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FORSCHUNG/078: Vorurteilsforschung - Die Abwertung der Anderen (Uni Bielefeld)


BI.research 38.2011
Forschungsmagazin der Universität Bielefeld

Die Universität Bielefeld als Zentrum der Vorurteilsforschung

Die Abwertung der Anderen

von Dr. Hans-Martin Kruckis


"Bielefeld", sagt der Sozialpsychologe und Erziehungswissenschaftler Professor Dr. Andreas Zick, "ist der Ort, an dem weltweit am meisten über Vorurteile geforscht wird." Zick ist Experte für Vorurteile und Diskriminierung und forscht unter anderem am international renommierten Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG). Um seine Aussage zu untermauern, verweist er auf das Graduiertenkolleg "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit: Ursachen, Phänomenologie, Konsequenzen" und die auf zehn Jahre angelegte große Langzeitstudie "Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit". Er führt die Studie zusammen mit vielen Kollegen und Kolleginnen unter der Leitung von Professor Dr. Wilhelm Heitmeyer durch, auf den die Gründung des IKG maßgeblich zurückgeht. Ebenfalls verweist Zick auf die Studie "Group-Focused Enmity in Europe", die auf europäischer Ebene Intoleranz, Vorurteile und Diskriminierung untersucht, und auf zahlreiche einschlägige Diplom- und Masterarbeiten. Auf breiter interdisziplinärer und empirischer Basis wird in Bielefeld erforscht, was Vorurteile und ihre Folgen ausmacht: Zentrale Themen sind dabei Vorurteile gegen Einwanderer und Muslime, Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Antisemitismus, Sexismus, Homophobie und die Abwertung von Menschen mit Behinderung, von Obdachlosen und Langzeitarbeitslosen.


Standortvorteil Interdisziplinarität

Als "Urvater" der Vorurteilsforschung gilt Gordon Albert Allport, dessen Arbeit "The Nature of Prejudice" 1954 erschien. Allerdings, so Zick, sei sein Ansatz stark individualpsychologisch geprägt und beziehe sich damit vornehmlich auf individuelle Antipathien. Das gegenwärtige, entscheidend in Bielefeld geprägte wissenschaftliche Verständnis des Vorurteils bezieht zwar ebenfalls individuelle Dispositionen ein, ordnet sie aber den Gruppenzusammenhängen, in denen sie auftreten, unter. Ein Manko der Forschung zu Vorurteilen und Rassismus war lange Zeit der mangelnde interdisziplinäre Austausch zwischen den einzelnen Fächern: Zwischen psychologischer individuumsbezogener Forschung, der soziologischen Bearbeitung von Themen wie Rassismus und Sexismus und der historischen Forschung, zum Beispiel zu Antisemitismus, gibt es breite überlappende Bereiche mit der Chance, zu komplexen Analysen zu gelangen. Genau dies war in Bielefeld mit seiner interdisziplinären Tradition und speziell im IKG von Beginn an möglich. Das erklärt auch, warum enge Kooperationen mit Professor Dr. Gerd Bohner (Psychologie), Professor Dr. Jost Reinecke (Soziologie) und Professor Friederike Eyssel (Exzellenzcluster CITEC) und ihren Mitarbeitern bestehen.


Kein Problem allein von Randgruppen und radikalen Minderheiten

Der Gründung des Instituts 1997 ging zu Beginn der 90er Jahre mit den Brandanschlägen auf Asylbewerberheime und Wohnhäuser türkischer Familien eines der finstersten Kapitel in der Geschichte des wiedervereinten Deutschland voran. Solch offener Hass gegen Gruppen ist inzwischen zurückgegangen. Das moderne Vorurteil, sagt Andreas Zick, sei subtiler, der traditionelle Antisemitismus inzwischen eher ein Problem von Randgruppen: "Heute steckt in vielen Gruppen nicht mehr offener Hass dahinter, sondern eine Distanzierungsbewegung. Man wertet andere nicht direkt ab, vermeidet aber zugleich positive Aussagen." Und das ist beileibe kein Problem des rechten Randes. Seit etwa zwei Jahren lassen sich auch in der Mitte und im linken Spektrum zunehmend irrationale Vorurteile gegen Muslime beobachten: "Einfach nur gegen Faschismus sein reicht nicht. Gerade, wenn ich denke, ich bin immun gegen Vorurteile, merke ich am wenigsten, dass das nicht stimmt." Wobei es bei Linken auch durchaus offenes Schüren von Ressentiments gibt. So verweist Zick auf das "Fremdarbeiter"-Zitat von Lafontaine, dem ehemaligen Vorsitzenden der Partei Die Linke, oder mühsam als "Antizionismus" getarnten Antisemitismus. Auch höhere Bildung ist keine Garantie für maßvolles Urteilen. Ihre Vertreter seien dann anfällig, wenn sie stark konformitätsorientiert und in Kategorien wie Ordnung und Unterordnung dächten. Zudem gebe eine Zuwanderung von rechts in die sprichwörtliche "Mitte der Gesellschaft", weil "Mitte sein" attraktiv sei - und die rechten Vorurteile werden dorthin mitgenommen. Dies lasse sich etwa an der Schlussstrichmentalität im Zusammenhang mit der Auseinandersetzung um die NS-Verbrechen zeigen oder dem Vorwurf, "die Juden" würden die Shoah zu ihrem eigenen Vorteil instrumentalisieren.


"Multifunktionswaffe" Vorurteil

Ob subtil oder weniger subtil offen ressentimentgeladen: Vorurteile bedeuten immer die Abwertung von anderen. Ihr gemeinsamer Kern ist die Ideologie der Ungleichwertigkeit. In Konflikten sind sie, so Zick, eine "Multifunktionswaffe". Nach innen stellen sie Bindung her, sie signalisieren, wem zu vertrauen ist und wem nicht, wobei als feindlich empfundene Gruppen von außen als homogener und damit erst recht als Bedrohung wahrgenommen werden. Dies spielt bei der Angst - Zick spricht sogar von "Panikmache" - vor einer Vormachtstellung des Islam eine zentrale Rolle. Vorurteile sind stark, wenn sie Menschen vermeintlich Zusammenhänge "erklären". Das gilt besonders für Personen in Regionen, in denen breite Schichten vom Abstieg bedroht sind und die über das Vorurteil Selbstwert und Anschluss an die Mehrheitsgesellschaft suchen. Dies ließ sich beispielsweise im Vorfeld der Grenzöffnung für polnische Arbeitskräfte beobachten, und es hat auch im Zusammenhang mit der augenblicklichen Flüchtlingsbewegung aus Nordafrika eine Bedeutung. Hier zeichnet sich in weiten Teilen Europas eine neue "Asylantendebatte" ab. Der praktische Nutzen des Vorurteils liegt auf der Hand: Es geht nicht allein um Identität, sondern auch um Macht und Kontrolle. Gerade ist die von Andreas Zick zusammen mit Beate Küpper und Andreas Hövermann erarbeitete umfangreiche Studie "Die Abwertung der Anderen. Eine europäische Zustandsbeschreibung zu Intoleranz, Vorurteilen und Diskriminierung" erschienen. Mit Blick darauf charakterisiert er den in vielen europäischen Staaten erstarkten Rechtspopulismus als "echtes Problem", und zwar als eines, das unterschätzt werde. Hier gehe es um junge machtorientierte Politiker, die eine hohe Präsenz in den traditionellen Medien und auch im Internet hätten, international gut vernetzt seien und bis in Regierungsbildungen hinein Einfluss ausübten. In Deutschland sei man in dieser Hinsicht zwar (noch) zurückhaltend, aber der bei mehr als 30 Prozent der Bevölkerung verbreitete Wunsch nach einer starken politischen Führungsfigur, die sich nicht um das Parlament schert, lässt nicht unbedingt Gutes erahnen.


Direkter Praxisbezug und weltweite Bearbeitung von IKG-Daten

Bielefelder Tradition, sagt Andreas Zick, sei der direkte Praxisbezug der Forschungen am IKG: "Wir spiegeln nicht zuletzt den Politikern, was geschieht, wenn sie bestimmte Maßnahmen ergreifen oder auch unterlassen." Erfreulicherweise wächst das von Beginn an große Interesse von außen an der Expertise der Konflikt- und Gewaltforscher weiter. Im Zusammenhang mit der Europa-Studie hat es beispielsweise Anfragen von Botschaften gegeben. Stolz verweist Zick zudem darauf, dass die Bielefelder Daten weltweit (bis nach Harvard) wissenschaftlich genutzt werden. Die sehr erfolgreiche und mit großem öffentlichen Interesse verfolgte Langzeitstudie läuft im nächsten Jahr aus. Nun wird nach einem neuen Geldgeber gesucht: "Bei unserem Know-how wäre es eine Katastrophe nicht weiterzumachen".


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Foto auf Seite 27:
ausschnitt aus der Videoinstallation "Birds" (2008) des Künstlers Niklas Goldbach: "Menschenfeindlichkeit ist Gleichmacherei der anderen, um sie ungleichwertig zu machen", sagt der Bielefelder Vorurteilsforscher Andreas Zick.

Foto auf Seite 29:
"Die Abwertung der Anderen": Andreas Zick hat zusammen mit Beate Küpper und Andreas Hövermann eine Studie herausgebracht, die Vorurteile und Diskriminierung in vielen europäischen Staaten analysiert.


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Quelle:
BI.research 38.2011, Seite 26-29
Herausgeber:
Referat für Kommunikation der Universität Bielefeld
Leitung: Ingo Lohuis (V.i.S.d.P.)
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tlicht im Schattenblick zum 2. November 2011