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INTERVIEW/040: Digitaldilemma - Ein- und Übersichten zu Online-Therapien ...    Eileen Bendig im Gespräch (SB)


Das Motto des Landestags der Psychologie 2017 (*) am 8. Juli in Stuttgart lautete "Beziehung 4.0 - Macht Digitalisierung alles besser?". Der Nachmittags-Workshop der MA-Psychologinnen Eileen Bendig und Ann-Marie Küchler widmete sich der Einbindung Internet- und mobilebasierter Interventionen (IMIs) in die psychotherapeutische Versorgung.



IMIs - ein therapeutisch und ökonomisch verlockendes Heilsversprechen

Interview mit der MA-Psychologin Eileen Bendig, Universität Ulm, über Internet- und mobilebasierte Interventionen bei psychischen Störungen


Für den Schattenblick (SB): Was sind IMIs, und sind sie so kompliziert wie sie klingen?

Eileen Bendig (EB): Es sind meist umfangreiche Selbsthilfe-Programme. Sie können vor allem aufklärend und präventiv oder therapieflankierend eingesetzt werden. Einige dienen der Nachsorge und Rückfallprophylaxe. Die Zahl von Rückfällen konnte durch eine internetbasierte Nachsorge, die auf eine stationäre psychotherapeutische Behandlung folgte im Durchschnitt um zwei Drittel gesenkt werden. In Ländern, in denen es bereits möglich ist, IMIs als therapeutische Interventionen einzusetzen, gibt es auch Psychotherapie-Sitzungen, die technisch ganz unterschiedlich umgesetzt werden können - beispielsweise per Videokonferenz stattfinden.

SB: Zur Begleitung oder Behandlung welcher psychischen Störungen eignen sie sich?

EB: In mehr als einhundert Studien wurde gezeigt, dass sie unter anderem bei Depression, Angsterkrankungen, Essstörungen, Posttraumatischen Belastungsstörungen und chronischen Schmerzen geeignet sind. Auch bei Paartherapie und Elterntrainings haben sie gute Ergebnisse gezeitigt. Ihr Einsatz ist nicht auf psychische Erkrankungen beschränkt, sondern auch bei Krebs, Multipler Sklerose, chronischen Kopfschmerzen und anderen Erkrankungen möglich.

SB: Das klingt sehr nach einem umfassenden Heilsversprechen ...

EB: ... was es nicht ist. Die Studien liegen zwar vor, sie stammen in Deutschland jedoch aus der Forschung. In verschiedenen Ländern, wie Australien und Schweden, gehören IMIs aber bereits zur gesundheitlichen Routineversorgung.

SB: Gibt es aus Ihrer Sicht überhaupt Grenzen?

EB: Aktuell werden Interessierte in Studien häufig bei Suizidgefahr, schweren Depressionen und komplexer Psychopathologie von einer Teilnahme ausgeschlossen. Es gibt jedoch Anzeichen, wonach IMIs auch bei schweren depressiven Symptomen oder lebensmüden Gedanken hilfreich sein könnten. Man braucht dann allerdings hochstrukturierte Vorgehensbeschreibungen und Sicherheitsstandards für die Onlinetherapien und sicherlich noch deutlich mehr Forschung.

SB: Und das unabhängig vom Alter? Setzen Internet- und mobilebasierte Interventionen nicht eine starke Internetaffinität voraus, die generationsübergreifen noch nicht gegeben ist?

EB: Es sind vor allem gebildete Frauen mittleren Alters, die ähnlich wie von klassischen Therapieangeboten auch von den internetgestützten erfolgreich Gebrauch machen. Die Studienlage widerlegt hier das Vorurteil, IMIs eigneten sich v.a. für sehr internetaffine Menschen.

SB: Könnte man in der Entwicklung der Programme, der Apps, SMS, Video- und Audio-Dateien u.a.m., die sich unter IMIs subsumieren lassen, eine Reaktion auf den Mangel an Therapieplätzen, lange Wartezeiten und eine Zunahme psychischer Erkrankungen sehen?

EB: Das wäre zu kurz gegriffen. Versorgungslücken ließen sich damit sicher verringern. Vor allem aber geht es darum, den vielen, die dauerhaft ohne Therapie bleiben, einen niedrigschwelligen Einstieg zu bieten: Menschen, die wegen ihrer Arbeitsbedingungen oder einer körperlichen Behinderung regelmäßige Sitzungen beim Therapeuten scheuen oder die Angst vor Stigmatisierung haben. Zudem lässt sich klassische Psychotherapie durch diese technik-gestützten Interventionen effektiver gestalten. Bereits bei den ersten Symptomen lassen sich IMIs einsetzen. Sobald sie sich verstärken, kann man dann beispielsweise zur klassischen face-to-face Therapie switchen. Das Monitoring könnte im Nachgang wieder ohne die Anwesenheit eines Psychotherapeuten stattfinden. Dieser Ansatz wird in der Literatur auch als blended- und stepped-care Ansatz bezeichnet.

SB: Wie viele Psychotherapeuten in Deutschland arbeiten bereits mit IMIs?

EB: Noch finden IMIs in Deutschland vorwiegend im Rahmen der Forschung statt. Die Bereitschaft der Krankenkassen das zu ändern ist jedoch groß, und die meisten großen Krankenkassen bieten ihren Versicherten mittlerweile auch eine IMI gegen Depression an. Auch unter Psychotherapeuten wächst das Interesse. Und was den sehr wichtigen Datenschutz betrifft, so sind Kontrollmaßnahmen gesetzlich vorgeschrieben, wenn es um den Umgang mit persönlichen Daten geht. Für IMIs gelten Vorschriften, was die Sammlung und Verwaltung von Nutzerdaten betrifft, außerdem die Verschlüsselung der Daten und die Meidung unsicherer Kommunikationskanäle.

SB: Sehen sich viele Psychotherapeuten in ihrer Existenz bedroht, abgelöst von Computern - so wie viele Beschäftigte in Industriebetrieben?

EB: Ja, aber viele erkennen inzwischen auch die Chance, bestimmte Elemente ihrer Arbeit auslagern zu können und dafür mehr Zeit für die Therapie im engeren Sinne zu haben. Zugegeben - manchen fehlt auch die Idee, wie das funktionieren soll. Das ist immer so bei Veränderungen. Aufklärung, wie meine Kollegin Ann-Marie Küchler und ich beim Landestag der Psychologie in Stuttgart am 8. Juli in Stuttgart geleistet haben, ist nötig.

SB: Online-Therapie, hieß es noch vor wenigen Jahren, könne nicht funktionieren, da der Beziehungsaufbau zwischen Therapeuten und Patienten als zentraler Wirkfaktor dann entfalle.

EB: Doch inzwischen wissen wir, dass es auch andere Wirkfaktoren gibt, die Therapie erfolgreich machen können. Trotz ausbleibender sozialer und nonverbaler Signale bei den IMIs - so zeigen bisherige Studien - kann eine von Patienten als vergleichbar gut wahrgenommene Beziehung aufgebaut werden wie im Face-to-Face-Setting.

SB: Wie ist das möglich?

EB: Wir wissen aus der Sozial- und Medienpsychologie, dass durch die Anonymität der Patienten ein höheres Maß an Offenheit, Selbstoffenbarung und Aufrichtigkeit entsteht. Anonymität kann auch einen Enthemmungseffekt haben und zu weniger Scham führen. Zusammenfassend kann man sagen, dass IMIs wirken; auch wenn die Kommunikation minimal gehalten ist oder eine IMI ohne direkten Kontakt, also als Stand-Alone Intervention, angeboten wird. Hier ist weitere Forschung zu Wirkfaktoren nötig.

SB: Noch sehe ich vor meinem geistigen Auge nur den Patienten mit seinem Smartphone oder Computer an einem Ende der Leitung, am anderen ein technisches Gerät. Wer ist der Mensch daneben oder dahinter und welche Qualifikation hat er?

EB: Dahinter stehen mehrere Menschen: Psychologen und Psychotherapeuten, die die Programme entwickelt haben; außerdem sogenannte e-coaches, die im Moment (in der Forschungsphase) ebenfalls zumindest Psychologen sind. In der Routineversorgung gilt weiterhin die Approbation als Qualitätsstandard. In der Forschung werden verschiedene Qualifikationsniveaus getestet, wobei gesicherte Aussagen schwierig sind, da nicht die Wirksamkeit, sondern das Vermeiden von seltenen, aber gravierenden Ereignissen wie z.B. Suizid leitend für die Festlegung des notwendigen Qualifikationsniveaus sein muss. Beim Landestag werden wir auf Aufgaben der e-Coaches eingehen und Beispiele vorstellen.

SB: Welches Therapieverfahren liegt den IMIs zugrunde?

EB: Sie basieren mehrheitlich auf kognitiv-verhaltenstherapeutischen Techniken, die sich dafür besonders gut eignen. Es gibt aber bereits auch Interventionen, deren Techniken beispielsweise auf der dritten Welle der Psychotherapie beruhen, wie mindfulness-basierte Verfahren oder psychodynamisch orientierte Ansätze.

SB: Bedeutet das eine noch stärkere Verdrängung anderer Verfahren?

EB: Das ist nicht beabsichtigt. Die Verfahren behalten ihre Bedeutung in der klassischen Psychotherapie. Patienten entscheiden selbst, was für sie das Richtige ist. Wir können und wollen Patienten weder das Verfahren, den Therapeuten, noch bestimmte Programme vorschreiben. Aber er sollte die Möglichkeiten kennen, um eine Entscheidung nicht auf der Basis eventueller Vorurteile, sondern auf der Grundlage von Information fällen zu können.

SB: Wodurch wird der Einsatz der IMIs vor allem ver- oder zumindest behindert?

EB: In erster Linie durch die noch bestehenden berufs- und datenschutzrechtlichen Einschränkungen sowie durch ethische Bedenken. Skepsis existiert z.B. bezüglich der Transparenz der Angebote, dem eigentlichen Anliegen sowie der Professionalität der Berater und dem Umgang mit Notsituationen. Angesichts der Erfolge könnte man es umgekehrt aber auch für ethisch bedenklich halten, Patienten diese Möglichkeiten zu verwehren.

SB: Was lässt Sie trotz der erwähnten Vorbehalte dennoch optimistisch sein?

EB: Zum einen die nachgewiesen guten Erfahrungen anderer Länder, die man nicht ignorieren kann. Zum anderen die Bewegung, die in die Debatte gekommen ist. Wir sind von einer stärkeren Inanspruchnahme nicht mehr so weit entfernt. Das Interesse der Krankenkassen habe ich erwähnt, es gibt aber auch zunehmend Aufgeschlossenheit bei den Psychotherapeutenkammern und bei vielen Psychotherapeuten. Man beschäftigt sich bereits mit der Entwicklung von Qualitätsstandards für IMIs, um sicherzustellen, dass Menschen an Programmen mit hoher Qualität teilnehmen können und nicht einem unübersichtlichen Markt ausgeliefert sind.

SB: Reden wir über Geld. Eine Studie zu Sozialen Phobien soll ergeben haben, dass bei vergleichbarer Symptomreduktion die Kosten pro Person bei Anwendung von IMIs 464 US-Dollar betrugen, bei Face-to-Face-Behandlung 2687 US-Dollar. Gehen Forscher und Krankenkassen gleichermaßen von solchen Kostensenkungen nach Einführung der IMIs aus?

EB: Bisher gibt es nur wenige Studien ausreichender Qualität, die Schlüsse bezüglich der Kosten von IMIs zulassen. Sie sprechen für eine Kostensenkung v.a. in Hinblick auf indirekte Kosten, wie Arbeitsunfähigkeit aber auch direkte Kosten durch den geringeren Zeitaufwand der Therapeuten.

SB: Muss man da nicht befürchten, dass unter dem Eindruck solcher Sparpotenziale mögliche Nachteile ausgeblendet werden?

EB: Im Vordergrund stehen die Patienten, denen optimal und zeitnah geholfen werden soll. Genesungsprozesse zu beschleunigen heißt ja nicht nur oder nicht einmal in erster Linie Kosten zu senken, sondern Patienten Leid zu ersparen. Außerdem geht es um aussichtsreichere Prävention und Nachbehandlung. Wenn wir das alles erreichen und dabei weniger Geld ausgeben, dann spricht m.E. nichts dagegen.


(*) Veranstalter der Tagung "Beziehung 4.0 - macht Digitalisierung alles besser?" ist die Landesgruppe Baden-Württemberg des Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP)
http://www.bdp-bw.de/aktuell/2017/2017_ltp_ueberblick_wsinfos.html


Weitere Beiträge zum Landestag der Psychologie 2017 "Beziehung 4.0 - macht Digitalisierung alles besser?" am 8. Juli in Stuttgart im Schattenblick unter:
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT

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8. Juli 2017


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