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BERICHT/013: Quo vadis Sozialarbeit? - Anspruch, Profession und Fragen (SB)


Soziale Arbeit - Berufsstand oder Widerstand?

"Der Schulsozialarbeiter Klein hat eine 30-Wochenstunden-Stelle. Das Projekt ist auf drei Jahre befristet, aber jedes Jahr muß es wieder neu beantragt und durchgesetzt werden. Und nun wird ihm angetragen, daß er im nächsten Jahr mit seinen 30 Stunden nicht mehr 2 Schulen wie bisher, sondern 6 Schulen des Stadtgebietes zu betreuen habe. Aber was passiert? Er macht mit: Er paßt sich an die neue Forderung an, er versucht, das Beste daraus zu machen. Er duckt sich weg, obwohl er natürlich genau weiß, daß auf diese Weise so gut wie nichts mehr aus seiner Arbeit herauskommen kann. Und er ist froh, daß seine Stelle überhaupt verlängert wurde ...

Straßensozialarbeiter Pierre H. erhält den Auftrag, bis zum Beginn des Weihnachtsmarktes dafür zu sorgen, daß die Jugendlichen, die sonst immer auf dem Platz herumstehen, aus dem öffentlichen Blickfeld verschwinden. Und Pierre knirscht mit den Zähnen, aber er versucht, den Jungen und Mädchen klar zu machen, daß sie vorerst unerwünscht sind."[1]

Außenansicht der HAW mit Kongress-Plakat - Foto: © 2012 by Schattenblick

8. Bundeskongress Soziale Arbeit in der HAW in Hamburg
Foto: © 2012 by Schattenblick

Von Anbeginn ihrer Entstehung im Zuge der Industrialisierung im 19. Jahrhundert und der damit einhergehenden Zerstörung sozialer Bindungen und der Verelendung anwachsender Bevölkerungsschichten befindet sich Soziale Arbeit im Spannungsfeld zwischen den emanzipativen Ansprüchen ihrer sogenannten Adressaten an ein würdevolles gutes Leben auf der einen und den Bedürfnissen des Staates nach Befriedung eines durch soziale Ungleichheit und menschenfeindliche Arbeits- und Existenzbedingungen evozierten Konfliktpotentials auf der anderen Seite.

Dabei wird unter der Maßgabe einer fortschreitenden Ökonomisierung der Gesamtgesellschaft auch die Soziale Arbeit immer mehr dem Wettbewerb unterworfen. Für die Wissenschaft bedeutet das eine zunehmende Orientierung an Drittmitteln, sprich Finanzierung aus der freien Wirtschaft und deren Geberinteressen, für die Praxis unter den Zielvorgaben von mehr Effizienz und Transparenz heißt es mehr Leistung für weniger Geld, mehr Standardisierung statt individueller Betreuung, mehr Bürokratie und Zuwachs an Kontrolle, für die Betroffenen weniger Essen, Pflege, Teilhabe, Würde, Leben. Aus Fürsorge wird 'Empowerment', aus parteilicher Intervention 'Social Entrepreneurship'. Träger der Freien Wohlfahrtspflege werden zu Unternehmern auf eigenes Risiko. Das Soziale wird dem Ökonomischen untergeordnet, auch Soziale Arbeit muß sich rechnen. Der soziale Wettbewerbsstaat, der an die Stelle des ehemaligen Wohlfahrtsstaates tritt, fördert nur noch diejenigen, die zu fördern sich lohnt.

Das war nicht immer so: In den 1970er und 80er Jahren trat eine kritische Sozialarbeit für selbstbestimmte subjektive Lebensentwürfe auch jenseits gesellschaftlicher Normierung ohne Ausschluß, Stigmatisierung oder Strafe ein. In der sogenannten Heimkampagne forderten Sozialarbeiter und Erzieher zusammen mit den Betroffenen das Ende der geschlossenen Heimunterbringung für Kinder und Jugendliche und ihrer repressiven Bedingungen. Ulrike Meinhofs "Bambule"[2] wurde von den angehenden Sozialarbeitern nahezu verschlungen. Der Begriff der "Lebensweltorientierung", wie er von Prof. Hans Thiersch in den 1980ern in die Debatte gebracht wurde und nicht zuletzt der Topos vom 'Guten Leben', auf das jeder Mensch uneingedenk seiner Leistungsfähigkeit und -bereitschaft einen Anspruch haben sollte, fanden in Abwehr befürchteter radikalerer Gesellschaftsveränderungen Eingang in die praktische Sozialpolitik. Heute sind sie längst einer Verfügung und Verwaltung sozial benachteiligter Menschen unter dem Primat der Wirtschaftlichkeit gewichen. Was einmal als Förderung von Eigen-Sinn als Spezifikum sozialer Arbeit reklamiert wurde, gerät zunehmend zum Stempel sozialer Delinquenz.

Naheliegend, daß von vielen im Feld der sozialarbeitlich Tätigen die Repolitisierung der Sozialen Arbeit gefordert wird. Dabei ist, so Dr. Mechthild Seithe, emeritierte Professorin für Sozialpädagogik an der FH Jena und Verfasserin des "Schwarzbuch Sozialarbeit", Soziale Arbeit immer politisch: "Was Soziale Arbeit auch tut, ob sie sich anpaßt, ob sie rebelliert, ob sie versucht, das Beste daraus zu machen oder sich zu wehren - immer wirkt sie politisch. Sie muß sich deshalb entscheiden, wem sie letztlich dienen will."[3]

Die Chance zu einer kritischen Standortbestimmung bot jetzt der 8. Bundeskongress Soziale Arbeit, der vom 13. bis zum 15. September unter dem Titel "Politik der Sozialen Arbeit - Politik des Sozialen" in Kooperation der Universität Hamburg, der Leuphana Universität Lüneburg, der Fachhochschule Kiel, der Evangelischen Hochschule Hamburg "Rauhes Haus" und der Hochschule für angewandte Wissenschaften (HAW) und von letzterer ausgerichtet, in Hamburg stattfand.

So vielfältig wie die Arbeits- und Problemfelder, in denen Soziale Arbeit unterwegs ist - Familienhilfe, Bildung und Erziehung, Migration, Drogenarbeit, Obdachlosigkeit, Altenpflege, Forschung und Lehre, Gefangenenarbeit, Schulsozialarbeit, Umgang mit Armut, Kinder- und Jugendhilfe, Arbeit mit Behinderten, um nur einige zu nennen -, so vielfältig waren auch die Themen von Workshops und Vorträgen, darunter:

  • Exklusion und Inklusion
  • Capability-Ansatz
  • sozialräumliche Angebote versus freie Jugendhilfe
  • Mitleidsökonomie
  • Konfliktentstehung und -bewältigung vor dem Hintergrund intersektionaler Wirkzusammenhänge
  • Soziale Arbeit in der Post-Demokratie
  • Fachkräftemangel & der Wert Sozialer Arbeit
  • Ethik als Krisendisziplin
  • Adressaten sozialer Arbeit als Kunden
  • Kinderschutz
  • Traumaarbeit
  • Gewaltprävention
  • Promotionsänderung nach Fachhochschulabschluss.

"Es war", so ein Teilnehmer im Fahrstuhl zwischen zwei Veranstaltungen, "für jeden etwas dabei." Dabei sollte nach der Vorstellung der Organisatoren das "Ökonomische vom Sozialen her gedacht", "in gesellschaftlichen Konflikten Position bezogen" und "soziale Rechte verteidigt, Ausgrenzungen kritisiert und Gemeinsames gestärkt" werden, so die Themen der drei großen Tagungsstränge, die die inhaltlichen Schwerpunkte des Kongresses markierten.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Prof. Marion Panitsch-Wiebe
Foto: © 2012 by Schattenblick

Einen solchen Kongress zu organisieren ist keine leichte Aufgabe, wie Marion Panitsch-Wiebe, Professorin für Soziale Arbeit und Offene Kinder- und Jugendarbeit an der HAW, einleitend ausführte. Der Bundeskongress Soziale Arbeit wird nämlich nicht von einer Organisation gefördert oder einer großen Institution getragen, sondern bildet sich seit 20 Jahren aufgrund einer bundesweiten Initiativgruppe und verschiedener lokaler Arbeitsgruppen immer wieder neu. Auf ein "Call for Papers" in der Vorbereitungsphase des Kongresses bewerben sich verschiedenste Gruppen aus Forschung, Lehre und Praxis. Wer teilnimmt, kommt für Anreise, Unterkunft und sonstige Unkosten selbst auf.

Daß auf diesem Wege über 100 Workshops zustande kamen, die von weit mehr als 1000 Teilnehmern besucht wurden, zeigt, wie stark das Interesse der im Bereich Sozialer Arbeit Tätigen und Studierenden an Information ist und wie dringlich der Austausch und eine Diskussion, die sich, so Panitsch-Wiebe, "von Marktinteressen absetzt und weniger auf gesellschaftliche Spaltung abzielt, sondern sich der Menschenwürde und den Menschenrechten verpflichtet fühlt." Die Teilnehmer kamen aus ganz unterschiedlichen Feldern sozialer Arbeit: aus kleinen Projekten und großen Einrichtungen, aus Institutionen, Verbänden und Interessenvertretungen, aus Wissenschaft und Hochschule, aber auch erstaunlich viele aus Eigeninitiativen, Bündnissen und Zusammenschlüssen, die sich aus Anlaß verschärfter Sozialkürzungen und zunehmend prekärer Bedingungen der Sozialen Arbeit gebildet haben. Sie begrüßten den Kongress als ein Forum, wo man sich sieht und trifft, als einen öffentlichen Ort zur Belebung einer Diskussion, die eingeschlafen sei angesichts von Überbelastungen innerhalb des Berufsfeldes, als Quelle für mehr theoretische Bezüge ihrer Praxis, als Chance für einen Austausch mit Kollegen aus anderen Bundesländern, auf der Suche nach ökonomiekritischen politischen Positionen oder auch als Anregung für eine anstehende Bachelorarbeit.[4]

Bei aller Verschiedenheit schien den Teilnehmern aus Theorie und Praxis eines gemeinsam: das Ringen um Anerkennung, hier als Wissenschaft, dort als gesellschaftlich wichtige und notwendige Arbeit, sowie ein angemahnter Nachholbedarf an Selbstbewußstein - hier gegenüber den "richtigen" Wissenschaften, dort im Nicht-Einverständnis mit radikalen Kürzungen, die die Sozialen Arbeiter nicht selten selbst an den Rand prekärer Arbeitsverhältnisse bringen. Gewohnt, mit nichts zu improvisieren und aus allem das Beste zu machen, fügen sich Sozialarbeiter allzu oft in die Verhältnisse.

Foto: © 2012 by Schattenblick

Großer Andrang beim 8. Bundeskongress Soziale Arbeit
Foto: © 2012 by Schattenblick

Deutlich wurde aber auch der als solcher benannte Bruch zwischen Profession und Praxis. Den vorwiegend aus der Praxis kommenden Teilnehmern aus dem gesamten Bundesgebiet, aber auch aus Österreich und der Schweiz, die mit konkreten Fragen, Vorschlägen und einem großen Bedürfnis nach Austausch und Diskussion angereist waren, saßen oft Angehörige eines Wissenschaftsbetriebes gegenüber, denen es bisweilen mehr um die eigene Profilierung und Konkurrenz untereinander ging. Daß die angekündigten Formen der Agoren und Arenen, in denen nach römischem Vorbild alle in Kampf, Streit und Spiel zu Wort kommen sollten, oft mehr Wunsch als Wirklichkeit blieben, mag u.a. der Fülle der Veranstaltungen und der damit verbundenen Zeitknappheit geschuldet sein - daß die Adressaten Sozialer Arbeit bis auf wenige Ausnahmen fast gänzlich fehlten, war sicherlich kein Versehen.

Der Schattenblick hatte die Gelegenheit, den Kongress journalistisch zu begleiten und dabei in Erfahrung zu bringen, was sich hinter den neuen Begriffen verbirgt, was ein 'Case-management' mit Datenschutz zu tun hat, wie eine 'bedarfsorientierte Beschäftigungsförderung als Ergänzung des Marktes' aussieht, was eine propagierte 'politische Ökonomie' der zunehmenden und beklagten 'BWLisierung der Sozialen Arbeit' wirklich entgegensetzt und was Europa mit all dem zu tun hat. Spannend war auch zu erfahren, ob und inwiefern die geforderte Professionalisierung Sozialer Arbeit in Theorie und Praxis Möglichkeiten zu kritischer Selbstreflexion eröffnet oder nurmehr bei aller innovativer Begrifflichkeit eine Verschleierung von Anpassungsprozessen an die neuen Verhältnisse darstellt und welchen Preis sie dafür zahlt oder zu zahlen bereit ist.


Anmerkungen
[1] Mechthild Seithe, Zur Begründung einer Repolitisierung Sozialer Arbeit, Ringvorlesung 'Das Politische im Sozialen', FH Jena, 14.01.2011
[2] Ulrike Marie Meinhof, Bambule, Fürsorge für wen?, neu aufgelegt, Berlin 2002
[3] Mechthild Seithe, a.a.O.
[4] Teilnehmer des Kongresses in Kurzinterviews mit dem Schattenblick

Foto: © 2012 by Schattenblick

Ort des Geschehens - Die HAW in Hamburg
Foto: © 2012 by Schattenblick

25. September 2012