Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT

INTERVIEW/023: Ungleichheit sozial - Arena der Konkurrenzgewalten, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 4 (SB)


In diesen Belegschaften herrscht schlicht und einfach Krieg

Vierter und letzter Teil des Gesprächs mit den Soziologen Friederike Bahl und Philipp Staab am 31. März 2014 in Hamburg


Links arbeitende Menschen und ein eher düsteres Leben, bezeichnet als 'Das Volk im heutigen Staat', rechts geselliges Leben ohne Arbeit, genannt 'Das Volk im Zukunftsstaat' - Graphik: by Friedrich Eduard Bilz (Public domain), via Wikimedia Commons

Gesellschaftsutopie anno 1904 - "Das Volk im Zukunftsstaat", Illustration von Friedrich Eduard Bilz
Graphik: by Friedrich Eduard Bilz (Public domain), via Wikimedia Commons

Armut national wie global zu benennen, ihre Herkünfte und wahrscheinlichen Entwicklungstendenzen aufzuzeigen, sagt noch nichts über den Standpunkt aus, den Forschung und Forschende dabei einnehmen. Wie verortet sich die Soziologie, zu deren klassischen Betätigungsfeldern die Ungleichheitsforschung gehört, in diesem offenen Konflikt? Bezieht sie Stellung wie etwa der Armutsforscher und Politikwissenschaftler Prof. Dr. Christoph Butterwegge, für den Armut als disziplinierende Drohkulisse politisch gewollt ist? [1]

Die Klärung dieser Frage wird erschwert durch einen Bedeutungswandel, den Begriffe, analytische Ergebnisse, politische Konzepte und Utopien in den zurückliegenden Jahrzehnten wie beiläufig durchlebt haben. Trifft, wer heute "Ausbeutung" sagt, eine bloße Tatsachenfeststellung oder impliziert dies eine ablehnende oder gar kämpferische Haltung? Und wie ist angesichts dieses Dilemmas die in der jüngeren Soziologie, so durch ein Projekt der am Hamburger Institut für Sozialforschung tätigen Soziologen Friederike Bahl und Philipp Staab, vorangetriebene Erforschung des am unteren Rand der Arbeitswelt neu entstandenen Dienstleistungsproletariats zu bewerten?

Zu deren Forschungsergebnissen gehört unter anderem, daß in diesen Arbeitsfeldern "Krieg" herrscht der unter schlechtesten Bedingungen tätigen Menschen gegeneinander, und daß ihnen jegliche Perspektive auf eine Verbesserung ihrer Lage abhanden gekommen ist. Stellt dies nun einen Warnruf an "die Politik" dar, angesichts des drohenden Verlustes glaubwürdiger Zukunftsperspektiven für Abhilfe zu sorgen? Fragen dieser oder ähnlicher Art überschreiten, da spekulativ, den selbstgesteckten Rahmen soziologischer Forschung im Fachverständnis der beiden Nachwuchswissenschaftler.

Auch der Begriff der Utopie scheint einem Bedeutungswandel zu unterliegen vom ehemaligen Entwurf einer erst noch zu schaffenden gerechten Gesellschaft hin zu der zynischen Erklärung, daß wer unten ist, auch unten bleibt. In dem Gespräch, das der Schattenblick mit Friederike Bahl und Philipp Staab rund um ihr Projekt führte, haben wir sie zum Abschluß gebeten, sich zur Frage möglicher Utopien und ihrer heutigen Relevanz zu äußern.


Schattenblick (SB): Was geschieht mit den Ergebnissen Ihrer Arbeit?

Philipp Staab (PS): Wir sind dabei, sie zu publizieren und in der Wissenschaft unterzubringen. Definitiv kommen von uns zur Buchmesse im Herbst in der Hamburger Edition zwei Bücher heraus. Meines heißt "Macht und Herrschaft in der Servicewelt" und dreht sich um die Herrschaftsfrage in einfachen Diensten.

Friederike Bahl (FB): In meinem geht es um "Gesellschaftsbilder im Dienstleistungsproletariat", also die Subjektivitätsfrage nach komplementären Perspektiven.

SB: Inwieweit können die Ergebnisse auch für die Regierungspolitik, für administrative Maßnahmen und Entwürfe, fruchtbar gemacht werden?

PS: Das hängt vor allem davon ab, wie das abgefragt wird.

SB: Gibt es hier am Institut Erfahrungen damit?

PS: Es ist das erste Projekt, das wir in Eigenverantwortung durchgeführt haben. In anderen Fällen ist für die politische Kommunikation der Ergebnisse mein Vorgesetzter zuständig gewesen, insofern haben wir da keine persönlichen Erfahrungen.

SB: Ihr Projekt betrifft die Lebens- und Arbeitsverhältnisse hier in Deutschland. Der Titel, unter dem die Podiumsdiskussion [2] lief, lautete "Die Zukunft globaler Ungleichheit". Können Sie da einen Bogen spannen?

PB: Wir haben immer versucht, die globale Perspektive mit zu reflektieren. Es ist forschungstechnisch sehr schwierig, ein solches Projekt, in dem vier Jahre Arbeit von zwei Leuten stecken, zu internationalisieren, dafür ist das Geld nicht da. Aber wir wissen aus der Sozialstrukturanalyse, daß das Dienstleistungsproletariat als Arbeitsmarktsegment ein Phänomen ist, daß es in der OECD-Welt entwickelter Ökonomien und Staaten überall gibt. Es ist unterschiedlich stark entwickelt je nachdem, ob der Arbeitsmarkt eher noch industriell organisiert ist wie in Deutschland oder extrem tertiarisiert wie in Großbritannien. Statistisch, vom 'big picture' her, ist es ähnlich, auch wenn das Ergebnis letzten Endes natürlich immer durch nationale, wohlfahrtsstaatliche Institutionen gefiltert wird.

SB: Und weltweit?

PS: Eine interessante Frage - da ist soziologischer Experimentalismus gefragt. Ab welchem Grad an Gemeinsamkeiten glauben wir eigentlich, daß unser Phänomen jenseits der OECD-Welt eine Rolle spielt? In einem streng sozialstrukturellen und klassenanalytischen Sinne würde ich diese Frage auf die OECD-Welt beschränken.

SB: Aus prinzipiellen Erwägungen oder weil Sie über etwas anderes keine zuverlässigen Aussagen machen können?

PS: Natürlich nehmen wir auch wahr, was außerhalb der OECD-Welt passiert und was darüber soziologisch oder ethnologisch geschrieben wird. Da deutet sich, wie Heinz Bude schon gesagt hat, ein Comeback von Proletarität auf globaler Ebene an. In China zum Beispiel haben wir mit der Wanderarbeiterfrage eine relativ analoge Wiederkunft der Verhältnisse des späten 19. Jahrhunderts in Europa - oder ist es doch etwas anderes? Wir sehen Ökonomien wie beispielsweise Indien, die, ohne jemals richtige Industriegesellschaften gewesen zu sein, jetzt boomende Dienstleistungsgesellschaften sind. Ist das eine analoge Entwicklung zu dem, was wir hier Dienstleistungsproletariat nennen? In Teilen bestimmt, denn was die Arbeit angeht, gibt es dieselben Rationalisierungsproblematiken.

SB: Läßt sich das nicht auch darauf zurückführen, daß die Unternehmen transnational operieren?

PS: Für die höherwertigen Dienstleistungsfirmen beispielsweise im IT-Bereich stimmt das, für die großen Wasserträgerfirmen, die wir uns angeguckt haben, eher nicht. Daß ein Unternehmen in Deutschland aktiv ist und nach Frankreich expandiert, kann schon vorkommen, aber richtige Global Player sind die Reinigungsunternehmen - auch die, die den deutschen Markt beherrschen - eher nicht.

SB: Gibt es durch die Globalisierung Einflüsse - Stichwort Migration -, die vorher nicht da waren?

FB: In der Care-Debatte spielt das sicherlich eine maßgebliche Rolle. Bei der Altenpflege haben wir uns sowohl traditionelle Dienste und Institutionen als auch die sogenannten 'Live-Ins' angeschaut, die gerade angesichts des demographischen Wandels in Deutschland zunehmend eine Rolle spielen. Das sind Pflegekräfte, die wirklich 24 Stunden als Haushaltshilfe und Pflegekraft im Haushalt leben. Da wird von den vermittelnden Agenturen ein reguläres Arbeitsverhältnis hergestellt. Es ist natürlich auch ein weites Feld für Schwarzarbeitsverhältnisse, wo der Kunde selbst zum Arbeitgeber wird, und da spielt die Globalisierung bzw. Europäisierung eine enorme Rolle. Weil in der Pflege nicht alles über institutionelle und ambulante Dienste geleistet werden kann, wurde für solche dienstleistenden Tätigkeiten der Markt geöffnet. Deshalb gibt es immer mehr 'Live-In'-Kräfte, die vielfach aus Osteuropa kommen, häufig aus Polen, weil da die Entfernungen nicht so groß sind. Die haben dann transnationale Lebensweisen: Hier sind sie vollständig in den Familienalltag eines fremden Menschen, den sie pflegen, integriert, haben aber ihre eigene Familie ganz oft noch in Polen. Die arbeiten teilweise zu Löhnen und Konditionen, die viele Arbeitnehmer hierzulande nicht für sich annehmen würden.

PS: Strukturell sind es drei Faktoren, die die Belegschaften der einfachen Dienste jenseits der Haushaltsdienstleistungen prägen. Das ist die Feminisierung, also daß es hauptsächlich Frauen sind, und die Ethnisierung der Arbeitsmärkte. In den einfachen Diensten landen alle Verliererpopulationen des Arbeitsmarktes. Das sind schlicht die Bildungsverlierer und die haben überproportional - das ist statistisch leider so - einen Migrationshintergrund. Das betrifft auch die Kinder der Gastarbeiter. Das liegt natürlich am Arbeitsmarkt, in dem schon die erste Generation der Einwanderer landet - vor allem, weil wir in Deutschland ein sehr hartes Regime haben, was die Anerkennung von Bildungsabschlüssen angeht. Man kann als Akademikerin aus Afrika als Putzfrau in Deutschland enden, wenn man das Pech hat, nicht zu der allergefragtesten Gruppe hochqualifizierter Arbeitnehmer zu gehören. Deswegen ist der dritte Faktor die diffuse Rolle der Zertifikate, also die Tatsache, daß das ein Jedermann- bzw. Jedefrau-Arbeitsmarkt ist, bei dem vollkommen unklar ist, welche formale Qualifikation man eigentlich dafür braucht.

Das hat immense Folgen für die Arbeitssituation. Wir können uns überhaupt keine Homogenisierung einer Gruppe vorstellen, die so extrem heterogen ist - geschlechtlich, ethnisch und in Hinsicht auf die formalen Qualifikationen. Die Idee, sich irgendwie als eine Einheit empfinden zu können, wird für die Leute absurd. Unter den Bedingungen der sozialen Rationalisierungen, die nicht technisch, sondern durch personale Herrschaft durchgesetzt werden, ist ein Effekt, daß in diesen Belegschaften häufig schlicht und einfach Krieg herrscht. Das sind Haifischbecken, denn die einzige Art, wie die Leute irgendein Privileg - und seien es nur außerplanmäßige Raucherpausen, aber natürlich auch eine Entfristung von Arbeitsverträgen, das Aufstocken eines 400-Euro-Jobs auf eine halbe Stelle oder dergleichen - erreichen können, besteht darin, Kontrollaufgaben zu übernehmen und gegen ihre Kolleginnen und Kollegen zu arbeiten.

Die Soziologen mit SB-Redakteurin, vor Zeitschriftenwand sitzend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Friederike Bahl und Philipp Staab mit SB-Redakteurin
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Herr Bude sagte in einem SWR2-Interview zum Abschluß: "Vielleicht gibt es eine Realität von Ungleichheit, wo wir am Ende eines politischen Bestecks sind, und uns das als Gesellschaft auch eingestehen sollten." [3] Teilen Sie diese Auffassung?

PS: Ja, klar. Es ist in diesen Tagen absolut offenkundig, daß der Konsens, der sich bezüglich eines politischen Mindestlohns etabliert hat, das objektive, formale Ende einer bestimmten korporatistischen Tradition in Deutschland darstellt. Wir haben jetzt akzeptiert, daß wir es mit einem Arbeitsmarktsegment zu tun haben, das nicht mehr durch kollektive Stellvertretungen zu regeln ist, weil die Leute nicht in der Gewerkschaft sind und die Gewerkschaften niemanden mehr so richtig vertreten.

SB: Also übernimmt der Staat die gewerkschaftliche Arbeit?

PS: Ja. Wir haben ein Arbeitsmarktsegment, das systematisch von politischen Löhnen geprägt ist. Das ist die Form, wie wir politisch reinen Tisch gemacht haben. Ich würde sagen, wir haben uns das gerade eingestanden! Das ist vielleicht noch nicht allen so hundertprozentig klar geworden.

SB: Auf dem Workshop gab es ein Panel mit dem Titel 'Transformation und Protest' [4]. Was ist angesichts dessen, wovon Sie eben gesprochen haben, unter Transformation zu verstehen?

PS: Veränderung, also die Frage, ob Widerstand gegen bestimmte Dynamiken der Ungleichheit eine Veränderung des Ungleichheitsregimes wie beispielsweise des Austeritätsregimes in Südeuropa bedingen könnte, so wie man sich das klassisch bei der Arbeiterbewegung vorgestellt hat. Das war ein Widerstand gegen Ungleichheit, der das Ungleichheitsregime transformiert hat. Ist ein solcher Widerstand, zum Beispiel Occupy oder dergleichen, heute vorstellbar? Haben die Leute überhaupt so eine Agenda?

SB: War diese Frage auch Gegenstand Ihrer wissenschaftlichen Arbeit oder wurde sie eher nur Rande des Workshops thematisiert?

PS: Unsere Arbeit betrifft sie derzeit nicht. Aber für Klaus Offe und Oliver Nachtwey, die auf dem Workshop-Panel darüber referiert haben, sind das Arbeitsschwerpunkte. Nachtwey, der hier im Haus Gastwissenschaftler ist, hat ein großes Projekt zu Occupy Frankfurt gemacht. Seine These ist, daß wir es mit einer Transnationalisierung von Problemlagen zu tun haben. Das Austeritätsregime findet nicht nur im nationalstaatlichen Rahmen statt. Die Troika-Politik betrifft nicht nur Griechenland, sondern auch Spanien und Italien. Eigentlich müßte sich dagegen auf der europäischen Ebene Widerstand formieren. Wir haben aber keine europäische Gesellschaft und Öffentlichkeit, in der sich Widerstand artikulieren könnte. Das geschieht im weitesten Sinne in nationalen Bewegungen. Das ist mit der Idee von Ungleichzeitigkeit gemeint. In Deutschland beispielsweise ist im Moment kein Protest gegen Austeritätspolitik zu mobilisieren.

SB: Der Begriff Utopie hat einen Wandel vollzogen in Hinsicht auf seine Bedeutung und den politischen Stellenwert, den verschiedene Generationen ihm beimessen. Sind Utopien für Sie - jetzt einmal losgelöst von Ihrer professionellen Beschäftigung - überhaupt noch relevant?

FB: Ja. Das ist mit unserem Projekt ein Stück weit verknüpft, weil natürlich die schon diskutierte Frage der Zukunft immer auch mit dem Utopie-Gedanken verknüpft war. Für die Gesellschaftsbildstudie war für uns immer die klassische Untersuchung der Autorengruppe um Heinrich Popitz maßgeblich: "Das Gesellschaftsbild des Arbeiters". [5] Die hatte noch eine ganz klassische Utopie-Vorstellung. Da wurde nämlich gefragt: Wie stellt ihr euch die Welt in 50 Jahren vor? Dabei hatten die Autoren nicht im Sinn, einfach nur nach der Zukunft zu fragen. Das ging über alle Betriebsfragen aus dem Alltagskontext der Arbeit und des Lebens der Leute hinaus und ermöglichte zu sagen, wie man sich alternative Zukünfte vorstellt. Die wollten damit utopische Energien abfragen. Das ist natürlich auch ein Kind der 1950er Jahren, in denen die Studie entstanden ist.

Wir haben den einfachen Dienstleistern diese Frage auch gestellt. Die teilen allesamt und branchenübergreifend eher das Gefühl einer suspendierten Zukunft. Für die spielt Utopie überhaupt keine Rolle mehr, das hat sich ein Stück weit verbraucht; und wenn doch, sind es eher Privat-Utopien. Wenn Zukunft überhaupt thematisiert wird und nicht in düsteren Weltuntergangsvisionen vorkommt, was häufig der Fall ist, dann gibt es interessanterweise eine ironische Haltung. Die Leute stellen sich nämlich vor, sie sind morgen oder in fünf Jahren nicht mehr Zeitungs- oder Postzusteller, sondern haben ihr Restaurant auf Thailand. Oder die Supermarkt-Angestellte, die schon seit 10 Jahren im selben Feld ihre Abteilung leitet, sagt, sie wartet noch auf den reichen Texaner und dann macht sie ihre Viehranch in Texas auf.

Wir wissen ziemlich sicher, und die statistischen Mobilitätsdaten legen uns das nahe, daß wir die in fünf Jahren immer noch in ihrem Bereich finden. Die privaten Utopien, die die entwickeln, setzen zwar eine Frist, aber das ist eher eine innere Verfristung, die sich nicht einlösen lassen wird, aber es leichter macht, das Hier und Jetzt zu verkraften. Das ist eine ironische Haltung zur Utopie, die bei den Dienstleistern überproportional häufig vorkommt. Für mich ist das aussagekräftig dafür, wie wir heute auf Utopien schauen können.

SB: Die Frage zielte auch darauf ab, ob Sie persönlich mit gesellschaftlichen Utopien etwas anfangen können, und sei es - wieder in Verbindung mit Ihrer Arbeit -, daß Sie sagen, wenn wir eine bestimmte Feldforschung betreiben, könnte daraus politisch dies oder jenes erwachsen.

PS: Das nicht, aber in jeder anderen Hinsicht ja. Die Utopie-Frage ist extrem interessant, wir müssen uns ihr wissenschaftlich in den nächsten Jahren unbedingt widmen. Ich glaube nicht, daß das, was wir fürs Dienstleistungsproletariat herausgefunden haben, für die Gesamtgesellschaft repräsentativ ist. Wir haben heute eher mehr als weniger Utopien. Aber weil die utopische Landschaft stärker zerklüftet ist, drückt sich das weniger stark in großen politischen Kollektiven aus. Die Dynamiken des 20. Jahrhunderts - Liberalismus, Sozialismus, Konservatismus - diffundieren, die Unterschiede sind nicht mehr so klar; gleichzeitig florieren innerhalb der Gesellschaften konkrete Formen von Utopie. Wenn wir Utopie als einen Motor von dem, was kommen wird, also von tatsächlicher Zukunft begreifen, müssen wir das weniger als Umsetzung einer Idee begreifen, so wie wir uns das in einer früheren Generation vielleicht vorgestellt haben, sondern als ein soziales Experiment.

Nehmen Sie die Proteste gegen Stuttgart 21. Da treffen sich ganz unterschiedliche Handlungslogiken und völlig verschiedene Leute. Es stimmt nicht, daß das alles alte Ingenieure waren. Die unterschiedlichen Trägergruppen dieser Protestbewegung haben sich über eine lange Zeit hin immer wieder getroffen und viele Debatten geführt, und am Ende blieb etwas übrig; im Falle von Stuttgart 21 war das die Idee einer experimentellen Beteiligungsdemokratie. So entsteht aus der Interaktion konkreter Utopien eine etwas handfestere Idee, die dann - glaube ich - tatsächlich auch für die empirische Zukunft interessant ist.

Wir beide werden uns in der Forschergruppe hier am Haus als nächstes mit der Frage nach der Produktion von Zukunft unter den Bedingungen einer hochdifferenzierten, zerklüfteten Klassengesellschaft befassen. Friederike wird sich mit der Frage beschäftigen, wie die Politik auf ein Problem reagiert, von dem wir mittlerweile der Meinung sind, daß es überhaupt nicht zu lösen ist. Wie wird zum Beispiel der Klimawandel verhandelt? Wie organisiert die Politik Legitimität für ihr eigenes Handeln, wenn sie sagt, sie könne da eigentlich gar nichts machen? Ich werde mich den politischen Protestbewegungen in Deutschland und Europa widmen. Welche unwahrscheinlichen Allianzen sehen wir beispielsweise in dem wiedererstarkten Rechtspopulismus in Europa und in den sozialen Bewegungen und welchen Effekt hat das für die Zukunft?

SB: Spannende Themen. Wir bedanken uns sehr für das ausführliche Gespräch.

Friederike Bahl und Philipp Staab während des Interviews - Foto: © 2014 by Schattenblick

Auf zu neuen Ufern - Wie legitimiert die Politik ihr Handeln bei unlösbaren Problemen?
Foto: © 2014 by Schattenblick


Fußnoten:

[1] Siehe den Bericht über das Impulsreferat des Armutsforschers Christoph Butterwegge auf dem Bundeskongress Soziale Arbeit 2012 im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0014.html

[2] Siehe den Bericht zur Podiumsdiskussion im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
BERICHT/028: Ungleichheit sozial - Die Klassenfrage (SB)
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0028.html

[3] http://www.swr.de/swr2/kultur-info/kulturgespraech/zukunft-der-ungleichheit-heinz-bude/-/id=9597128/did=13075760/nid=9597128/ou82ax/index.html

[4] Am 21. März fand am Hamburger Institut für Sozialforschung unter Mitwirkung von Friederike Bahl und Philipp Staab ein Soziologen-Workshop zum Thema "Zukunft der Ungleichheit" statt. Eines seiner Panels hatte den Titel "Transformation und Protest", die übrigen waren Fragen nach "Herrschaft und Reproduktion von Ungleichheit" und "Subjektivitäten am Rande der Arbeitswelt" gewidmet.

[5] Die industriesoziologische Studie "Das Gesellschaftsbild des Arbeiters" wurde von Heinrich Popitz und anderen in den frühen 1950er Jahren durchgeführt. 600 Arbeiter eines Hüttenwerks wurden dabei zu ihrer Arbeitsrealität und ihren Einstellungen befragt.


Bisherige Beiträge zur "Zukunft globaler Ungleichheit" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/028: Ungleichheit sozial - Die Klassenfrage (SB)
INTERVIEW/019: Ungleichheit sozial - Primat der Politik? Prof. Dr. Anja Weiß im Gespräch (SB)
INTERVIEW/020: Ungleichheit sozial - Bruch der Hoffnungen, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 1 (SB)
INTERVIEW/021: Ungleichheit sozial - Vereinzelt, verloren und klassenlos, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 2 (SB)
INTERVIEW/022: Ungleichheit sozial - Seiltanzanalyse, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 3 (SB)

2. Mai 2014