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INTERVIEW/009: Quo vadis Sozialarbeit? - Kontrollvorwände (SB)


Emanzipatorische Kinder- und Jugendarbeit nicht mehr gewollt

Gespräch mit Heike Lütkehus und Thomas Kühl am 13. September 2012 in Hamburg

Flugblattaufschrift 'Wir sagen Nein zu den Kürzungen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit und Familienförderung' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Kühl und Heike Lütkehus mit Petition gegen Hamburger Sozialkürzungen [1]
Foto: © 2012 by Schattenblick

Ökonomisierung des Sozialen - dieses Schlagwort kennzeichnete nicht nur den zentralen Ansatz- und Kritikpunkt des 8. Bundeskongresses Soziale Arbeit, der vom 13. bis 15. September in Hamburg stattfand. Dieser Begriff bringt eine bundesweit voranschreitende Entwicklung auf den Punkt, für die der Stadtstaat Hamburg eine unrühmliche Vorreiterrolle übernommen hat. Der SPD-Senat hat Etatkürzungen ab dem kommenden Jahr ausgerechnet in dem Bereich der Jugend- und Sozialarbeit beschlossen, der in dem Spannungsverhältnis zwischen solidarischer Unterstützung Betroffener und staatlichem Kontrollanspruch für benachteiligte Kinder und Jugendliche Partei ergreift, ohne ihre Ansprüche auf eine selbstbestimmte Entwicklung mit Füßen zu treten.

Gegen die den Bestand der Offenen Kinder- und Jugendarbeit gefährdenden zehnprozentigen Kürzungen regt sich massiver Widerstand der Betroffenen und Beteiligten, und so bot auch der Kongreß Soziale Arbeit eine willkommene Gelegenheit, den Protest auch in diesem Rahmen öffentlich zu machen. Viele Teilnehmer und Referenten hatten sich ohnehin solidarisch erklärt und eine Online-Petition [1] mit der an den Hamburger Senat gerichteten Forderung, nicht nur die Kürzungen zurückzunehmen, sondern die bisherigen Einrichtungen finanziell verbindlich abzusichern, unterschrieben. Vor diesem Hintergrund hat der Auftritt des Hamburger Sozialsenators Detlef Scheele (SPD) bei der Eröffnungsveranstaltung für gewisse Irritationen gesorgt und eine Gruppe von etwa 30 Sozialarbeitenden aus der Offenen Kinder- und Jugendarbeit zu laut vernehmlichen und sichtbaren Protesten veranlaßt [2].

Der Schattenblick hatte im Anschluß daran die Gelegenheit, mit Heike Lütkehus von der Jugendsozialarbeit Hude in Hamburg-Winterhude [3] und Thomas Kühl vom Abenteuerspielplatz Eimsbüttel-Nord [4] über den Widerstand gegen die unsoziale Rotstift-Politik des Hamburger Senats zu sprechen. Auf diesem Wege konnten wir Einblick gewinnen in die Sichtweise praxiserfahrener Sozialarbeitender, die schließlich auch als Adressaten des Kongresses aufgerufen waren, sich in den demokratischen Diskurs sowie einen fortzuführenden Streitprozeß um das Selbstverständnis der Sozialen Arbeit, die ihren wissenschaftlichen Anspruch nicht zuletzt aus der behaupteten Praxisrelevanz ableitet, einzubringen.

Protestierende mit Transparenten und Leuchtdioden am Körper - Foto: © 2012 by Schattenblick

Lautvernehmlicher Protest Hamburger Sozialarbeitender
Foto: © 2012 by Schattenblick

Schattenblick: Der Auftritt des Hamburger Sozialsenators Detlef Scheele (SPD) war Stein des Anstoßes Ihres Protestes hier bei der Kongreßeröffnung. Sie beide sind in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit in Hamburg tätig. Gab es zuvor schon Aktionen ähnlicher Art?

Heike Lütkehus: Ja. Wir haben zum Beispiel eine große Demo bei Herrn Scheele im Sonderausschuß der Bürgerschaft gemacht, wo wir unsere Lage klargemacht haben [5]. Allein die Schilder waren faszinierend. Ein Schüler hatte beispielsweise darauf geschrieben: "Wir wollen nicht nur Freunde aus der Schule haben." Das sagt doch schon alles, oder? Wir haben eine tolle Anhörung gehabt, aber die Politik hat noch nicht einmal eine Antwort gegeben. Die Kinder haben gesagt, sie würden gern weiter in die Einrichtung kommen und dort essen. Zuhause ist zu viel Streß. Bei uns können sie sich ausruhen und zur Not auch sagen: "Ich hab' Ärger zu Hause", ohne daß das gleich ein großes Ding wird und ohne daß sie ihre Eltern diffamieren müssen. Dieses Vertrauen ist unser größter Pluspunkt. In wissenschaftlichen Studien wurde festgestellt, daß die Kinder und Jugendlichen, die zu uns kommen, nirgendwo anders hingehen würden. Insofern sind wir am erfolgreichsten, und gleichzeitig werden wir so bespart, daß wir überhaupt nicht mehr arbeiten können!

SB: Woran genau hat sich der Protest entzündet?

HL: Der Protest richtet sich dagegen, daß in den Hamburger Bezirken die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die Familienförderung und die neue SAE [6] - das sind die alten sozialräumlichen, offen arbeitenden Angebote - grundsätzlich um zehn Prozent gekürzt werden.

SB: Wann soll das geschehen?

HL: Ab 2013. Und zwar mit der Begründung, daß es dann die Ganztagsschule und den Kindergarten gäbe. Unsere Argumentation ist natürlich eine andere. Wir sollen mit der Ganztagsschule zusammenarbeiten und, wie Herr Scheele schon sagte, die offene oder nonverbale Bildungsarbeit in die Schulen bringen. Nun handelt es sich bei unseren Angeboten um Bauspielplätze, Einrichtungen der Jugendsozialarbeit oder Kifaze [7], die benachteiligte Kinder und Jugendliche aufgenommen haben, die nicht unbedingt in eine Kita kommen und auch nicht immer zur Schule gehen, die aber natürlich auch irgendwo betreut werden müssen. Aus unserer Sicht ist es doch so: Uns wird das Geld weggenommen, weil der SPD-Senat sich jetzt für die Kitaplätze und die Ganztagsschule entschieden hat und da sehr viel reinsteckt, und so müssen wir angeblich bespart werden, weil wir das Geld nun nicht mehr bräuchten.

SB: Da fallen Sie dann unter den Tisch.

HL: Absolut. Wir werden schon seit Jahrzehnten einem Sparmodus unterworfen, so daß einzelne Stätten der Offenen Kinder- und Jugendarbeit - das sind meistens Jugendclubs mit vielleicht zwei Mitarbeitern, die keine Sachmittel mehr haben, oder Bauspielplätze, die auch nur zu zweit betreut werden - nicht mehr arbeiten können. Es geht der SPD bzw. dem Senat darum, daß es keine Sozialpolitik mehr gibt, bei der nicht von den Behörden eine Zielvorgabe gemacht wird. Das läuft dann so ab: Der Allgemeine Soziale Dienst (ASD) kommt zu uns und sagt: Für diese Person, für Hans beispielsweise, soll es einen Bauspielplatz geben. Er soll dann auch an der Gruppe teilnehmen. Das wird dann über den ASD einzelfinanziert, aber nur für diesen einen Jungen. Wir haben aber Projekte, an denen mehrere Kinder und Jugendliche teilnehmen. Nun sollen mit den "Hilfen zur Erziehung" Kinder aus armen Verhältnissen gefördert werden. Daß es in ganz Deutschland Familien gibt, in denen die Kinder schlecht behandeln werden oder sogar verhungern, wird als Begründung genommen dafür, daß da sehr genau hingeguckt und kontrolliert werden müßte.

SB: Wie verändert der finanzielle Druck die Inhalte Ihrer Arbeit, wie wirkt sich das aus?

HL: Inhaltlich bedeutet das für die Offene Kinder- und Jugendarbeit, daß sie ihre eigenständigen Projekte nicht mehr allen Kindern und Jugendlichen zur Verfügung stellen kann. Das heißt, es ist nicht mehr freiwillig.

SB: Sie müssen, um dieses Wort einmal zu benutzen, selektieren.

HL: Ja. Und dann gibt es natürlich Familien, die einen Anspruch auf Hilfen haben, die jedoch sagen, "wir möchten aber nicht, daß das Jugendamt dabei ist", und dann ihre Kinder eben nicht mehr zu uns um die Ecke schicken. Hinzu kommt, daß die Kinder eigentlich selbst bestimmen sollten, wo sie hingehen wollen - auf welchen Bauspielplatz, in welche Kita oder in welches der Spielhäuser. Die werden nämlich auch nicht mehr finanziert, weil es ja den staatlichen Kindergarten gibt. Es gibt nichts mehr, wo die Kinder freiwillig hingehen können.

T. Kühl und H. Lütkehus auf dem Campus der Uni Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Kein Freiraum mehr für benachteiligte Kinder und Jugendliche
Foto: © 2012 by Schattenblick

Thomas Kühl: Die Bildungsvielfalt fällt damit praktisch weg. Die Kinder können nicht mehr selbst entscheiden, wie sie sich entwickeln wollen. Da läuft ein Prozeß ab, bei dem alles strikt vorgegeben ist. Die freie Entfaltung des mündigen Bürgers ist da nicht mehr gesichert.

SB: Könnten Sie die Offene Kinder- und Jugendarbeit auf Ihrem Abenteuerspielplatz einmal genauer beschreiben?

TK: Ja. Zu uns kommen die Kinder mit all ihren Problemen und Sorgen. Hier haben sie die Möglichkeit, sich von der Schule zu erholen. Es ist praktisch so eine Art Gegenstelle zur Schule. Die Kinder werden jetzt bis 16.00 Uhr in den Schulen behalten, zum Teil werden wir in die Nachmittagsbetreuung der Ganztagsschulen einbezogen. Da werden wir halt gebraucht, aber, wie meine Kollegin schon sagte, das ist dann nicht mehr freiwillig. Die Kinder, die von sich aus kommen wollen, haben gar nicht mehr die Möglichkeit, den Gegenpol, den es hier gibt, zu genießen. Wenn sie dann aus der Schule kommen, steht ein anderes Programm an. Sie sind fest verplant, das ist im Grunde genommen ein "Fulltime-Job" für Kinder.

SB: Können Sie am Beispiel eines Kindes schildern, was das für Folgen haben könnte, wenn über längere Zeit zu jemandem wie Ihnen ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden konnte und das dann plötzlich wegfällt?

TK: Ich glaube, daß wir die einzigen Erwachsenen sind, zu denen diese Kinder Vertrauen haben. Manchmal kann das Jahre dauern, zu ihnen ein solches Verhältnis aufzubauen. Ich kann mich an einen Jungen erinnern, da waren das bestimmt eineinhalb Jahre. Der hat überhaupt nichts an sich herangelassen. Wir haben uns sehr um ihn gekümmert, indem wir ihm immer wieder den Rücken gestärkt und ihm gezeigt haben: Mensch, guck 'mal, so können Erwachsene auch sein.

HL: Ein wichtiger Punkt ist dabei natürlich auch, daß wir dafür sorgen, daß die meisten Kinder, Jugendlichen und auch jungen Erwachsenen bei uns Essen bekommen. Das ist ein großes Problem, das natürlich mit der Armut zusammenhängt.

SB: Es wird ja auch unter den Tisch gekehrt, daß es in vielen Familien nicht genug zu essen gibt.

HL: Auch auf den Bauplätzen können die Kinder nach der Schule etwas essen. Wenn sie dann kommen, steht da ein Obstteller und ähnliches. Sie haben die Möglichkeit zu "chillen", ohne daß sie in einer Schulzielvorgabe drinstecken, und können selber entscheiden, was sie machen möchten. Sie werden nicht gezwungen zu basteln, nur weil sie zuvor gesagt haben, "ich will Montag basteln", und dann muß auch Basteln dransein und ein Haken gemacht werden dafür, daß derjenige daran teilgenommen hat. Das ist nicht unser Anspruch. Die Offene Kinder- und Jugendarbeit steht dafür, daß sich Kinder sozial entwickeln und selber bestimmen können, was sie lernen wollen. Da steckt ein ganz anderer Bildungsbegriff dahinter.

Heike Lütkehus - Foto: © 2012 by Schattenblick

'Wenn das so weitergeht, hat die Offene Kinder- und Jugendarbeit keine Überlebenschance'
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Wie sehen Sie Ihren Beruf heute?

HL: Ich bin Diplompädagogin, aber ich arbeite mit benachteiligten Jungerwachsenen, die hier in Hamburg obdachlos sind und sehr viel Armuts- und auch Jugendamtserfahrung haben. Was hier auf dem Kongreß gesagt wurde, nämlich daß in Hamburg keiner verlorengehen soll, das stimmt einfach nicht. Diese jungen Menschen sollen nur nichts mehr kosten.

SB: Wie stellen Sie sich unter diesen Umständen die Zukunft vor?

HL: Ich glaube, daß die Offene Kinder- und Jugendarbeit, wenn das so weitergeht, keine Überlebenschance mehr hat. Auch die Jugendsozialarbeit nicht. Das wird alles in diese "Hilfen zur Erziehung", das heißt in Einzelförderung umgewandelt werden, und zwar immer mit dem Fokus, wie ein Kind oder ein junger Mensch am besten in die Gesellschaft zu integrieren ist, damit er sozusagen arbeitsfähig wird. Es gibt keine Zukunftsplanung mehr, bei der es darum geht, was die Kinder, Jugendlichen oder jungen Erwachsenen selber in ihrem Leben überhaupt wollen. Im Moment dreht sich ja auch die Debatte um die Renten allein darum: Wie können wir die Vorgaben der Schuldenbremse erfüllen? Wie läßt sich das aus Sicht der Gesellschaft effektiv organisieren?

Transparent mit der Aufschrift 'Abschied vom Sozialstaat' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Schuldenbremse versus Sozialstaat
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Sie hatten in der Eröffnungsveranstaltung ein Transparent dabei, auf dem stand: "Abschied vom Sozialstaat". Können Sie das näher ausführen?

HL: Ich bin der Ansicht - was ja bestritten wird -, daß es immer mehr obdachlose junge Menschen in Hamburg geben wird. Sehr viele finden einfach keinen Halt und haben zum Beispiel auch keinen Ausbildungsplatz. Sie werden vom Arbeitslosengeld II - also Hartz IV - nicht mehr gefördert, denn auch das ALG II sagt, daß sie ausbildungsfähig sein müssen, und daran scheitert das schon. In Hamburg zum Beispiel stehen noch 2000 Ausbildungsplätze zur Verfügung. So ein Jugendlicher hat aber keine Möglichkeit, in eine solche Lehre überhaupt hinein zu kommen, weil er nicht gefördert werden würde über Arbeitslosengeld II, und insofern wird sich die Schere immer weiter auftun. Meiner Meinung nach wird es immer mehr Menschen geben, die den Anschluß nicht finden können und auch keine positiven Zukunftsperspektiven haben. Das betrifft genau den Bereich, in dem hauptsächlich wir - also die Offene Kinder- und Jugendarbeit und die Jugendsozialarbeit - mit den Benachteiligten arbeiten.

SB: Es gibt immer mehr Kinder oder Jugendliche, die eine solche Unterstützung brauchen würden, aber Ihnen werden die Mittel mehr und mehr entzogen, gerade im umgekehrten Verhältnis. Ist damit nicht der Sinn der Sozialarbeit an sich in Frage gestellt?

HL: Ich würde sagen, ja. Deswegen demonstrieren wir ja auch. Aber wir sind nicht viele und werden immer weniger. Gegen das Konzept der Offenen Kinder- und Jugendarbeit mit seinem Freiwilligkeitsprinzip steht natürlich das der "Hilfen zur Erziehung". Das ist ein riesiger Berg, der sehr teuer ist und Hamburg sehr viel kostet. Wir waren bisher immer die kostengünstigsten Einrichtungen, die sie überhaupt kriegen konnten, und doch besparen sie uns jetzt. 3,5 Millionen Euro sollen in diesem Bereich eingespart werden, aber was ist das schon, wenn man bedenkt, was Hamburg allein für seine Elbphilharmonie ausgibt? Da geht es nicht nur ums Geld, sondern um die Struktur. Wir sind davon überzeugt, so arbeiten zu müssen, daß wir die Menschen auch erreichen können, aber das ist eine Struktur, von der der Staat sagt: Nein, so wollen wir das nicht. Davon bin ich überzeugt. 3,5 Millionen Euro sind diese 10 Prozent, die die Sozialbehörde einsparen will, die für uns aber bedeuten, daß wir Einrichtungen dicht machen müssen, weil wir sowieso schon immer am Limit waren. Es geht um unsere Existenz.

SB: Beim Bundeskongreß Soziale Arbeit soll es um das Kernthema gehen, die Ökonomisierung zugunsten des Sozialen zurückzuschrauben. Was erwarten Sie von dem Kongreß?

TK: Platt gesagt nicht sehr viel, denn ich glaube, daß zwar ganz viel geredet, aber letztlich nicht sehr viel dabei rauskommen wird. Es soll so aussehen, als ob man sich kümmert und etwas getan wird, aber so ist es unserem Empfinden nach nicht.

HL: Ich denke schon, daß auf dem Kongreß einige wichtige Themen angesprochen werden, zum Beispiel die Umsteuerung der Jugendhilfe und ihre umstrittenen rechtlichen Grundlagen [8]. Aber ich glaube, das will gar keiner hören. Wenn Herr Scheele hier eine Eröffnungsrede halten darf, obwohl er sagt, die Offene Kinder- und Jugendarbeit sei eigentlich gar nicht mehr notwendig und Sozialpädagogen wären einfach zu teuer, dann ist das für uns, wie ich finde, ein Schlag ins Gesicht.

Transparent mit der Aufschrift 'Umsteuern?! Eine Ohrfeige für die Offene Arbeit' - Foto: © 2012 by Schattenblick

Umsteuerung der Jugendhilfe - in Hamburg sehr umstritten
Foto: © 2012 by Schattenblick

SB: Wie sind denn überhaupt die verschiedenen Einrichtungen und Konzepte der Arbeit mit und für Kinder und Jugendliche hier in Hamburg organisiert?

HL: Die soziale Arbeit oder Jugendhilfe wird in Hamburg in drei Säulen eingeteilt: Die Offene Kinder- und Jugendarbeit, die es bis jetzt noch gibt, dann die Familienförderung und die "Hilfen zur Erziehung", die immer eine Einzelförderung bedeuten. Da wird für jeden einzelnen ein Hilfeplan erstellt, der ein halbes Jahr lang dauert, beispielsweise für ein Kind einer Familie, und dann wird ein Sozialarbeiter danebengestellt. Wir aber machen Projektarbeit und wollen einen Ort schaffen, wo Menschen hingehen können, ohne daß sie vorher ein Problem haben. Das ist der große Unterschied, und das ist politisch nicht mehr gewollt.

TK: Diese Niedrigschwelligkeit ist ein zentrales Prinzip unserer Arbeit. Die Kinder müssen keine Scheu haben, weil wir von ihnen erst einmal gar nichts verlangen. Wir nehmen sie so, wie sie sind und schicken sie nicht wieder weg, nur weil sie vielleicht irgendwie auffällig geworden sind. So bildet sich ein Vertrauensverhältnis. Weitere Prinzipien unserer Arbeit sind Parteilichkeit, Offenheit und Freiwilligkeit, doch das wird dann alles wegfallen. Ich glaube, daß bei den meisten Jugendlichen, die wir heute betreuen, dann nur noch Druck gemacht werden wird.

SB: Wird die Jugendsozialarbeit damit zum Anhängsel der schulischen und gesellschaftlichen Disziplinierung?

TK: Ja. Und wenn man sich dann überlegt, daß das erst der Anfang des Sparhammers ist! Nach dem Doppelhaushalt in zwei Jahren soll es noch eine größere Einsparung geben. Das alles ist jetzt schon so geplant und politisch entschieden. Da fragen wir uns, ob vielleicht mündige, frei denkende Bürger nicht mehr gewollt sind.

SB: Gehört es zu Ihrem beruflichen Selbstverständnis, die Kinder und Jugendlichen nicht zu disziplinieren?

HL: Ja, wir wollen sie fördern. Ich bin davon überzeugt, wenn Kinder freiwillig zur Schule gehen oder auf andere Weise etwas lernen wollen, daß sie sich in der Zukunft zu gesellschaftsfähigen Menschen entwickeln. Aber das muß schon freiwillig passieren. Das ist unser Ansatz. Wir sind fest davon überzeugt, daß nur auf diese Weise für benachteiligte Kinder und Jugendliche etwas erreicht werden kann.

SB: Vielen Dank, Ihnen beiden, für dieses Gespräch.

Vor dem Audimax der Universität Hamburg - Foto: © 2012 by Schattenblick

Anziehungspunkt Bundeskongreß Soziale Arbeit
Foto: © 2012 by Schattenblick


Fußnoten:
[1] Für ein Kinder-, Jugend- und Familienfreundliches Hamburg. Für den Erhalt von offenen Angeboten für Kinder, Jugendliche und Familien. Petition des Netzwerkes Offene Kinder- und Jugendarbeit (NOKIJA) vom 05.10.2012.
http://www.nokija.de/phpPETITION/

[2] Siehe auch im Schattenblick → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
BERICHT/015: Quo vadis Sozialarbeit? - Adressat verzogen (SB)
www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0015.html
INTERVIEW/005: Quo vadis Sozialarbeit? - Sparen, kürzen und ersticken ... (SB)
www.schattenblick.de/infopool/sozial/report/sorb0015.html

[3] Die "HUDE Jugendsozialarbeit", eine Evangelische Stiftung der Bodelschwingh-Gemeinde in Hamburg-Winterhude, bietet wohnungslosen jungen Menschen Rat und Hilfe an.
www.hude-hamburg.de

[4] Auf dem "Abenteuerspielplatz Eimsbüttel Nord" können Kinder klettern und sich austoben, aber auch drinnen spielen, kochen und vieles mehr.
www.asp-eimsbuettel.de

[5] Am 29. Mai 2012 fand im Festsaal des Hamburger Rathauses vor dem Familien-, Kinder- und Jugendausschuß des Senats eine öffentliche Anhörung statt zur künftigen Gestaltung der Kinder- und Jugendarbeit und der Familienförderung in Hamburg. Unter dem Motto "Nein zu den Kürzungen in der Offenen Kinder- und Jugendarbeit" hatte das Netzwerk Offene Kinder- und Jugendarbeit (NOKIJA) zuvor zu einer Demonstration aufgerufen. Rund 700 Menschen, unter ihnen viele Kinder und Jugendliche, waren diesem Aufruf gefolgt.

[6] SAE ist das Behörden-Kürzel für "Sozialräumliche Angebotsentwicklung". Seit 2003 werden in Hamburg unter diesem Begriff Projekte gefördert, durch die Kinder, Jugendliche und Familien, die aus den unterschiedlichsten Gründen einer besonderen Förderung bedürfen, unterstützt werden sollen. Familiäre Krisen oder Kindswohlgefährdungen, die "Hilfen zur Erziehung" (HzE) und damit höheren Kosten nach sich ziehen könnten, sollen auf diesem Wege vermieden werden.

[7] Kifaz ist die Abkürzung für Kinder- und Familienhilfezentrum. In Hamburg gibt es in jedem Bezirk mindestens eine solche Anlaufstelle, die Unterstützung und Beratung für Familien sowie eine breite Palette offener Veranstaltungen und Kurse für Kinder, Jugendliche, Erwachsene und Senioren anbieten und bei Bedarf Betroffene an andere Einrichtungen vermitteln.

[8] Unter dem Titel "Umsteuerung der Jugendhilfe in Hamburg: Modell für die bessere Jugendhilfe?" fand auf dem Bundeskongreß Soziale Arbeit am 14. September 2012 ein eigener Workshop stand. Unter Umsteuerung der Jugendhilfe ist zu verstehen, daß die kostenintensiveren "Hilfen zur Erziehung", auf die Personensorgeberechtigte einen Rechtsanspruch haben, zurückgeschraubt werden sollen zugunsten der kostengünstigeren "Sozialräumlichen Hilfen und Angebote" (SHA).

10. Oktober 2012