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BERICHT/050: Beteiligungsmodul Psychologie - das Ringen um die Deutungskompetenz ... (SB)



Titelseite des Programmflyers -Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Quelle: Neue Gesellschaft für Psychologie (NGfP)

Wissenschaftliche Freiheit bei der Bearbeitung und Beeinflussung existenzieller Gegenwartprobleme ist akut bedroht

Wissenschaftler auf der ganzen Welt nutzen die durch das Internet gebotenen und gewachsenen Chancen zur Vernetzung, zu gemeinsamer Forschung und zum Gedankenaustausch. Doch es fällt auf, dass trotz dieser erweiterten Möglichkeiten die Kritik von Sozialwissenschaftlern und ihr Einfluss auf Diskurse über Krieg, Frieden und soziale Gerechtigkeit im akademischen Bereich sehr bescheiden ausfallen oder gar nicht vorhanden sind. "Aufgrund ihrer Analyse- und Problemlösungskapazität müssten sie eigentlich neben politischen Akteuren eine zentrale Rolle in Auseinandersetzungen über die Richtung der Globalisierung und beim Engagement für ein gutes Leben für alle spielen", sagt Prof. Dr. Raina Zimmering, selbst Soziologin, Historikerin und Politikwissenschaftlerin. "Doch das tun sie nicht." Den Grund dafür sieht sie in der durch die Wirtschaft zunehmend dominierten Forschungsausrichtung, die nur der Verbesserung des Bestehenden und nicht seiner grundlegenden Veränderung dienen soll.

Beim Kongress der Neuen Gesellschaft für Psychologie (NGfP) wird sie über die Begrenzung wissenschaftlicher Freiheit und über Wege sie zu durchbrechen referieren. Forschung sei überwiegend drittmitteldominiert; große Wirtschaftsunternehmen seien häufig die Geldgeber. Unabhängige und Grundlagenforschung blieben dabei auf der Strecke. Unter Sozialwissenschaftlern wachse Konfliktscheue und ein hartes Konkurrenzgebaren. "Die Unerbittlichkeit der unternehmerischen Konkurrenz in der Wirtschaft hat auf die Wissenschaften übergegriffen. Damit geht der eigentliche Anspruch der Sozialwissenschaften, immer wieder nach dem 'guten Leben für alle' zu trachten, verloren. Es gibt aber auch noch eine andere Richtung in den Sozialwissenschaften, bestimmt von Persönlichkeiten wie Ulrich Beck, Noam Chomsky, Naomi Klein und Vandana Shiva, die eine kritische Einstellung zur neoliberalen Globalisierung und deren schreckliche Folgen wissenschaftlich analysieren."

Sie will nicht ausschließen, dass die häufig prekären Arbeitsverhältnisse unter jungen Wissenschaftlern, ihr niedriges Einkommen, ihre eingeschränkten Möglichkeiten für eine verlässliche Zukunftsplanung dafür mitverantwortlich sind. Die Hauptursache sieht sie jedoch in den gegenwärtigen Funktions- und Organisationsweisen. "Es bestehen aus meiner Sicht weltweite Vereinheitlichungsprozesse und Bestätigungspraxen, die man als Wissenschaftsimperialismus bezeichnen könnte. Ich denke an weltweite Ranking- und Peer Review Verfahren wie z. B: den Social Science Citation Index (SSCI) sowie an sog. Leuchtturmprojekte oder Exzellenz-Cluster an Universitäten und Instituten, durch die wissenschaftliche Arbeit in bestimmte Richtungen gelenkt wird. Ich kritisiere auch die Überbewertung quantitativer gegenüber qualitativen Verfahren und die Abhängigkeit universitärer Forschung und Karrieren von Drittmitteln aus der Wirtschaft und von wissenschaftlichen Stiftungen, die wiederum von großen Unternehmen unterstützt werden", betont Zimmering.

Am SSCI übt sie scharfe Kritik. Er führt in seinen Rankinglisten 3.100 Fachjournale aus 50 verschiedenen Disziplinen, die Mehrheit englischsprachig und aus dem anglikanischen Raum kommend. Sprachen wie Russisch, Spanisch, Chinesisch und Arabisch sind unterrepräsentiert. Mit der anglikanischen Sprachdominanz, so Zimmering, würden ganze Regionen in der Welt ausgeschlossen, die das Englische nicht so perfekt beherrschen. Außerdem entspricht das Sprachdenken auch dem Denksystem einer Kultur, so dass ganz automatisch auch eine kulturelle Dominanz zustande gekommen ist." Er berücksichtigt in erster Linie US-amerikanische Zeitschriften und trägt durch Ausgrenzung von Publikationen aus anderen Ländern und Regionen der Welt zur Diskriminierung eigenständiger Forschungen im globalen Süden und in Transformationsländern wie den ehemaligen sozialistischen Staaten in Asien, Mittel- und Osteuropa sowie den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion bei.

Was die sprachliche Dominanz des Englischen betrifft, ist die Soziologin nah bei dem Literaturwissenschaftler Marco Bachera. Die Tatsache, dass die Sonne auf Deutsch aufgeht, im Portugiesischen aber jeden Tag neu geboren wird, verweist nach seinen Worten auf kulturell verschiedene Umgänge mit dem Naturphänomen. Auch die Tatsache, dass das Englische zwei Wörter für Freiheit - Liberty und Freedom - kennt, deutet auf eine uns vielleicht unbekannte Differenz des Begriffs der Freiheit hin. Bereits Hanna Arendt sprach von einem "Unsinn der Weltsprache", weil sie gegen die "condition humaine" die "künstliche gewaltsame Vereindeutigung des Vieldeutigen" erzwingt. Dieser Zwang, der als Fortschritt der Völkerverständigung gepriesen wird, hat sich inzwischen weltweit verselbständigt.

Zimmering kritisiert darüber hinaus aber auch die Kontrolle durch leitende nationale, regionale und internationale Wissenschaftsinstitutionen und die Wissenschaftsministerien. Als Beispiele nennt sie die Deutsche Forschungsgemeinschaft, den Deutschen Akademischen Austauschdienst, den Europäischen Forschungsrat. Die Kontrollfunktion ergebe sich durch inhaltliche Schwerpunktsetzungen, die letztlich staatlichen und Unternehmerinteressen entsprechen. Das beste Beispiel ist ihres Erachtens die Bertelsmann-Stiftung. Der Bertelsmann-Konzern ist weltweit eines der größten Medienunternehmen und besitzt gleichzeitig die größte Wissenschaftsstiftung Deutschlands, die unter maßgeblichem Einfluss der Unternehmerfamilie Mohn steht. Die Stiftung berät die Regierung und erhält von ihr Aufträge. Auch die regierungsnahe Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) mit korporativen Mitgliedern wie z.B. Siemens und Deutsche Bank hat konstitutiven Einfluss auf die Außen- und Sicherheitspolitik.

In den vergangenen Jahren ist als Reaktion auf diese Prozesse eine Gegenbewegung unter Wissenschaftlern entstanden. Es haben sich Netzwerke unabhängiger Wissenschaftsorganisationen entwickelt, die sich den neoliberalen Förderpolitiken westlicher Länder und den SSCI-diktierten Standards weitgehend entziehen. Ihre Mitglieder, darunter auch Raina Zimmering, kommen aus der ganzen Welt. Sie agieren als Non-Profit-Organisationen und bestimmen ihre Themen und Standards selbst und vereinen Wissenschaftler verschiedener Generationen und Arbeitsfelder. Sie bearbeiten ein Themengebiet, veranlassen Publikationen, führen Konferenzen durch - alles durch Mitgliedsbeiträge und Konferenzgebühren oder auf eigene Kosten finanziert. "Das garantiert ihnen eine große Unabhängigkeit. So ist ein transnationaler und globalisierter Wissenschaftsraum entstanden, in dem Konkurrenz weitgehend ausgeschlossen ist und das gemeinsame Ringen um zeitadäquate Themen gewährleistet wird." Als Beispiele nennt sie die "International Federation of Public History", die "Memory Studies Association" und das "Left Forum" in New York, das als größtes Forum für kritische Sozialwissenschaften und für die Analyse emanzipatorischer Bewegungen angesehen werden kann, auch wenn das Englische als gemeinsame Wissenschaftssprache auch hier wie überall die wissenschaftliche Diversität und Freiheit einschränkt. Den Teilnehmern des Kongresses will sie vermitteln: "Die Bedingungen auf unserem Arbeitsgebiet mögen schwierig sein, aber letztlich kommt es immer darauf an, ob man sich als UnterstützerIn der gegebenen Ordnung versteht oder als KritikerIn derselben. Ich bevorzuge die zweite Variante."

18. Februar 2019


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