafür zu unerfahren. Wenn das aber richtig ist, dann ist die Liebesliteratur ein Teil der Sache selbst. Mehr als in anderen Semantikbereichen haben wir hier ein relativ handfestes Verhältnis zwischen Text und Realität. Der Text verhält sich zur Realität eher wie ein Rezept zum fertigen Essen als wie eine nachträgliche Beschreibung. Das muss natürlich nicht bedeuten, dass die Führung der Liebenden durch Romane und Film auch im Alltag erfolgreich ist. Die Vorstellungen, die man sich anliest, mögen ganz unrealistisch sein. Schon in der Romanliteratur selbst ist das ein altes Motiv: So wie Don Quijote an Ritterromanen leidet, wenn er gegen Windmühlen ficht, so leidet Madame Bovary an Liebesromanen und wird irre, weil sie zu romantische Vorstellungen hat und daher mit einem Mann nach dem anderen unglücklich wird.

FRAGE: Die Einheit von Liebe und Ehe ist ja ein relativ modernes Phänomen. Kann man sagen, dass damit die Probleme erst so richtig angefangen haben?

ANDRÉ KIESERLING: Entwickelt worden ist die Liebessemantik im Adel, und dort dann gerade nicht als Konzept für Ehen, denn die Adligen waren ja schon verheiratet, als sie sich verliebten. Darin lag im übrigen kein Problem, da man sich die Ehen von damals nach dem Modell einer Firmenfusion vorstellen muss, mit Liebe hatte das, gerade in Oberschichten, wenig zu tun. Umgekehrt wurde an der Liebe gerade die Kürze betont. Erst im 19. Jahrhundert kommt man auf die Idee, Liebe als dauerhaft zu denken, und seither haben wir daraus die einzig legitime Grundlage für Eheschließungen gemacht. Auch wer ein Konto geheiratet hat, muss seither behaupten, dass er den Kontoinhaber liebt, wenn andere nicht komisch gucken sollen. Erst seither haben wir die Frage, was aus der Liebe wird, nachdem sie aufhört, die Beteiligten zu irritieren, und anfängt, eine vertraute Angelegenheit zu werden. Eine Idee, die ja auch romantische Quellen hat, ist zu sagen, wenn die beiden nur miteinander befasst sind, ist es instabiler, als wenn die Liebe über etwas Drittes umgeleitet wird. Das kann dann ein gemeinsames Verbrechen oder ein gemeinsames Kind sein. Die zweite Lösung ist verbreiteter. Friedrich Schlegels "Lucinde" von 1799 ist das Buch dazu.

FRAGE: Trotzdem bleibt die Einheit von Liebe und Ehe etwas Unwahrscheinliches?

ANDRÉ KIESERLING: Mir fällt dazu ein schönes Zitat von Gehlen ein: Die Leute blickten immer mit Sorge auf die Scheidungsraten und behaupteten, dass sie sich dramatisch nach oben entwickeln. Gehlen sagt dazu, wenn man bedenke, dass wir die Ehe vom Lotteriespiel der Liebe abhängig gemacht haben, seien die Scheidungsraten gar nicht hoch sondern niedrig. Das ist ein schönes Beispiel dafür, dass man soziologische Kriterien für Erwartungsbildung braucht und nicht einfach die Normalerwartung übernehmen kann.

FRAGE: Nochmal Luhmann: Er sagt auch, heute verbinde sich die Skepsis gegenüber Hochstimmungen jeder Art mit anspruchsvollen, hochindividualisierten Erwartungshaltungen, was wiederum zu einer besonderen Konfliktträchtigkeit von Intimverhältnissen führe. Heißt das auch: Während der Partnerschaft geht die Partnersuche weiter?

ANDRÉ KIESERLING: Was dahinter steckt, ist die Frage der Konkurrenz, und zwar der Konkurrenz um den Partner durch attraktive Angebote von dritter Seite. Und da kann man sicher sagen, dass die traditionelle Ehe mit all den Schwierigkeiten, sie aufzulösen, ein Mechanismus der Konkurrenzunterdrückung war, ungefähr so wie die Kündigungsschutzregeln zugunsten älterer Arbeitnehmer, und dass umgekehrt die Freigabe der Ehescheidung, neuerdings ja auch ohne nennenswerte Belastung des Mannes mit Unterhaltspflichten, der Lockerung von Kündigungsschutz entspricht und alle Beteiligten mit der Perspektive konfrontiert, auf ihre alten Tage noch in der erotischen Konkurrenz aufs Neue sich behaupten zu müssen. Vielleicht kann man die Investitionen in sichtbare Zeichen von Jugend, zunächst der Frauen, aber zunehmend auch der Männer, daraus erklären, dass sie auf die Perspektive eingestellt sind, mit 50 oder 60 nochmals auf die Suche gehen zu müssen.

FRAGE: Ein wichtiger und spannender Punkt ist, dass Luhmann behauptet, man wolle nicht wirklich wissen, was der andere über einen denkt, und verzichte dabei auf Tiefenschärfe. Man verzichtet also auf Transparenz, um Konflikte zu vermeiden und die Partnerschaft nicht zu gefährden?

ANDRÉ KIESERLING: Man kann bei allen sozialen Beziehungen fragen, ob die Konflikte aushalten können, oder ob das Ende des Friedens auch gleich das Ende der Beziehung ist. Die alte Semantik hatte besagt, dass es in der Liebe keine Bagatellen geben kann. Das aber würde bedeuten, dass jeder Streit das Ende der Liebe symbolisiert. Man mag das abschwächen und sagen, dass es Konflikte über Weltsachverhalte gibt, die man durch Konsultation von Autoritäten entscheiden kann oder dadurch, dass man im Lexikon nachschlägt. Aber wenn der Streit an die Frage rührt, wie gut man sich eigentlich vom anderen verstanden fühlt, dann kann er leicht unhandlich werden. Eine zweite Abschwächung liegt darin, bestimmte konfliktnahe Themen nicht zu erwähnen oder sich mit einem Scheinkonsens zu begnügen, von dem jeder weiß, dass man ihn nicht auf die Probe stellen darf. Alois Hahn hat das für junge Ehen untersucht: Angesichts von Reizthemen haben die Gatten einander versichert, derselben Meinung zu sein, obwohl beide wussten, dass es sich anders verhält.


Die Langfassung des Interviews finden Sie unter:
www.uni-bielefeld.de/presse


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Quelle:
BI.research 36.2010, Seite 32-37
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veröffentlicht im Schattenblick zum 29. Juli 2010