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FORSCHUNG/066: Was hat Gender mit (Friedens-)Politik zu tun? (friZ)


friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 4/08 - Dezember 2008

Was hat Gender mit (Friedens-)Politik zu tun?

Von Christina Dietrich und Joy Leuthard


Die Forschung untersucht seit einigen Jahren, wie sich Konflikte auf die Geschlechterverhältnisse auswirken. Den damit verbundenen Rollenzuweisungen und Machtverhältnissen stellt sich sowohl die Sozialforschung als auch die Realpolitik.


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Der aus dem Englischen übernommene Begriff Gender bezeichnet - im Gegensatz zum biologisch bestimmten Begriff Sex - das soziale Geschlecht, d.h. das Attribut, das uns im alltäglichen Leben, Kommunizieren und Interagieren in der Gesellschaft anhaftet. Diese Unterscheidung zwischen natürlichem und kulturellem Geschlecht ist mittlerweile aus der Wissenschaft in den allgemeinen, öffentlichen und politischen Sprachgebrauch übernommen worden. Wozu braucht es aber im deutschsprachigen Raum diese englischen Begriffe? Weshalb und wann spielt die Unterscheidung zwischen biologischem und sozialem Geschlecht eine Rolle? Was sind Gegenstände und Erkenntnisse der Genderforschung? Und was trägt der Genderdiskurs zur realen Gleichberechtigung der Geschlechter bei?

Bis in die späten 1960er Jahre, der Zeit der Neuen Frauenbewegung und dem Beginn der feministischen Theoriebildung, herrschte allgemein die Vorstellung, dass biologische, physisch augenfällige Geschlechtsmerkmale zu unterschiedlichen Verhaltensweisen von Männern und Frauen führen. Die sprachliche Konzeption von Gender und Sex bot also - und bietet noch heute - die Möglichkeit, Handlungsweisen und Eigenschaften von Frauen und Männern neu zu ergründen. Ursachen, die bis dahin durch die vermeintliche Natur der Geschlechter erklärt wurden, liessen sich jetzt differenzierter bestimmen. Brisant ist dieser Begriffswandel gesellschaftlich und politisch, denn die analytische Unterscheidung zwischen Sex und Gender ermöglicht es erst aufzuzeigen, wie über lange Zeit soziale Rollenzuweisung und auch ungleiche Ressourcenverteilung durch die biologische Geschlechtszugehörigkeit gerechtfertigt wurden.

Das offensichtliche dieser Denkweise kommt in einem Abschnitt aus dem Bertelsmann-Lexikon des Jahres 1966 schön zum Ausdruck. Hier findet man unter dem Stichwort "Mann": "Die Stellung des Mannes innerhalb der Gesellschaft ist (...) bestimmt durch seine körperlichen Anlagen, seine biologischen Aufgaben, die ihn einerseits zum Beschützer von Frau und Kindern vorbestimmen und ihm andererseits gegenüber der Frau eine unstetere Lebensweise zuweisen. Darauf gründet sich die Arbeitsteilung unter den Geschlechtern (...), dass ihm die familiäre und politische Führung fast ausschliesslich vorbehalten war."


Mann = Mensch?

Bei der Bestimmung von Geschlecht spielt die symbolisch-kulturelle Ebene eine wichtige Rolle. Gemeint ist damit die unterschiedliche Wirkung von verschiedenen Perspektiven, Deutungs- und Interpretationsmustern. Symbole und damit auch die Sprache haben einen grossen Einfluss darauf, wie die Geschlechterrollen verstanden werden und prägen damit das Verhältnis der Geschlechter massgeblich. Ideengeschichtlich wurde der Mann als der Mensch an sich, als das Universale verstanden (lat. homo = Mann/Mensch), während die Frau als das Besondere, das Partikulare galt. Zu den symbolischen Hinterlassenschaften gehören neben der soeben erwähnten Unterscheidung "partikular" versus "universal", noch weitere Bedeutungspaare wie Geist-Körper, Gefühl-Vernunft, privat-öffentlich usw. Durch ihre Zuordnung zu einem Geschlecht werden sie zu Stereotypen mit einer - bewusst oder unbewusst - mitschwingenden Hierarchievorstellung.

Die Kategorie Gender stützt also einen Denkansatz, der das Geschlecht als etwas sozial Konstruiertes versteht und dabei die symbolisch-kulturellen Einflüsse untersucht. Im Zentrum der Genderforschung stehen die historische Entwicklung, die Ausprägung von Geschlechterrollen sowie Ungleichheiten und Machtasymmetrien zwischen den Geschlechtern. Wichtig und folgereich ist die weit verbreitete Ansicht, dass Rollen, Status und soziale Beziehungen wesentlich durch die Geschlechterzugehörigkeit bestimmt werden.


Was sein sollte und noch nicht ist: Gendermainstreaming

Trotz heftiger Kritik an der vorherrschenden Geschlechterordnung durch die Frauenbewegung und trotz des mittlerweile in der Verfassung festgeschriebenen Gleichstellungsartikels, bleibt die Genderfrage in der Schweiz weiterhin eng verknüpft mit Ungleichheiten bezüglich Bildungsniveau, Verteilung von bezahlter und unbezahlter Arbeit, Einkommen und sozialem Status. So kamen zum Beispiel im Jahr 2007 trotz Bildungsexpansion fast 80 Prozent aller Frauen in der Schweiz nicht über die Berufsbildung bzw. bessere Allgemeinbildung (Sekundarstufe II) hinaus. 17,7 Prozent hatten gar die obligatorische Schule als höchsten Abschluss. Das bedeutet umgekehrt, dass nur gut 20 Prozent aller Frauen in der Schweiz eine höhere Berufsschule oder Hochschule besucht haben. Zum Vergleich sind das bei den Männern immerhin rund 40 Prozent (vgl. dazu den Gleichstellungsbericht 2008 des Bundesamts für Statistik).

Die Asymmetrie des Geschlechterverhältnisses wird jedoch nicht immer so klar gesehen oder geht zuweilen ganz vergessen, da die Gleichstellung von Frau und Mann bereits rechtlich verankert ist. Dieser vermeintliche Erfolg auf dem Weg zur Gleichstellung kann aber durch die Vernebelung bestehender Ungleichheiten zum Fortbestand eben dieser beitragen. Umso wichtiger ist eine auf Genderfragen sensibilisierte Gleichstellungspolitik. Während Sex, also die biologische Geschlechterbezeichnung, als naturgegeben und unveränderbar betrachtet wird, gilt Gender, das historisch gewachsene, sozial und kulturell geformte Geschlecht, als gesellschaftlich veränderbar. Der Begriff des sozialen Geschlechts kann dank seiner Veränderbarkeit als zentrale Kategorie in der politischen Praxis verwendet werden. Eine der am weitesten verbreiteten - dadurch aber nicht weniger kontrovers diskutierten - Praktiken ist das Gender-Mainstreaming. Diese Praxis verlangt, dass bei Massnahmen in allen Bereichen stets deren Bedeutung für Frauen und Männer und für das Geschlechterverhältnis mitgedacht wird. Dabei geht es meist um die Gleichstellung von Frauen und Männern, denn nach wie vor ist die Geschlechterordnung stark hierarchisch strukturiert und durch unterschiedlichste Machtverhältnisse oder -Beziehungen geprägt.

Die Etablierung dieser relativ neuen Methode kennzeichnet einen Strategiewechsel weg von der Frauenförderung hin zu einem umfassenderen Ansatz, der dazu anleitet, das Geschlechterverhältnis grundsätzlich in den Blick zu nehmen. Ziel ist es, das Denken und Handeln von Individuen und in Organisationen für Genderfragen zu sensibilisieren, Denk- und Lernprozesse anzustossen, Diskriminierung zu verhindern, sowie geschlechtsspezifische Vorurteile und Rollenzuweisungen zu überwinden.

Rechtlich ist die Umsetzung von Gender-Mainstreaming durch die Uno über den Aktionsplan der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking 1995 sowie durch die Erklärung des Wirtschafts- und Sozialrates und die darauf basierende Uno-Resolution 52/100 für alle Mitgliedstaaten Pflicht. Die Europäische Union hat das Konzept im Amsterdamer Vertrag von 1999 übernommen.(2) Heute gibt es neben den bekannten Gleichstellungsstellen auch zahlreiche nichtstaatliche Organisationen, welche Instrumente des Gender-Mainstreamings in ihre Praxis aufgenommen haben.


Ausblick: Geschlechterrollen und Friedensforschung...

Die skizzierte Diskussion um Rollen und Machtverhältnisse der Geschlechter lässt sich auf verschiedenste gesellschaftliche Schauplätze übertragen. Wie verhalten sich oben genannte und in der Genderforschung viel besprochene Annahmen in Bezug auf andere Länder, Kulturen und politische Situationen? Wie sieht dort die Rollenverteilung aus? Mit welcher Dynamik finden Veränderungen statt? Wie bestimmt sind die Rollenzuschreibungen und wie bzw. unter welchen Umständen können Individuen sich davon emanzipieren?

Gerade für die Friedensforschung sind diese Fragen interessant und die Forschungs- und Aktionsfelder der Friedensarbeit bieten viel Substanz, um Genderbeziehungen zu analysieren oder als wirkungsvolle soziale Tatsache einzubeziehen.


Christina Dietrich und Joy Leuthard sind Soziologinnen und Mitglied der Redaktion friZ.


Literatur

Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp: Feministische Theorien. Zur Einführung. 4. überarbeitete Auflage. 2001, Junius Hamburg.

Brigitte Brück, Heike Kahlert, Marianne Krüll, Helga Milz, Astrid Osterland und Ingeborg Wegehaupt-Schneider: Feministische Soziologie. Eine Einführung. 2. erweiterte und überarbeitete Auflage. 1997, Campus Verlag Frankfurt.

Bundesamt für Statistik (Hrsg.): Auf dem Weg zur Gleichstellung von Frau und Mann. Stand der Entwicklung. 2008, BfS Neuenburg.


Fussnoten

(1) Geschlechterforschung gründet in der Frauenforschung, erweitert aber deren wissenschaftliche Konzepte. Damit wird auch eine Männer-, Jungen-, Schwulen-, Lesben- und Queerforschung möglich. (Queer Theory analysiert und dekonstruiert sexuelle Identitäten. Sie widmet sich insbesondere allen nicht-heterosexuellen Praktiken.) Seit den 1980er Jahren werden zunehmend neue Kategorien in die Gender-Studies einbezogen und auf interdisziplinärer Ebene geforscht. Aktuelle Geschlechterforschung beschäftigt sich nun auch mit männlich dominierten Wissenschaftsfeldern wie der internationalen Friedens- und Konfliktforschung sowie der Wirtschafts- und Finanzpolitik oder Globalisierungsfragen.

(2) In der Schweiz basiert Gender-Mainstreaming in erster Linie auf der Bundesverfassung. In Art. 8, Abs. 3 heisst es; "Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit." Gender-Mainstreaming wird auch im Aktionsplan der Schweiz von 1999 (S. 14) explizit als Priorität festgehalten; "Einen konzeptuellen Rahmen und eine Methodologie für einen umfassenden Gleichstellungsansatz erarbeiten und bei allen Programmen, Politiken und Praktiken anwenden (Gender-Mainstreaming)."


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Quelle:
friZ - Zeitschrift für Friedenspolitik 4/08, Dezember 2008, S. 10-12
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veröffentlicht im Schattenblick zum 6. März 2009