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BERICHT/028: Ungleichheit sozial - Die Klassenfrage (SB)


Das Unbehagen (an) der Soziologie

'Marx is back' oder die Wiederentdeckung der Klassen

Podiumsdiskussion im Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) zur Zukunft der globalen Ungleichheit am 20. März 2014



Auf die Frage nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen schrieb Jean-Jacques Rousseau bereits im Jahr 1754:

Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dies ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel Laster, wie viel Krieg, wie viel Mord, Elend und Gräuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und den Mitmenschen zugerufen hätte: 'Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört. [1]

Wurden Unterschiede von arm und reich lange Zeit als gott- oder naturgegeben postuliert, von den Herrschenden mit Gewalt durchgesetzt und von den negativ davon Betroffenen entweder hingenommen oder bekämpft, schienen sich im Zuge wachsender Prosperität zunächst oder zumindest in den sogenannten "entwickelten" Ländern die Unterschiede des Zugangs zu Reichtum, Einfluß und Anerkennung zu nivellieren, Klassengrenzen durchlässiger zu werden, Aufstiegschancen zu wachsen. Mit der Installation des Sozialstaates sollte die soziale Frage begehbar, Klassenkampf vermeidbar werden. Zwischen Ober- und Unterschicht bildete sich eine bürgerliche Mitte heraus.

Verfallene Flachbauten, Plastikplanen, Müllsäcke und Wäscheleinen - Foto: erin from Evanston, 20.12.2008, freigegeben unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic (Lizenz - http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de) Umrisse einer bei Nacht von außen angestrahlten Villa - Foto: © 2014 by Schattenblick

links: Dharavi in der indischen Metropole Mumbai gilt mit 1 Million Bewohnern als einer der größten Slums der Welt
Foto: erin from Evanston, 20.12.2008, freigegeben unter Creative Commons Attribution 2.0 Generic (Lizenz - http://creativecommons.org/licenses/by/2.0/deed.de)
rechts: So läßt's sich auch leben - Villa unweit des Hamburger Instituts für Sozialforschung bei Nacht
Foto: © 2014 by Schattenblick

Die zunehmende Internationalisierung nicht nur der Handelswege, sondern auch der Produktion, die globale Vernetzung von Finanzwegen, der Zugriff transnationaler Konzerne auf nationale Ressourcen und die Probleme weltweiter Migration haben die Schere zwischen arm und reich neu geöffnet und sichtbar werden lassen - brutaler als je zuvor. Ungleichheit wird nicht mehr nur im Rahmen von Nationalgesellschaften wahrgenommen, sondern zunehmend global. Heute teilen sich 50 % der Weltbevölkerung 1 % des Reichtums, während 1 % über ca. die Hälfte des weltweiten Vermögens verfügen. Nach Befunden der Weltbank leben ca. ein Sechstel der Weltbevölkerung, vor allem in Afrika und Südost-Asien, in absoluter Armut, bedroht von Unterernährung, mangelnder medizinischer Versorgung und niedriger Lebenserwartung. "Wir haben es also", konstatiert der Soziologe Reinhard Kreckel,

im Weltmaßstab mit einer Situation zu tun, die an das soziale Elend und die extremen Ungleichheiten erinnert, die im 19. Jahrhundert innerhalb der westlichen Gesellschaften geherrscht haben. Damals war in Ländern wie England, Frankreich oder Deutschland die sog. "soziale Frage" mit beträchtlicher sozialer Sprengkraft entstanden. Die Frage stellt sich, ob wir heute vor einer neuen, dieses Mal globalen "sozialen Frage" stehen. [2]

Nicht von ungefähr macht das Wort von der Rückkehr der Klassengesellschaft die Runde. Und nicht nur ökonomische, sondern auch zivilgesellschaftliche Formationen greifen in die Produktion und Stabilisierung von Ungleichheiten ein. Neben Einkommen und Vermögen gewinnen Zugangsmöglichkeiten zu kultureller und politischer Teilhabe sowie die subjektive Empfindung von Ungleichheit zunehmend an Bedeutung, auch für den wissenschaftlichen Zugriff.

Soziale Ungleichheit, ihre Ausprägungen und Erscheinungsformen, die Ursachen ihrer Produktion und Reproduktion sowie Prognosen ihrer zukünftigen Entwicklung sind Themenfelder, auf denen sich die verschiedensten Wissenschaften tummeln, zunehmend auch übergreifend und interdisziplinär. Während sich die Soziologie dabei lange Zeit im nationalen Rahmen bewegte und die Ungleichheit schwerpunktmäßig unter ökonomischen Gesichtspunkten erforschte, stellen sich im Zuge globalisierter Veränderungen einer kommenden oder schon existierenden Weltgesellschaft neue Fragen.

Der Moderator am Rednerpult stehend - Foto: © 2014 by Schattenblick

Martin Bauer moderierte den Abend
Foto: © 2014 by Schattenblick

Das Hamburger Institut für Sozialforschung (HIS) widmete sich der "Zukunft globaler Ungleichheit" am 20. März 2014 mit einer Podiumsdiskussion, zu der zwei renommierte Soziologen geladen waren, die sich seit längerem mit dem Thema beschäftigen. Unter der Moderation des Philosophie- und Literaturwissenschaftlers Martin Bauer diskutierten Prof. Dr. Anja Weiß von der Uni Duisburg-Essen und Prof. Dr. Heinz Bude (Uni Kassel), seit 1992 wissenschaftlicher Mitarbeiter am HIS, miteinander und mit dem Publikum. Die Veranstaltung, zu der ca. 100 Interessierte den Weg in das Institut am noblen Hamburger Mittelweg gefunden hatten, war der Auftakt zu einem Workshop am darauffolgenden Tag, der unter den vielversprechenden Titeln 'Herrschaft und Reproduktion von Ungleichheit', 'Subjektivitäten am Rande der Arbeitsgesellschaft' und 'Transformation und Protest' Wissenschaftlern die Gelegenheit zum übergreifenden fachlichen Austausch geben wollte.

Der fehle noch weitgehend in der Soziologie, mahnte Prof. Anja Weiß in ihrem Impulsreferat an und spitzte ihre Kritik in der These zu: "Soziologie weiß wenig oder nichts über globale soziale Ungleichheit". Zwar gebe es interessante Forschungen in Spezialgebieten der Soziologie, etwa über Globale Klassen, Globale Produktionsketten, Transsoziierung von Ungleichheit, Entwicklungshilfe, Migration usw., insgesamt aber sei man in der Ökonomie oder auch der Philosophie mit Arbeiten etwa zu globaler Gerechtigkeit weiter. Dabei könne eine Herausforderung und spezielle Aufgabe für die Soziologie in der Erforschung und Kritik an Institutionen und ihren transnationalen Aspekten liegen, z.B. bei der Frage nach der Legitimation eines Staatseigentums an Ressourcen. Für Prof. Bude ist soziale Ungleichheit "das Megathema der nächsten 20-30 Jahre weltweit", selbst "die Ökologie erscheint heute als soziale Problematik, als Problematik unterschiedlicher Beteiligung."

Eine Paradoxie, wie in der Einladung zur Veranstaltung zu lesen war, nach der eine nationale Zunahme sozialer Ungleichheit - dramatische Einbrüche in der sozialen Lebenslage für immer größere Bevölkerungsgruppen, die sich von ihrer Arbeit nicht mehr ernähren können (working poor), eine erodierende Mittelschicht, während eine kleine Gruppe von Superreichen ungeheure Besitztümer anhäuft - mit einer globalen Angleichung der Verhältnisse einhergehe, wie einige Wissenschaftler behaupten, wollte Anja Weiß indes nicht bestätigen. Solche Sichtweisen seien eher Untersuchungsmethoden geschuldet, die bevölkerungsreiche mit kleinen Gesellschaften über einen Leisten schlagen oder die ganz Reichen und die ganz Armen einer Gesellschaft in einen Topf werfen und daraus das Mittel zur Bestimmung von nationalen Einkommen ziehen. Mit Verweis auf den Ökonomen der Weltbank Branko Milanovic plädierte sie für eine differenziertere Betrachtungsweise. Mit der Globalisierung der Fragestellung stellen sich also auch neue Herausforderungen an die Methoden empirischer Sozialforschung.

Die beiden Podiumsreferenten im Gespräch - Foto: © 2014 by Schattenblick

Angeregter Gedankenaustausch - Prof. Dr. Anja Weiß und Prof. Dr. Heinz Bude
Foto: © 2014 by Schattenblick

Zur Beschreibung der gravierenden Veränderungen geeignet schien den Diskutanten die Wiederbelebung des Klassenmodells auf transnationalem Niveau, wobei die nachfolgenden Ausführungen mit einer Klassenanalyse im Marxschen Sinne wenig gemein hatten. Die Oberklasse demonstriere, so Prof. Bude, eine "unglaubliche Stabilität von Statuszuweisungen". Immer schon eher global aufgestellt, reproduziere sie Herrschaft über Generationen im familiären Verbund mittels weltweiter Verbindungen und internationaler Ausbildung ihres Nachwuchses.

Große Veränderungen dagegen gebe es bei den Mittelschichten. Während sie innerhalb der OECD stagnierten, entstünden in den Schwellenländern, etwa in China oder Indien, neue Mittelklassen, die allerdings nicht mehr das gemeinsame Merkmal von Aufstiegserwartungen kennzeichne, sondern eher ein sich angleichendes Konsumverhalten. Weltweit, so Bude, wünschen sich Mittelschichtsangehörige das gleiche Häuschen, das gleiche Auto et cetera. Auch hier mahnte Anja Weiß zur Differenzierung. Die Weltmittelkasse mit 2 bis 10 Dollar Einkommen pro Tag entspräche keineswegs dem, was in der BRD darunter verstanden wird und im internationalen Vergleich eher zur Oberschicht zähle. Die konkreten Lebenswirklichkeiten von Mittelschichtsangehörigen z.B. in Zimbabwe seien mit deutschen nicht einfach vergleichbar. "Wir sitzen", so Weiß, "eben nicht im gleichen Boot." Einigkeit herrschte darüber, daß die die Mittelschichten bislang kennzeichnenden Charakteristika von Bildungsmotivation und Leistungsbereitschaft nicht mehr greifen. Am Beispiel Chiles - die Namen der Länder ließe sich erweitern und auch auf europäische Verhältnisse ausdehnen - führte Bude aus, daß sich immer mehr junge Menschen mit dem Problem konfrontiert sehen, trotz guter Ausbildung und hoher Leistungsmotivation nichts mehr werden zu können. Bildungsinvestitionen lassen sich nicht mehr amortisieren, so Bude.

Auch in den Unterklassen bilden globale Migrationsprozesse neue Tendenzen von Proletarisierung aus, die von der Weiblichkeit dominiert sind. Im Unterschied zum klassisch männlichen Industrieproletariat sei das neu entstandene Dienstleistungsproletariat in der Pflege, im Service oder in Discountern eher weiblich, ethnisch heterogen und qualifikatorisch diffus. Heute fänden sich in deutschen Putzkolonnen Frauen ohne Ausbildung neben Staatsanwältinnen aus Moldawien, die keine Chance auf eine Anerkennung ihrer Qualifikation haben. Im Zuge einer Außerkraftsetzung des kapitalistischen Aufstiegsversprechens entsteht eine Logik des bloßen, tagtäglichen Überlebens.

Der Referent in Großaufnahme - Foto: © 2014 by Schattenblick

Prof. Dr. Heinz Bude
Foto: © 2014 by Schattenblick

Neue Klassenstrukturen überlagern die klassischen, zog Heinz Bude ein Fazit dieser Strukturveränderungen: Persistente stabile Oberklassen, seit jeher global aufgestellt, Mittelklassen mit unsicheren Bilanzen und, scharf davon abgegrenzt, neue Proletarisierungen. An die Stelle von Zusammenschlüssen mit dem Ziel kollektiver Handlungsmacht im Sinne einer sich organisierenden Arbeiterschaft träten Konzepte des individuellen Sich-Rettens, die Flucht in spektakuläre Lebensentwürfe - und zwar weltweit. Aus dem Tellerwäscher, der sich zum Millionär hocharbeitet, wird der Rapper, der - mit medialer Unterstützung - an allen vorbei seinen Weg nach oben macht. Unterhalb dieser drei Klassen allerdings, kritisierte Anja Weiß, gebe es eine Milliarde Hungernder, die gar nicht erst in das Blickfeld der Wissenschaft gerieten.

Obwohl die Soziologie von ihrem eigenen Anspruch her keine normative Wissenschaft ist, beschäftigte die Frage nach der Zukunft "wirkungsmächtiger Kollektivität" für die, die den Preis der neuen Mobilisierungsprozesse innerhalb der Weltgesellschaft bezahlen, die abschließende Diskussion. Wer sind die Subjekte einer neuen, globalisierten, sozial-moralischen Empfindsamkeit, wie sie Prof. Bude einforderte, wer die Akteure, die sich politisch der Frage globaler Gerechtigkeit annehmen? Ist es die katholische Kirche mit ihrem neuen Hoffnungsträger und Global Player Franziskus, sind es die bürgerlichen Charity-Kulte oder Philantropen à la Bill Gates, die sich lieber in weit entlegenen Gebieten engagieren als vor ihrer eigenen Haustür? Liegt ein Lösungsansatz in der Wohltätigkeit der Reichen oder eher doch in der Solidarisierung der Armen? Ober- und Mittelklasse seien parasitäre Nutznießer, so die Wissenschaftler, aber bei einem gewissen Stand von Wohlstand und Partizipation an Reichtum und Bürgerrechten lebten auch die Proletarier von der weltweiten Ausbeutung.

Jenseits aller Moral gibt es deshalb einen triftigen Grund, Ungleichheit zumindest im Zaum zu halten: die Gefahr mangelnden sozialen Zusammenhalts, das Risiko von Unruhen und Aufständen. Ungleichheit, so Martin Bauer, stehe immer unter dem Verdacht der Desintegration. Die Logik des Risikos, daß wir alle betroffen sind, wenn die Lage nicht in den Griff kommt, zwingt zur Beschäftigung mit Dingen, mit denen wir uns eigentlich nicht befassen möchten, erinnerte Anja Weiß. Man mobilisiert sich im eigenen Interesse. In China oder Indien würden z.B. Programme aufgelegt, die mit einem Minimum an Geld die schärfsten Auswüchse von Armut bekämpfen sollen - nicht etwa aus Mitmenschlichkeit, sondern zur Abwehr von Risiken gesellschaftlicher Destabilisierung. "Afrika", so die Professorin, "kann uns eigentlich egal sein, und es ist uns ja auch egal." Das Risiko-Argument sei das einzig soziologisch plausible Argument, daß es uns doch nicht ganz egal ist.

Links Plakataushang 'Die Zukunft globaler Ungleichheit', rechts dahinter das Institut - Foto: © 2014 by Schattenblick

Veranstaltungsankündigung im Eingangsbereich des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Foto: © 2014 by Schattenblick

Staatliche Wohlfahrt und Fürsorge gelten von jeher als Stützpfeiler von Herrschaft, auch daraus läßt sich die Bedeutung der Forschung auf diesem Gebiet ermessen. Anders als zu Zeiten der Industrialisierung, als der Topos vom 'Kapitalismus' mit der Kritik daran einherging und die Rede von der 'Ausbeutung' linker Gesinnung zugeschrieben wurde, sind diese Begriffe zur nüchternen Feststellung globaler Realitäten mutiert. Während die Frankfurter Schule in ihrer Kritik an einer zur bloßen Verwertungslogik unter der Fahne der Vernunft verkommenen Aufklärung eine Parteilichkeit von Wissenschaft im Sinne einer Veränderung der Gesellschaft forderte bzw. eine solche Forderung von einer studentischen Wohlstandgeneration aus ihr oder in sie hinein interpretiert wurde, scheint der Begriff der Klassengesellschaft heute von neoliberaler Diktion vereinnahmt und zu einer Akzeptanz als unveränderbar hingenommener gesellschaftlicher Zustände entschärft zu sein. Kritiker sehen darin auch das kalkulierte Ergebnis einer Vereinnahmung linken Protestpotentials in der Bundesrepublik nach '45 gegen kritische Entwicklungsoptionen, an der die Frankfurter Schule, in deren Nachfolge das Hamburger Institut für Sozialforschung entstanden ist, ideologisch nicht unbeteiligt war.

Der mit Amüsement quittierte Schlußsatz von Prof. Bude am Ende des Abends "Marx is back" verband, vielleicht unbeabsichtigt, jenen klassischen Kritiker der bürgerlichen Gesellschaft mit der Sprache weltherrschaftlicher Ansprüchlichkeit zu einem salonfähigen Kürzel.


Fußnoten:

[1] Jean-Jacques Rousseau, Über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Antwort auf eine Preisfrage der Akademie von Dijon, 1755
[2] Reinhard Kreckel (2006), Soziologie der sozialen Ungleichheit im globalen Kontext
http://www.soziologie.uni-halle.de/publikationen/pdf/0604.pdf

Siehe dazu auch das Interview zur Podiumsdiskussion im Schattenblick mit Prof. Dr. Anja Weiß unter
www.schattenblick.de → INFOPOOL → SOZIALWISSENSCHAFTEN → REPORT:
http://schattenblick.de/infopool/sozial/report/sori0019.html


6. April 2014