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FORSCHUNG/090: Glauben, forschen, wissen (WZB)


WZB Mitteilungen - Nr. 147/März 2015
Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung

Glauben, forschen, wissen

Das Thema Religion und Wissenschaft verdient eine Neubetrachtung

von Silke Gülker


Kurz gefasst: Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft ist in der empirischen Wissenschaftsforschung lange vernachlässigt worden. Theoretisch liegt nahe, dass religiöse Überzeugungen bei der Produktion wissenschaftlichen Wissens wie in Bezug auf dessen Akzeptanz von Bedeutung sind. Der Streit zwischen "Kreationisten" und "Evolutionisten" ist nur das sichtbarste Zeichen dafür, dass das Modell eines unabhängigen Nebeneinanders von Wissenschaft und Religion auch empirisch nicht trägt. Eine international vergleichende Auseinandersetzung mit diesem Thema ist ein wichtiger Zugang, um die ideellen Grundlagen zeitgenössischer Gesellschaften besser zu verstehen.


Es bedarf in diesen Zeiten besonderer Vorsicht und sprachlicher Sensibilität, um nicht an Kategorien mitzukonstruieren, die Menschen zu potenziellen Tätern gruppieren. So deutlich wie lange nicht mehr wird eine sogenannte christliche Welt einer sogenannten islamischen Welt gegenübergestellt. Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft ist in diesen Gegenüberstellungen nicht unmittelbar als Thema sichtbar, und doch spielt es auf einer weltanschaulichen Ebene eine zentrale Rolle. Schließlich wird immer dann, wenn auf sogenannte westliche Werte Bezug genommen wird, auch das Narrativ von einem aufgeklärten Westen fortgeschrieben, der einem nicht aufgeklärten Osten gegenüberstehe; danach hat hier die Vernunft gesiegt, dort (noch) nicht.

Dies ist nicht der einzige, aber doch ein wichtiger Grund dafür, das Thema Religion und Wissenschaft wieder weit höher auf der sozialwissenschaftlichen Tagesordnung zu platzieren. Bei der Gründung der Soziologie war das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft das prägende Thema. Die gemeinsame Idee in der Aufklärungsdebatte war es, Glauben durch rationales Denken zu ersetzen - nach Auguste Comte sollte das positive Zeitalter das metaphysische ablösen. Zumindest im deutschsprachigen Raum hatte das Interesse an dieser Debatte bald wieder abgenommen. Der Kampf zwischen Religion und Wissenschaft schien befriedet. Max Webers differenzierungstheoretische Großthese schien Konsens zu sein: Religion und Wissenschaft wurden als komplementäre Wertsphären angenommen. Religion wäre demnach für Fragen des Sinns in Form außerweltlicher Erlösung zuständig, Wissenschaft dagegen auf die Erforschung des innerweltlich Erkennbaren spezialisiert.

Die Soziologie selbst differenzierte sich in Subdisziplinen. Religion wurde fortan von der Religionssoziologie, Wissenschaft von der Wissenschaftssoziologie erforscht. Das Verhältnis von Wissenschaft und Religion beschäftigte über Jahrzehnte vor allem die Historikerinnen und Historiker. Auch der amerikanische Soziologe Robert K. Merton hat sich in seiner Studie zum Verhältnis von Puritanismus und modernen Naturwissenschaften auf das England des 17. Jahrhunderts bezogen. Die in den Sozialwissenschaften geführten Debatten um Säkularisierung dagegen zielten auf andere Phänomene: Pluralisierung - und in deren Folge Privatisierung von Religion, Konkurrenz auf dem Weltanschauungsmarkt oder soziostrukturelle Entwicklungen wie Individualisierung und Urbanisierung - werden als treibende Faktoren im Säkularisierungsprozess angenommen. Aus der Gegenüberstellung von Religion und Wissenschaft wurde so, breiter, das Verhältnis von Religion und Moderne. Die These von der (friedlichen) Unabhängigkeit zwischen Wissenschaft und Religion hat jedenfalls in Deutschland die Jahrzehnte weitgehend unangefochten überdauert, teils aus Überzeugung, teils aus Desinteresse.

Es gibt heute gute Gründe, diese These von der Unabhängigkeit neu anzufechten. Schließlich können differenzierungstheoretische Gesamterklärungen für das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft ebenso diskutiert werden wie für andere gesellschaftliche Bereiche. Was zählt, ist die Praxis: Die an sich nachvollziehbare Beobachtung funktionaler Differenzierung in modernen Gesellschaften wird als Theorie unterkomplex, wenn empirische Realitäten innerhalb spezialisierter Funktionsbereiche rekonstruiert werden sollen. Reale Handlungssituationen sind komplex, und Logiken überlagern sich, anstatt nach homogenen Codes zu funktionieren. Für die Wissenschaft hat Karin Knorr-Cetina anschaulich dargestellt, dass die Akzeptanz von Theorien und Resultaten von sehr vielen nicht wissenschaftlichen Kriterien, beispielsweise Vertrauen in Personen oder Verhandlungsgeschick, abhängt. Die Perspektivgebundenheit allen Wissens ist Ausgangspunkt der Wissenssoziologie, und die konstruktivistische Wissenschaftsforschung hat diese Perspektivgebundenheit auch für die wissenschaftliche Wissensproduktion in zahlreichen Studien nachgewiesen. In der Wissenschaftsforschung wurde in den letzten Jahrzehnten infrage gestellt, inwiefern sich überhaupt zwischen Wissenschaft und Gesellschaft ein Innen und Außen klar unterscheiden lässt. Vielmehr hat die Idee einer Koproduktion von Wissen durch wissenschaftliche und nicht wissenschaftliche Akteure die Runde gemacht.

Theoretisch liegt es also nahe, dass auch religiöse Überzeugungen in der Wissenschaft von Bedeutung sind - und zwar sowohl in Bezug auf die Produktion wissenschaftlichen Wissens als auch in Bezug auf die gesellschaftliche Akzeptanz dieses Wissens. Das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft ist deshalb auch für zeitgenössische Gesellschaften fundamental, denn es gibt Auskunft über deren ideelle und weltanschauliche Grundlagen. Was und wem glauben wir warum? Oder in sozialwissenschaftlich vergleichender Perspektive gefragt: Welches Wissen erhält unter welchen Bedingungen welche Akzeptanz? Diese Fragen in ihren empirischen Facetten zu erforschen, ist eine vornehmlich sozialwissenschaftliche Aufgabe.

Betrachten wir zunächst die Produktionsseite und widmen uns hier zuerst einem Missverständnis, das die konstruktivistische Wissenschaftsforschung stets begleitet: Die Frage, ob religiöse Überzeugungen für die wissenschaftliche Wissensproduktion von Bedeutung sind, ist unabhängig von der Frage, ob es substanziell gültige Wahrheiten beispielsweise im Sinne von physikalischen Gesetzen gibt. Es geht nicht um Wahrheit. Vielmehr geht es um die Bedeutung von Überzeugungen: Warum wird aus der unendlichen Vielfalt von Perspektiven auf einen Gegenstand genau diese oder jene ausgewählt? Was motiviert zu einer bestimmten Fragestellung? Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der sogenannten Wissenschaftlichen Revolution im 16. und 17. Jahrhundert ging es mit ihrer Arbeit oft darum, "Gottes Werk" besser zu verstehen. Diese Motivation spielt auch heute noch eine größere Rolle, als gemeinhin angenommen wird. Was bedeutet sie für die Perspektive auf einen Gegenstand, und wie unterscheidet sich diese Perspektive möglicherweise von anderen?

Im Rahmen des Produktionsprozesses sind zudem zahlreiche ethische Fragen zu beantworten, insbesondere, aber nicht ausschließlich in den Lebenswissenschaften. In vielen Ländern ist institutionell gesichert, dass religiöse Überzeugungen in diese Entscheidungen einfließen - auch in Deutschland sind religiöse Organisationen zentrale Akteure in der Entwicklung von Regulierungspolitiken. In diesem Zusammenhang ist auch die Debatte zwischen Jürgen Habermas und dem damaligen Kardinal Joseph Ratzinger stark beachtet worden. Ratzinger argumentierte für eine "gegenseitige Begrenzung" von Glauben und Vernunft, um unheilvollen Machtansprüchen von Religion wie von Wissenschaft zu begegnen. Aus dieser Debatte entsteht der Eindruck, dass ethische Forschung auf eine religiöse Orientierung angewiesen wäre. Kann die Empirie diesen Eindruck stützen? Wie gestaltet sich international das Verhältnis zwischen Religion und Forschungsethik?

Und wie verhält es sich mit der Interpretation von Ergebnissen im wissenschaftlichen Produktionsprozess? Längst wurde gezeigt, dass insbesondere in der experimentellen Forschung jede Ergebnisinterpretation mit großen Unsicherheiten behaftet ist - Unsicherheiten, die schließlich von den Forschenden anhand ihres eigenen weltanschaulichen Wissens überbrückt werden. Welche Bedeutung haben religiöse Überzeugungen bei diesem Rückgriff?

Damit ist die Frage nach der Akzeptanz von Wissenschaft schon angeschnitten. Nicht nur für die Produktion von wissenschaftlichem Wissen, sondern auch für dessen Übersetzung in eine Gesellschaft sind neue Analysen zur Bedeutung von Religion erforderlich: Dass das Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft in gesellschaftlichen Debatten keinesfalls überall dem Modell eines friedlichen Nebeneinanders entspricht, ist am sichtbarsten im Streit zwischen sogenannten Kreationisten und sogenannten Evolutionisten. In diesem Streit geht es vordergründig um konkurrierende Wahrheitsangebote. Tatsächlich haben die Debatten längst einen ideologischen Charakter: Setzen die einen die Evolutionslehre mit amoralischem Materialismus gleich, lehnen die anderen Religion als "irrationale Weise der Weltdeutung" ab. (Akzeptanz von) Wissen und Weltanschauung sind nicht voneinander zu trennen.

Regional war dieser Streit zunächst auf die USA und Großbritannien beschränkt und hat dann eine Auseinandersetzung zwischen islamischen und christlichen Kreationisten nach sich gezogen. Deutschland ist von diesem Konflikt weitgehend unberührt geblieben. Aber auch hier sind wissenschaftliche Wahrheitsangebote längst nicht unangefochten. Wie ist etwa die wachsende Popularität von alternativmedizinischen Angeboten wie Ayurveda, Yoga oder auch Schamanentum zu erklären? Immer mehr Menschen ziehen auch in Deutschland eine Heilslehre, die sich auf religiöse Traditionen beruft, dem rein auf wissenschaftlicher Methode basierenden schulmedizinischen Angebot vor. Wie und unter welchen Bedingungen wird welches Wissen von wem akzeptiert?

Es gibt also viele gute Gründe dafür, sich mit dem Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft neu auseinanderzusetzen. Zwar hat auch in Deutschland die Auseinandersetzung mit diesem Thema in den letzten Jahren zugenommen und oben genannte Phänomene werden vielfältig erforscht. Auffällig ist aber erstens die weitgehende Abstinenz der Wissenschaftsforschung bei diesem Thema, in deren Kernbereich es eigentlich fällt. Zweitens ist der Titel "Religion und Wissenschaft", anders als etwa in angelsächsischen Ländern, kaum etabliert, der grundlegende Charakter des Themas bleibt damit unterbelichtet. Dabei besteht in Deutschland die Chance, eine Forschung zum Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaft weitgehend unbelastet vom Streit um Kreationismus oder Evolutionismus zu etablieren. Weder theoretisch noch empirisch ist ja die in diesem Streit stets verhandelte Frage interessant, ob zwischen Religion und Wissenschaft ein Konflikt besteht - von Interesse ist vielmehr, wie sich beides zueinander verhält.

Als interdisziplinäres und internationales Forschungsprogramm würde eine empirisch gesättigte Beschreibung des Verhältnisses von Religion und Wissenschaft dazu beitragen, die Bedeutung beider Sphären in zeitgenössischen Gesellschaften und damit deren ideelle Grundlagen besser zu verstehen - im Westen, im Osten, im Norden und im Süden.


Silke Gülker ist Mitglied der Forschungsgruppe Wissenschaftspolitik und war 2013/14 Gastwissenschaftlerin im "Program on Science, Religion, and Culture" an der Harvard University, Cambridge, USA. In ihrem von der DFG geförderten Buchprojekt "Wissenschaft und (Religions-)Kultur" untersucht sie am Beispiel der Stammzellforschung, inwiefern religionskulturelle Heterogenität in der Zusammenarbeit im Forschungsalltag von Bedeutung ist.
silke.guelker@wzb.eu


Literatur

Gülker, Silke: Religion in Science. Boundary Work in a Stem Cell Research Laboratory. Conference Speech at the 2014 Annual Meeting of the Society for the Scientific Study of Religion, October 31-November 2, 2014, Indianapolis, Indiana, USA.

Hameed, Salman: "Evolution and Creationism in the Islamic World". In: Thomas Dixon / Geoffrey Cantor / Stephen Pumfrey (Eds.): Science and Religion. New Historical Perspectives. Cambridge: Cambridge University Press 2010, pp. 133-152.

Henry, John: "Religion and the Scientific Revolution". In: Peter Harrison (Ed.): The Cambridge Companion to Science and Religion. Cambridge: Cambridge University Press 2010, pp. 39-58.

Jasanoff, Sheila (Ed.): The Co-Production of Science and Social Order. London/New York: Routledge 2004.

Knoblauch, Hubert: Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft. Frankfurt am Main/New York: Campus 2009.

Knorr Cetina, Karin: "Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Empirische Anfragen an die Systemtheorie". In: Zeitschrift für Soziologie, 1992, Jg. 21, H. 6, S. 40-419.

Merton, Robert K.: Science, Technology and Society in Seventeenth-Century England. New York: Howard Fertig (1972 [1938]).

Ratzinger, Joseph: "Was die Welt zusammenhält. Vorpolitische moralische Grundlagen eines freiheitlichen Staates". In: Jürgen Habermas / Joseph Ratzinger (Hg.): Dialektik der Säkularisierung. Freiburg im Breisgau: Herder 2005, S. 39-60.

Wohlrab-Sahr, Monika / Kaden, Tom: "Struktur und Identität des Nicht-Religiösen: Relation und soziale Normierungen". In: Christof Wolf / Matthias Koenig (Hg.): Religion und Gesellschaft. Sonderheft 53/2013 der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Wiesbaden: Springer 2013, S. 183-209.

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Quelle:
WZB Mitteilungen Nr. 147, März 2015, Seite 7-10
Herausgeber:
Die Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung
Professorin Jutta Allmendinger Ph.D.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 28. Mai 2015

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