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INTERVIEW/021: Ungleichheit sozial - Vereinzelt, verloren und klassenlos, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 2 (SB)


Von beschämender zu legitimer Abhängigkeit

Zweiter Teil des Gesprächs mit den Soziologen Friederike Bahl und Philipp Staab am 31. März 2014 in Hamburg


Gezeichnete Gesellschaftspyramide: ganz unten das für alle arbeitende einfache Volk, darüber reiche Bürger, Soldaten, geistliche und weltliche Herrscher und schließlich zuoberst, stellvertretend für den Kapitalismus, Dollars. - Graphik: by Artist not credited. Copyrighted 1911 by The International Pub. Co., Cleveland, Ohio (Wikimedia)

Klassenanalyse und Klassen(kampf)bewußtsein - vor über 100 Jahren ins Bild gesetzt im "Industrial Worker", einer Zeitung der internationalen Arbeitergewerkschaft "Industrial Workers of the World" (IWW), unter Verwendung eines in den Jahren 1900 und 1901 verteilten Flugblatts der "Union Russischer Sozialisten"
Graphik: by Artist not credited. Copyrighted 1911 by The International Pub. Co., Cleveland, Ohio (Wikimedia)

Die Existenz einer Proletarität ohne Proletariat, also die Entstehung proletarischer Verhältnisse und Lebenslagen ohne eine sich ihrer selbst als Klasse bewußten und organisierten ArbeiterInnenschaft, lautet einer der Befunde einer Feldstudie zum Thema Dienstleistungsproletariat in Deutschland, die Friederike Bahl und Philipp Staab vom Hamburger Institut für Sozialforschung in diesem Frühjahr abgeschlossen haben.

Im zweiten Teil eines Interviews, das der Schattenblick anläßlich eines von den beiden Soziologen mitorganisierten Workshops zur "Zukunft der Ungleichheit" führen konnte, erläutern die beiden Nachwuchswissenschaftler, wie sie bei ihrem Projekt vorgegangen sind und zu welchen, zum Teil auch für sie überraschenden Ergebnissen sie dabei gekommen sind.

Die Bereitschaft der in schlechtestbezahlten, körperlich harten und höchst unsicheren Arbeitsverhältnissen tätigen Menschen, buchstäblich "alles zu schlucken", ist eines davon. Die Soziologen konstatieren das Fehlen "etablierter Verliererkulturen", will sagen, Stätten bzw. Organisationen der Arbeiterbewegung, in denen sich Proletarier als Klasse noch kollektiv erleben und formen konnten.

Die Frage nach widerständigem Verhalten im Bereich des neuen Dienstleistungsproletariats wird im dritten und vorletzten Teil des Interviews erörtert werden, bevor es zum Abschluß um weitergehende Fragen beispielsweise nach der Relevanz sozialer Utopien geht.


SB: Wieviele Menschen haben Sie für Ihre Studie über das Dienstleistungsproletariat befragt und wie lange hat das Projekt gedauert?

FB: Das Projekt hat Mitte 2008 mit den ersten Interviews angefangen und ging dann bis 2011. Bei den Befragungen haben wir eine gewisse Offenheit, aber auch einen Leitfaden gehabt. Letztlich haben wir uns an der Erzählweise der Leute orientiert und haben die immer wieder reflektiert.

PS: Wir haben ungefähr 60 Beschäftigten-Interviews geführt und 10 bzw. 20 dokumentierte Experten-Interviews plus Gruppendiskussionen, an denen in der Regel sechs bis acht Leute beteiligt waren. Unser Primärzugang war jedoch der der teilnehmenden Beobachtung, d.h. wir sind mit den Leuten mitgegangen. Wir haben fast zwei Jahre im Feld verbracht und versucht, uns an die Leute dranzuhängen. Wir haben uns zu deren Stammtischen einladen lassen, waren bei ihnen zu Hause, haben ihre Wohnungen angeguckt und da auch Interviews geführt. Wir sind auch mit ihnen einkaufen gegangen, um nicht nur zu sehen, wie der Zuschnitt und die Herrschaftserfahrung der Arbeit ist, sondern wie ihre reale Lebenswelt funktioniert.

Das ist der Kerngedanke unseres Projekts: Wenn man so etwas wie Proletarität in der Gegenwart deutlich machen will, kann es nicht nur um die Kategorie der Arbeitswelt gehen, sondern die tatsächliche Lebensweise. Wir sehen heute so etwas wie eine Proletarität ohne Proletariat. Uns fehlen die Institutionen, die etablierten Verliererkulturen, die Arbeitervereine usw., in denen sich die Industriearbeiter noch versammeln und irgendwie Kollektivität erleben konnten und in denen sich ein Proletariat, eine Arbeiterschaft als Kollektivsubjekt formen konnte. Was wir heute dagegen haben, sind proletarisierte Lebens- und Arbeitsverhältnisse.

SB: Wie würden Sie anhand Ihrer Studie die Lebensrealität dieser Menschen beschreiben?

PS: Das eine, eigentlich Triviale ist, daß die Leute natürlich unter einer erheblichen materiellen Knappheit leben müssen. Das hat Folgen für den Lebenszuschnitt, vor allem für die Konsummuster. Die Leute konsumieren anders als wir. Wir hier im Haus haben das in einem anderen Projekt einmal "Discounting" [1] genannt. Das bedeutet zum Beispiel, daß ein Großteil der Freizeit dafür draufgeht, systematisch diese Blättchen von den Discountern zu vergleichen. Da, wo die Butter 9 Cent billiger ist, wird dann hingegangen, auch wenn das 10 Kilometer weiter weg ist. Alles, was über den täglichen Bedarf hinausgeht - Bücher und Klamotten, auch für die Kinder und Enkel usw. -, wird auf Flohmärkten gekauft. Die Leute erzählen uns mit einem gewissen Stolz, wie findig sie eigentlich sind, ihr Leben unter den Bedingungen materieller Knappheit systematisch gut zu methodisieren und damit über die Runden zu kommen.

Philipp Staab während des Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Philipp Staab - "Uns fehlen die etablierten Verliererkulturen"
Foto: © 2014 by Schattenblick

Ein zweites Element besteht darin, daß die Arbeit unter einem radikalen Rationalisierungsdruck steht und die Technik den Leuten nichts hilft. In einem modernen Automobilwerk wird ihnen das Chassi auf Hüfthöhe gefahren, dann arbeiten sie im Stehen mit geradem Rücken und viel Arbeitsschutz. Aber wenn sie als Putzfrau unterwegs sind, bücken sie sich die ganze Zeit. Das geht auf den Rücken und auf die Knie. Die Pflege ist dafür ein gutes und wirklich extremes Beispiel. Hier sind die Leute spätestens mit 40 so weit, daß ihre Freizeit für diese Art von Konsum und die körperliche Regeneration draufgeht. Das können Wissensarbeiter wie wir uns schwer vorstellen, aber das hat in klassischer Weise Proletarität schon immer gekennzeichnet: harte körperliche Arbeit.

SB: Was waren Ihre überraschendsten Ergebnisse?

FB: Mich hat überrascht, daß in der Debatte um Dienstleistungsarbeit immer von einer Interaktivität ausgegangen wird, die im Bereich der einfachen Dienstleistungsarbeit kaum eine Rolle spielt und wo sie es doch tut, wird sie eher reduziert. Im Supermarkt zum Beispiel gilt die sogenannte 1:1-Besetzung. D.h. eine Arbeitnehmerin ist im Lager und arrangiert die Waren, die andere hat die komplette Verkaufsfläche zu betreuen, springt von der Kasse zum Obst, sortiert das durch und macht alles, was so anfällt. Von Kontakt zum Kunden kann da nicht die Rede sein. Im Bereich der Gebäudereinigung ist man zwar sehr nahe am Kunden, schließlich arbeitet man in seinem Bürokomplex, aber da die Reinigungsschichten so arrangiert werden müssen, daß die Leute, wenn der normale Büro-Zyklus beginnt, schon wieder draußen sein müssen, werden wir ihnen niemals begegnen.

SB: War das nicht schon immer so?

PS: Nein, nicht in der Gebäudereinigung, die wurde bis in die 80er Jahre sehr häufig in großen Betrieben organisiert und fand zeitgleich statt, in Baukonzernen beispielsweise parallel zum Bau. Wenn es um das Putzen von Behörden ging, war das im Öffentlichen Dienst angedockt. Da gab es den klassischen Hausmeister, und der putzte während der Arbeitszeit.

FB: Bis heute wird nicht nur in der Disziplin, sondern auch gesellschaftlich so darüber nachgedacht, daß Dienstleistungsarbeit interaktiv ist und sich daraus Chancen und Möglichkeiten der Anerkennung generieren. Daß die komplett weggefallen sind, war das Erste, was überraschend und zugleich eindrücklich war. Das Zweite ist, daß uns, wenn wir nach der Zukunft der Ungleichheit fragen, im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit eigentlich vielfältige Kompetenzen bei umtriebigen Subjekten begegnen, die am Ende das Gefühl einer suspendierten Zukunft teilen. Das Vertrauen in die Potentiale der Zukunft hat sich am unteren Rande der Arbeitsgesellschaft weitgehend verbraucht.

Das bedeutet einen Unterschied zur einfachen Industriearbeit, weil da die instrumentelle Arbeitsorientierung noch funktioniert, d.h. Arbeit ist ein Mittel zum Zweck der privaten Lebensführung. Sie ist zwar in vielen Fällen monoton, repetitiv und körperlich hart, aber da sie am Ende des Monats genügend Geld in der Tasche läßt, kann man sich damit arrangieren. Das fällt im Bereich einfacher Dienstleistungsarbeit komplett weg. Der soziale Aufstieg, der sich über ein bestimmtes Einkommen selbst dann generiert, wenn die Arbeit eintönig und hart ist und ihr kein inhaltliches Interesse abzugewinnen ist, kommt für die Dienstleister nicht mehr in Frage. Der Arbeitsmarkt läßt ihnen keine Entwicklungsmöglichkeiten, ebensowenig wie der Wohlfahrtstaat, der lediglich Minimalstandards generiert und ihnen über Aufstocken und Grundsicherung nicht mehr als eine Existenzsicherung in der Gegenwart anbietet.

PS: Interessant ist dabei auch, daß sich die individuelle Erfahrung ihrer persönlichen Zukunftslosigkeit auf die Ideen, die die von der Gesellschaft haben, durchträgt. Die haben keine Idee mehr einer kommenden Klasse! Es gibt eine Studie aus den 50er Jahren aus einem Stahlwerk, die ist absolut klassisch in der deutschen Soziologie und heißt "Das Gesellschaftsbild des Arbeiters". [2] Da wurden Industriearbeiter gefragt: Wie sieht die Welt in 50 Jahren aus? Darauf kam das ganze Gerüst utopischer Elemente, die damals am Markt waren, zum Beispiel Technik-Utopien wie "Wir müssen eigentlich nicht mehr arbeiten" oder "Jeder hat einen Hubschrauber auf dem Rücken" - alles total super. Diese klassische Frage haben wir unseren Leuten auch gestellt.

Das Interessante ist, daß keinerlei Zukunftszutrauen mehr da ist. Da kommen einem nicht mehr die utopischen, sondern die dystopischen Momente entgegen. Für die ist Zukunft im besten Fall fortgesetzte Gegenwart. Alles bleibt gleich oder wird noch ein bißchen schlechter. Manche sagen: Ich erlaube mir überhaupt keine Gedanken darüber und kann auf diese Frage nicht antworten. Wir ernten dann schlicht und einfach Schweigen. Es gibt auch vollkommen irre Weltzusammenbruchsphantasien: Da kommt ein Weltkrieg wie ein reinigendes Gewitter und dann geht alles von vorne los oder die Roboter übernehmen die Herrschaft, aber entbinden uns nicht von der Arbeit, sondern machen uns zu Sklaven. Da zeigt sich ein vollkommen destrukturiertes Bild von der Zukunft. Die Leute haben nicht nur keine Idee mehr von ihrer eigenen Zukunft, sondern auch keine mehr von der Gesellschaft als einem Container, in dem wir so etwas wie eine gemeinsame Zukunft verhandeln. An dieser politischen Debatte nehmen die überhaupt nicht teil.

SB: Das kapitalistische Aufstiegsversprechen, wie Prof. Bude das genannt hat, gilt seit langer Zeit als konstitutiv für die Gesellschaft und ihre Stabilität. War das nicht von vornherein ein Konstrukt, um gesellschaftliche Ungleichheiten unter einem akzeptablen Deckel zu halten?

PS: Das würde ich nicht sagen, aber es hat sicherlich immer eine Legitimationsfunktion gehabt. Für einen Soziologen ist das im Prinzip kein Problem, weil Herrschaft ganz allgemein immer versucht, sich zu legitimieren. Die Frage ist nur, was die Leute bei einem solchen Deal für sich herausschlagen können. Wenn man das ganz nüchtern betrachtet, und dazu sind wir als Soziologen verpflichtet, dann hat ein bestimmtes Versprechen kollektiven Aufstiegs in der alten Bundesrepublik schon seine Geltung gehabt. Das war vielleicht nicht ganz so, wie wir uns das im nachhinein vorstellen, daß Willy Brandt eine Bildungsexpansion gemacht hat und auf einmal alle Arbeiterkinder an die Uni gegangen sind. Das waren schon eher die Kinder aus kleinbürgerlichen Familien, die einen Aufstieg erlebt haben, während die Arbeiter eher da geblieben sind, wo sie waren. Aber man vergißt dabei immer, daß zu diesem Versprechen nicht nur der Aufstieg über arbeitsmarktexterne Institutionen, also das Bildungssystem, gehört hat, sondern auch über die Arbeit selbst, wie zum Beispiel im Industriebetrieb der Nachkriegszeit, in dem tatsächlich vertikale Karrieren vom angelernten zum Facharbeiter möglich waren.

Ölgemälde, das arbeitende Menschen in einem Walzwerk zeigt - Graphik: Adolph Menzel (Public domain), via Wikimedia Commons

Schwerindustrie - als Stätte zwischenmenschlicher Kontakte hochwillkommen?
"Eisenwalzwerk", zwischen 1872 und 1875 von dem deutschen Künstler Adolph von Menzel gemalt
Graphik: Adolph Menzel (Public domain), via Wikimedia Commons

Heute funktioniert einfache Dienstleistungsarbeit extrem dezentralisiert. Während im Industriebetrieb alle immer noch zu den gleichen Schichten zusammengekommen sind, gibt es in der einfachen Dienstleistungsarbeit extrem viel Outsourcing durch Tochter-Tochter-Tochter-Firmen. In einem großen Universitätsklinikum, das wir uns angeguckt haben, ist zum Beispiel ein Drittel der Belegschaft, das unterhalb der Interaktivitätsschwelle steht, also keine Arbeit direkt am Patienten macht, in einer Tochterfirma, sozusagen der Service-Gesellschaft des Krankenhauses, outgesourct. Das ist ein etabliertes Modell. Die sind organisatorisch aus dem Mutterhaus herausgelöst, für die gilt kein Tarifvertrag oder dergleichen. Die treten kaum mehr in Interaktion, sondern fahren mit ihren kleinen Wagen unten in den Katakomben herum, schieben die Betten von einer Station auf die andere und machen den OP-Saal sauber, wenn die Ärzte draußen sind. Gleichzeitig werden die Leute, die in dieser Tochtergesellschaft organisiert sind, an andere Krankenhäuser verliehen. Und in diese Service-Gesellschaft werden dann auch noch Leiharbeitnehmer aus echten Zeitarbeitsfirmen geholt. Das ist ein extremes Durcheinander von systematischen Unterschichtungen. Die Leute haben nichts mehr miteinander zu tun, nicht nur arbeitsteilig, sondern auch lokal.

SB: Was genau ist in diesem Zusammenhang mit Legitimation gemeint?

FB: Damit ist hier gemeint, welche Orientierung die Beschäftigten in den jeweiligen Systemen haben. In der einfachen Dienstleistungsarbeit zum Beispiel ist es erstaunlich, wie sehr die Beschäftigten von der Vorstellung eines Wohlfahrtsstaats überzeugt sind, der sich jetzt von einem sorgenden und statussichernden zu einem gewährleistenden Staat, der eher auf die Fähigkeiten und Aktionsspotentiale der einzelnen setzt, wandelt. Es macht für sie einen Unterschied ums Ganze, ob sie beschäftigt sind oder nicht, und sie sehen sich erst als Gesellschaftsmitglieder, wenn sie erwerbstätig sind.

SB: Legitimation meint demnach in diesem Kontext das Gefühl, dazuzugehören?

PS: Legitimation ist immer eine Frage der Zustimmung. Soziales Handeln findet unter Herrschaftsbedingungen statt, auf irgendjemanden muß man in der Regel hören. Die Frage ist dann, wie sich diese Herrschaft legitimiert und ob das, wenn die Leute zustimmen, im weitesten Sinn eine gerechte Herrschaftskonstruktion ist? Was wird den Leuten versprochen und stimmen die unter den Bedingungen der Realisierung oder Nichtrealisierung dieser Versprechen eigentlich dem zu, daß das halbwegs gerecht ist?

Das Interessante ist jetzt in unserem Fall, daß wir eigentlich nur Formen der Zustimmung sehen, die sich von Gerechtigkeitsvorstellungen gelöst haben. Die Leute haben die Idee, daß die Bedingungen, unter denen sie arbeiten, integral ungerecht sind. Sie können den Versprechen ihrer Arbeitgeber nicht trauen, weil die immer sagen, 'wir stehen so sehr unter Kostendruck'. Dann gucken die Leute in die Zeitung und finden heraus, die haben wieder Millionengewinne gemacht. Nichtsdestotrotz ist da immer noch dieses minimale Element von Zustimmung. Das bezieht sich aber nicht auf Gerechtigkeit, sondern nur noch auf die bloße Teilhabe. Die Idee ist, daß man eigentlich an dieser Gesellschaft, von der man keinen klaren Begriff hat und nicht einmal mehr so genau weiß, ob sie überhaupt noch existiert, nur teilhat, wenn man irgendwie in den Arbeitsmarkt integriert ist.

FB: Es sind die normativen Selbstverständigungen, die die Institutionen anbieten und die von den Leuten angenommen werden oder nicht, wo man Brüche sehen kann. Im Bereich der einfachen Dienstleistungsarbeit zum Beispiel arbeiten die Leute zu Mindestlöhnen und Lohnaufstockung. Wenn man sich jetzt den Arbeitsmarkt und den Wohlfahrtsstaat anschaut, ist es doch ein Rätsel, warum die das eigentlich machen, wenn am Ende des Monats nicht viel mehr herauskommt als ein irgendwie durch sozialstaatliche Transferleistungen gewährtes Existenzminimum? Am Ende antworten die dann auf diese Frage - und daran kann man in gewisser Weise normative Legitimationsmuster ablesen, die für die Leute Gültigkeit haben: Ja, weil mir meine Erwerbstätigkeit zumindest eine legitime Abhängigkeit gegen eine beschämende Abhängigkeit tauscht.

SB: Ist das nicht auch eine Frage der Alternative?

FB: Man darf sich da natürlich nichts vormachen. Wenn die Leute in dem Bereich sagen, ich kann legitime statt beschämender Abhängigkeit haben, erarbeiten die sich in gewissem Sinne eine Freiheit. Das ist aber nicht eine Freiheit 'zu', sondern mehr eine Freiheit 'von'. Bei den Beschäftigten der einfachen Dienstleistungarbeit ist das die Freiheit von staatlicher Sanktionierung. Während nämlich bei denjenigen, die sich nicht aktiv zeigen, eher die Daumenschrauben angezogen werden, können die durch ihre Aktivitäten der sozialstaatlichen Sanktionierung ein Stück weit entgehen.

PS: Die müssen sich vor allem nicht ständig überall bewerben und werden nicht von der lokalen Arbeitsagentur hin- und hergeschickt.

SB: Beschämende Abhängigkeit ist ein Begriff, der tief blicken läßt, wenn man einmal vom Sozialstaatsanspruch ausgeht. Ist das überhaupt ein soziologischer Begriff?

FB: Ja, insoweit er von den Normativitäten der Beschäftigten herkommt. Es ist nicht etwas, was wir an das Feld herantragen, sondern das Feld sagt uns, daß es das so empfindet. Die Beschämung kommt dadurch, daß für die Beschäftigten Nischen des alimentierten Überlebens nicht in Frage kommen. Das kommt in deren Vokabular Sozialschmarotzertum gleich, was schon erstaunlich ist, weil sie in relativ großer Nähe dazu sind. Aber es gibt da schon Tendenzen, sich abzugrenzen.

Friederike Bahl im Interview - Foto: © 2014 by Schattenblick

Friederike Bahl - "Legitime gegen beschämende Abhängigkeit tauschen"
Foto: © 2014 by Schattenblick

SB: Kritiker wenden ein, daß die Rede vom Sozialschmarotzertum nicht von ungefähr kommt und genau die Folgen zeitigt, die sie auch haben soll.

PS: Stimmt. Aber es ist schon noch eine Spur komplizierter, wenn wir unsere Leute anschauen. Die Definition dessen, was die als legitime oder illegitime Abhängigkeit begreifen, verschwimmt. Nicht jede Abhängigkeit von staatlichen Geldern ist für die illegitim. Früher hatten die die Idee, daß der Wohlfahrtsstaat dafür da ist, Anrechte zu verteilen. Aber ALG-II wird von denen nicht als Anrecht empfunden, solange sie nicht irgendwelche Hilfskonstruktionen haben. Die denken, das muß man sich verdienen.

Das klassische Beispiel ist eine Frau - ungefähr zwei Drittel der Beschäftigten im Bereich einfache Dienstleistung sind Frauen -, die irgendwann schwanger wird und ein Kind bekommt. Selbst wenn sie die Möglichkeit hat, in Mutterschutz zu gehen, ist sie in der Regel unter dem Niveau der ALG-II-Zuwendungen und rutscht automatisch in den ALG-II-Bezug. Das ist für die eine legitime Form der Abhängigkeit von staatlicher Hilfe. Wenn man die Frauen fragt, was ist in den drei Jahren eurer Erwerbsbiographie gewesen, in denen ihr nicht gearbeitet habt, dann sagen die: Da habe ich ein Kind gekriegt, um das ich mich dann gekümmert habe. Dafür habe mir ein bißchen mehr Zeit genommen, denn solange ich mit Erziehungsaufgaben betraut bin, macht es sowieso keinen Unterschied, ob ich arbeite oder nicht.

Das ist eine Form legitimer Abhängigkeit, denn die wird sich durch Arbeit verdient. Das ist eine seltsame Konstruktion, denn ALG-II beziehen die so oder so! Wenn Sie mich fragen, legt das eigentlich eine Vermutung nahe, die über das hinausgeht, was durch die Öffentlichkeit geistert, nämlich daß die Leute von den Arbeitsagenturen ständig gezwungen werden, dies oder das zu machen. Aus der Arbeitslosenforschung weiß man, daß die Leute ziemlich gewieft darin sind, Sanktionsversuche der Arbeitsagenturen zu unterlaufen. Die Leute sind ziemlich clever, die Daumenschrauben, die ihnen angelegt werden, so weit zu lockern, daß genug Spielraum bleibt, irgendetwas anderes zu machen und schwarz noch ein bißchen Geld zu verdienen. Die lassen sich nicht so einfach erpressen.

Bei den einfachen Diensten muß man wirklich an die Subjektivität, an die Gesellschaftsbilder der Leute rangehen, um zu verstehen, was Arbeit für die eigentlich bedeutet. Für die ist Arbeit die einzige Form der legitimen Strukturierung von Zeit. Die Leute hätten ein Zeitproblem ohne Arbeit! Das hört sich vielleicht ein bißchen merkwürdig an, aber wenn wir die Leute fragten, was ist euer größtes Problem bei der Arbeit, dann haben wir oft als erstes zur Antwort bekommen: "Ich habe keine volle Stelle. Auf einer halben Stelle verdiene ich aber nicht genug, um nicht aufstocken zu müssen." Fragt man, warum es eigentlich ein Problem ist, keine volle Stelle zu haben, dann sagen die zuerst: "Geld." Fragt man dann: "Ja, wirklich? Aber mit einer vollen Stelle würdet ihr doch genauso viel verdienen, nur viel mehr arbeiten?", endet das oft mit sehr prägnanten Aussagen: "Was soll ich denn den ganzen Tag machen? Wenn ich nicht arbeiten würde, würd' ich doch kaputtgehen vom Zu-Hause-Hocken, ich wüßte gar nicht, was ich tun soll!" Das ist in gewisser Weise ein extremer Befund: Die proletarischen Lagen unserer Gegenwart sind im Prinzip bereit, alles zu schlucken.

(Fortsetzung folgt)


Fußnoten:

[1] "Discounting - Teilhabe durch Konsum!" Studie von Anna Eckert und Andreas Willisch, veröffentlicht in dem von Heinz Bude, Thomas Medicus und Andreas Willisch herausgegebenen Buch "ÜberLeben im Umbruch. Am Beispiel Wittenberge: Ansichten einer fragmentierten Gesellschaft" (S. 90-97), erschienen 2011 in der Hamburger Edition, dem Verlag des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Darin wird u.a. die Verkaufsstrategie beschrieben, den Verkauf als Kommunikation zwischen Kunden und Verkäufern zu organisieren, was den Discounter zum identitätssichernden Kommunikationszentrum der prekären Lebenslagen machen würde.

[2] "Das Gesellschaftsbild des Arbeiters" ist der Titel einer von Heinrich Popitz und anderen in den frühen 1950er Jahren durchgeführten industriesoziologischen Untersuchung, bei der 600 Arbeiter eines Hüttenwerks ohne Tonaufzeichnungen von geschulten Mitarbeitern, die anhand ihrer Gesprächsnotizen umfangreiche Gedächtnisprotokolle erstellten, zu ihrer Arbeitsrealität sowie ihren Einstellungen befragt wurden.


Bisherige Beiträge zur "Zukunft globaler Ungleichheit" im Schattenblick unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:

BERICHT/028: Ungleichheit sozial - Die Klassenfrage (SB)
INTERVIEW/019: Ungleichheit sozial - Primat der Politik? Prof. Dr. Anja Weiß im Gespräch (SB)
INTERVIEW/020: Ungleichheit sozial - Bruch der Hoffnungen, Friederike Bahl und Philipp Staab im Gespräch, Teil 1 (SB)

20. April 2014