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INTERVIEW/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Flicken, halten und verlieren (SB)


Sozialer Notstand in Spanien

Gespräch mit Fernando Marhuenda am 14. September 2012 in Hamburg



Prof. Dr. Fernando Marhuenda forscht und lehrt an der Universität Valencia in Spanien. Nach seinem Vortrag im Workshop "Soziale Arbeit im Schatten des 'Schirms'. Abbau des Sozialstaats, der Widerstand sozialer Bewegungen und die Diskurse der Sozialarbeit", der das Verhältnis zwischen der Privatisierung des Wohlfahrtstaates und der Förderung bürgerliche Initiativen in Spanien zum Gegenstand hatte, beantwortete er dem Schattenblick einige Fragen zur sozialen Situation in dem krisengeschüttelten Land.

Im Gespräch - Foto: © 2012 by Schattenblick

Fernando Marhuenda
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Sie haben in Ihrem Vortrag über den besonderen Stellenwert der Familie in einer Mittelmeergesellschaft gesprochen und unterstrichen, daß diese Rolle bedroht sei. Liegt es am Einfluß der ökonomischen Krise oder am kulturellen Wandel, daß sich die Familienstrukturen in Spanien verändern?

Fernando Marhuenda: Es liegt an beidem. In den letzten zwanzig Jahren hat die Zahl der Scheidungen stark zugenommen. Anfang der 80er Jahre war ein Scheidungsgesetz verabschiedet worden, das hinsichtlich der Modernisierung der Familie in Spanien sehr wichtig war. 2006 wurde schließlich die Ehe unter Homosexuellen gesetzlich verankert. Die traditionellen Strukturen in der Familie mit Vater, Mutter, Großeltern und Kindern verloren deswegen an Bedeutung. Jetzt gibt es viele verschiedene Lebensgemeinschaften, die alle um die Anerkennung als normale Familie kämpfen. Auch ohne die ökonomische Krise hat sich also in den familiären Strukturen in Spanien sehr viel verändert.

Es ist jetzt ganz normal, daß in einer Schulklasse die Hälfte der Schüler nicht in traditionellen Familienverhältnissen aufwachsen. Durch die finanzielle Krise haben allerdings viele junge Paare ihre Wohnung, die sie sich gekauft hatten, verloren, weil sie von den Banken zwangsgeräumt wurden. Sie mußten dann zu ihren Eltern zurückgehen. Damit ist eine neue Situation entstanden, denn die Eltern lebten in der Erwartung, ihren Lebensabend für sich allein zu verbringen. In den letzten Jahren haben sie zwar die Enkel versorgt, weil beide Elternteile arbeiten mußten. Jetzt müssen sie aber auch für das Essen aufkommen und den Wohnraum mit der ganzen Familie teilen. Damit entstehen ganz neue Herausforderungen für die urbanen Lebensformen, denn in der Stadt sind die Wohnungen zu klein für so viele Leute. Die städtische Bevölkerung geht zum Teil zurück in die Dörfer, die sie in den 50er und 60er Jahren verlassen hatten, denn auf dem Land bieten die Wohnungen genügend Platz für die ganze Familie. Dort finden sie auch die Mittel zum Überleben. Sie bestellen wieder ihr Stück Land, das Jahre brach lag. Die Ernte dient nicht dem Verkauf, sondern der Subsistenzwirtschaft. So kommt es zu einer Stadtflucht, die niemand erwartet hat, aber es geschieht aus einer Notsituation heraus.

SB: Spanien ist traditionell sehr katholisch. Gibt es aufgrund des Wandels im klassischen Familienbild Konflikte mit der Kirche?

FM: Es ist ein ideologisches Problem, denn die Kirche spielt in der Gesellschaft eine starke Rolle, zumal sie auch in den Medien eine Stimme hat. Allerdings gibt es auch viele Katholiken, die gegen einen starken Einfluß der Kirche eingestellt sind. Sie wollen zwar katholisch leben, haben jedoch nichts gegen die neuen modernen Familienstrukturen und erkennen sie an. Es gibt sogar Familien, in denen die Ehepartner homosexuell, aber gleichzeitig katholisch sind. Aufgrund dessen hat sich der gesellschaftliche Rang der Bischofskonferenz massiv verändert. Vor fünf oder sechs Jahren war sie eine der wichtigsten Institutionen in Spanien. Jetzt ist sie fast in die Bedeutungslosigkeit abgerutscht. Denn viele junge Leute, auch Katholiken, haben kein Vertrauen mehr zur Bischofskonferenz.

Es gibt jedoch auch einen inneren Konflikt in der Kirche. Die Bischofskonferenz gilt als sehr konservativ. Die Jesuiten, Franziskaner und die anderen Orden bilden einen eigenen Verband. Ihre Ansichten unterscheiden sich sehr von denen der Bischofskonferenz. Trotzdem haben sie nicht die gleiche Macht in den Medien wie die Bischofskonferenz. Die konservative Volkspartei in der Regierung spielt diesen Konflikt sehr gut aus. Sie steht zwar näher zur Bischofskonferenz, teilt aber nicht deren Programmatik. Ob sie mit der Bischofskonferenz einen Konsens anstrebt oder nicht, hängt von der jeweiligen Situation ab. Einer der wenigen ideologischen Konflikte zwischen der sozialdemokratischen PSOE und der Volkspartei (PP) betrifft die Rolle der Kirche im Bildungssystem, denn auch heute noch unterstehen viele Schulen der Kirche.

SB: In der Franco-Ära gab es in dem Sinne keine Sozialarbeit. Wie stand es damals um die soziale Situation in der Bevölkerung?

FM: Ein Problem nach dem Bürgerkrieg war natürlich die Armut, und weil wir international isoliert standen, haben wir viel mehr Zeit für die Entwicklung der Gesellschaft gebraucht. Es gab sicherlich auch politische Probleme. Die Leute sehnten sich nach Freiheit, aber zur sozialen Befriedung hat Franco den Beamtenapparat stark ausgebaut. Auch die Anfänge des Versicherungssystems in Spanien stammen aus der Franco-Zeit. Es klingt vielleicht merkwürdig, wenn die Leute heute sagen, daß die Sozialpolitik unseres Ministerpräsidenten Mariano Rajoy viel schlimmer sei als unter Franco. Franco brauchte die Hilfe der Sozialpolitik, damit die Leute nicht so stark gegen ihn in die Opposition treten. Deswegen hat er viel für die Familien getan, vielleicht vergleichbar mit Perón in Argentinien, so daß die Bevölkerung auf seiner Seite stand.

Gut, wir hatten keine Freiheit, aber alles andere, was wir zum Leben brauchten, war vorhanden. Viele der zivilen und Arbeitsrechte, die jetzt immer mehr zurückgeschraubt werden, kommen ursprünglich aus der Franco-Zeit. Inzwischen arbeiten wir viel länger und werden schlechter bezahlt. Franco hat jedem Beamten vierzehn Monatsgehälter im Jahr ausgezahlt. Das war eine Beihilfe zum Leben. Mariano Rajoy hat jetzt ein Monatsgehalt gestrichen, weil es finanziell nicht mehr tragbar war. Der Mindestlohn in der Franco-Zeit war nicht so schlecht im Vergleich mit dem Lebensstandard von heute.

SB: Wie ist Ihr Eindruck, führt die Bevölkerung die Verschlechterung der Lebensbedingungen maßgeblich auf die konservative Regierungspolitik zurück, oder gelingt es dieser Regierung, die EU-Troika für die sozialen Kürzungen verantwortlich zu machen?

FM: Eigentlich hat die Bevölkerung von den Politikern genug. Viele glauben, daß die Politik nichts unternimmt, um die Krise zu bewältigen. Im wesentlichen werden zwei Probleme gesehen. Das eine ist Europa, vor allem aber Deutschland, das uns sagt, was wir machen sollen. Das andere ist, daß viele unserer Politiker wußten, wie die Situation aussah und damit Teil des Problems waren. Jetzt behaupten sie allerdings, daß sie von der Krise überrascht wurden. Aber die konservative Regierung herrschte seit Anfang der 90er Jahre in Madrid und den Bundesländern Valencia und Galizien. In all diesen Jahren haben sie einfach zugesehen, wie das Land in den Ruin stürzte. Darüber hinaus sind die Leute völlig unzufrieden mit der Reform der Länderstruktur, die durchgeführt wurde. Während früher die Verantwortung in den Händen der Madrider Regierung lag, gibt es jetzt ein Kompetenzgeschiebe. Ob nun die Gemeinden, die Länder oder die Regierung in Madrid, jeder sagt, es kommt nicht von uns, sondern entweder von oben oder unten.

Im Baskenland, in Katalonien und Navarra hat man den Föderalismus gefordert, aber das restliche Spanien hat diese Länder doch erst aufgebaut. Wir waren alle gleich. In Madrid, Valencia, Galizien und Andalusien sah man keine Notwendigkeit für ein föderalistisches System. Aber diese drei Länder sagten sich gewissermaßen als Teil der Geschichte von Spanien los. Sie bestanden darauf, historisch anders gewachsen zu sein. Es gibt auch eine große Verdrossenheit mit der Sozialistischen Partei und der Politik der letzten acht, aber insbesondere der letzten vier Jahre. Es herrscht das Gefühl vor, daß die Politiker schon 2008 über die krisenhafte Situation Bescheid wußten. Sie haben das später auch öffentlich zugegeben und trotzdem so weitergemacht. Viele sind daher der Meinung, daß wir vier Jahre verloren haben. Die Leute wissen nicht , in welche Richtung sie gehen und was sie machen sollen. Sie glauben nicht, daß die Politiker einen alternativen Plan haben, sondern nur auf die Rettung warten. Und sie scheinen sogar alles zu unternehmen, damit die Rettung so spät wie möglich kommt, um so die Bevölkerung besser auf die harten Zeiten vorbereiten zu können.

SB: Es gibt in Spanien eine alte Tradition der politischen Selbstorganisation, wie sie sich beispielsweise in den 30er Jahren im Anarchismus und Syndikalismus ausdrückte. Kürzlich hat der Bürgermeister von Marinaleda zusammen mit einem Amtskollegen aus einem anderen Ort Lebensmittel für die Bevölkerung requiriert. Sehen sie Spanien in einer Phase, in der die Bevölkerung gegen die Unterversorgung selber initiativ wird?

FM: Es gibt zwei Bewegungen. Da sind einerseits diejenigen , die denken, wir brauchen eine gemeinsame Lösung, und deswegen müssen verschiedene Leute zusammenarbeiten, Alte und Junge, Konservative und Liberale, Berufstätige und Angestellte. Sie verstehen das Ganze als Bewährungsprobe. Das passiert aber eher in den großen Städten. Die Leute, die zum Überleben ins Dorf zurückkehren, suchen dagegen eher eine individuelle Lösung. Sie sagen sich, wir haben das Glück, ein Haus auf dem Land zu haben und können uns so selber versorgen. Wir wollen nicht Teil einer gemeinsamen Lösung sein. Wir kümmern uns nur um uns selbst.

Es ist nicht so, daß sich die beiden Bewegungen ideologisch unterscheiden. Die einen tun es aus der Notlage, nicht in der Stadt überleben zu können, und die anderen wollen durch gemeinsame Aktionen nicht in eine Notlage geraten. Aber die anarchistische Tradition, wie sie in den 30er Jahren des 20. Jahrhundert in Katalonien, Valencia und Andalusien gelebt wurde, ist heute nicht sehr stark. Die anarchistische Gewerkschaft ist sehr klein und hat in den 80er und 90er Jahren gegen den Sozialstaat gekämpft , weil sie der Ansicht war, daß die großen Gewerkschaften, die mit der kommunistischen und sozialistischen Partei verbunden waren, im Verhältnis zwischen der Regierung und den Betrieben zu opportunistisch agierten. Heute gibt es zwei anarchistische Gewerkschaften, die CGT und die CNT. Ich selbst bin Mitglied in der CGT. Aber der Zulauf zu den anarchistischen Gewerkschaften ist ziemlich gering, obwohl wir gute Verbindungen mit den Indignados der Bewegung 15. Mai pflegen. Es ist überhaupt so, daß die Bevölkerung eine schlechte Meinung von den Gewerkschaften hat, obwohl wir anders sind.

SB: Wie sieht die Situation in Spanien in Sachen Workfare aus? Wird es stark in Anspruch genommen und welche Zwangsmittel werden eingesetzt, um die Sozialbeiträge zu kürzen? Verhält es sich so ähnlich wie hier in Deutschland mit Hartz IV?

FM: Die Ideologie der Workfare und die Beschäftigungsmaßnahmen sind mit Hartz IV vergleichbar. Es gibt zwar Unterschiede, aber im Prinzip gehen sie in die gleiche Richtung. Ein Unterschied ist, daß wir in Spanien keine große nationale Industrie haben. Mehr als 90 Prozent der Betriebe haben weniger als zehn Angestellte. Und die Unternehmer haben keine Tradition im dualen System. Sie sind nicht in die Ausbildung involviert. Wenn Betriebe schließen, gründen die Unternehmer einfach neue Betriebe. Es gibt eine große Diskontinuität. Deswegen haben wir einen großen Mangel an Arbeitsplätzen. Das Problem liegt eher auf der Seite der Arbeitgeber, nicht so sehr bei den jungen oder alten Leuten, die durchaus eine berufliche Qualifikation haben oder von der Universität kommen. Aber sie haben keine Chance auf eine Eingliederung in den Arbeitsmarkt, weil keine freien Stellen vorhanden sind. Viele Leute geben ihr Universitätsdiplom in den Bewerbungen nicht an, denn die Unternehmen würden sie dann nicht nehmen. Das ist verrückt.

Die Struktur unseres Bildungssystems ist ein bißchen konfus. In Spanien sind 30 bis 40 Prozent der Leute ohne Ausbildung, 20 Prozent haben eine berufliche Qualifikation und 30 bis 40 Prozent besitzen ein Universitätsdiplom. In Europa verhält es sich umgekehrt. Fast die Hälfte hat eine berufliche Qualifikation, nur 20 bis 30 Prozent besitzen ein Universitätsdiplom und 20 Prozent sind ohne Ausbildung. Aufgrund der Hochschulabsolventen sind wir eigentlich überqualifiziert, aber das Berufsbildungssystem, das noch aus den Franco-Zeiten stammt, hat einen schlechten Ruf, obwohl sich vieles verbessert hat. Unser Hauptproblem sind die Leute, die zum einen nicht studieren und zum anderen keine Arbeitsstelle finden. Aber dieses Problem war die Folge der ökonomischen Entwicklung von Mitte der 90er Jahre an bis 2008, wo viel in den Tourismus und die Bauindustrie investiert wurde. In diesen Branchen haben die meisten Unternehmer junge Leute von der Schulbank weg angestellt. Im Grunde waren das schlecht bezahlte Jobs, auch wenn es den jungen Leuten nicht so vorkam. Jetzt sind sie arbeitslos und ohne Qualifikation und mittlerweile nicht mehr 18, sondern 30 Jahre alt. Was sie jetzt brauchen, ist eine Arbeitsstelle mit Lohn, nicht eine Qualifikationsmaßnahme ohne Lohn, weil sie davon nicht leben können.

SB: Gibt es in Spanien eine reguläre Sozialhilfe für Erwerbslose?

FM: Es gibt Sozialhilfe beim Arbeitsamt. Sie bekommen sechs Monate lang jeweils 400 Euro. Danach gibt es nichts mehr.

SB: Und wovon leben die Leute dann, wenn sie kein Einkommen beziehen?

FM: Sie kehren zurück zu ihren Eltern.

SB: Welche Rolle spielt die Workfare in dieser desolaten Situation?

FM: Die Politiker wollen den Wohlfahrtsstaat abschaffen und einen Workfare-Staat installieren, aber die Bedingungen auf dem Arbeitsmarkt sind nicht einmal dafür ausreichend. Weder für Welfare noch für Workfare. Wir brauchen eine Veränderung im Arbeitsmarkt. Was soll sonst mit all den Leuten geschehen, die früher im Tourismus und in der Bauindustrie gearbeitet haben und jetzt arbeitslos sind?

SB: Herr Marhuenda, vielen Dank für das Gespräch.


Fußnoten:
Bisherige Beiträge zum 8. Bundeskongreß "Soziale Arbeit" im Schattenblick unter
INFOPOOL → -> SOZIALWISSENSCHAFTEN ->→ REPORT:

BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)
BERICHT/014: Quo vadis Sozialarbeit? - Fürsorge und Menschenrecht (SB)
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
BERICHT/016: Quo vadis Sozialarbeit? - Verlierer, Profitierer (SB)
BERICHT/017: Quo vadis Sozialarbeit? - Nach der Decke strecken... (SB)
BERICHT/018: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Widerspruch und Praxis (SB)
BERICHT/020: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 1 (SB)
BERICHT/021: Quo vadis Sozialarbeit? - Versuchen, scheitern, konstatieren - 2 (SB)
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
INTERVIEW/006: Quo vadis Sozialarbeit? - Zeitgemäß human? (SB)
INTERVIEW/007: Quo vadis Sozialarbeit? - Ohne Netz mit doppeltem Boden (SB)
INTERVIEW/008: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aber zusammen (SB)
INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)
INTERVIEW/010: Quo vadis Sozialarbeit? - ... aufs Erbe verlassen? (SB)
INTERVIEW/011: Quo vadis Sozialarbeit? - Der Abstand wächst (SB)
INTERVIEW/012: Quo vadis Sozialarbeit? - Auf der Rutschbahn (SB)
INTERVIEW/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Sowohl als auch (SB)

2. Dezember 2012