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RATGEBER/044: Brauchen Kinder Grenzen? (welt der frau)


welt der frau 9/2008 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Familie & Beziehung
Brauchen Kinder Grenzen?
Dr. Jan-Uwe Rogge über ein noch immer aktuelles Thema

Interview von Christine Haiden


WELT DER FRAU: Vor fünfzehn Jahren stieß Ihr Titel "Kinder brauchen Grenzen" auf große Zustimmung. Bei der Neuausgabe wurde der Titel belassen. Stimmt er heute noch?

DR. JAN-UWE ROGGE: Ich denke, dass er mehr denn je stimmt, gerade auch im Hinblick auf die Diskussionen über Werte und Disziplin, bei denen mehr über Kinder räsoniert wird, anstatt sie ernst zu nehmen. Für mich ist der Terminus "Grenzen" vielschichtig: "Kinder brauchen Grenzen" meint auch, den Heranwachsenden Raum und Zeit zu geben, sich zu entwickeln.

WELT DER FRAU: Wenn man aktuelle Debatten verfolgt, könnte man meinen, mehr als Grenzen brauchen Kinder heute Zeit, Zuwendung, Beziehung.

DR. JAN-UWE ROGGE: Das stimmt zweifellos. Aber Grenzen zu setzen bedeutet, dies nicht als pure, seelenlose Technik zu verstehen. Grenzen zu setzen bedeutet sowohl für die Eltern als auch für die Kinder eine Zumutung. Und diese Zumutung kann man nur auf der Basis einer stabilen Beziehung zum Kind leben. Grenzen zu setzen setzt gegenseitige Achtung und gegenseitigen Respekt voraus.

WELT DER FRAU: Welche neuen Herausforderungen stellen sich heute den Eltern?

DR. JAN-UWE ROGGE: Ich meine, es sind drei Momente, die Eltern beschäftigen: Zum einen will man es als Vater und Mutter besonders richtig und absolut perfekt machen. Und damit ist ein Scheitern vorprogrammiert. Mehr denn je kommt es auf den Mut zur Unvollkommenheit an. Eine zweite Herausforderung besteht darin, dass Erziehung nicht Vorbereitung auf das Leben, sondern das Leben selbst ist. Und dies bringt häufig das Gefühl mit sich, man sei ununterbrochen in Erziehungsprozesse verwickelt. Eine dritte Herausforderung sehe ich in den neuen Kommunikationstechnologien, die es einerseits zu nutzen gilt, aber andererseits kommt man nicht um klare Grenzen herum. Erinnert sei hier nur an den Computer, das Internet, das Handy!

WELT DER FRAU: Das Setzen von Grenzen fällt Erziehenden oft schwer. Wie finden Eltern das richtige Maß?

DR. JAN-UWE ROGGE: Erziehung ist Beziehung. Ich kann als Vater oder Mutter nur erziehen, wenn ich bereit bin, mich auf das Kind als individuelle Persönlichkeit einzulassen. Aber umgekehrt gilt auch, sich als Persönlichkeit in die Erziehungsbeziehung einzubringen. Kinder wollen Persönlichkeiten, an und mit denen sie sich reiben können. Wer Grenzen setzt, muss die Balance zwischen einem Zuviel an Grenzen und einem Laisser-faire-Stil, der von Kindern als Gleichgültigkeit empfunden wird, finden. Diese Balance gelingt nicht jeden Tag. Aber so sieht nun einmal der Erziehungsalltag aus. Wichtig ist, auf die Reaktionen der Kinder zu achten. Sie zeigen uns durch ihr Tun, wenn etwas nicht stimmt. Erziehung hat dann beglückende Momente, wenn man sich als Mutter und Vater auch als Lernende begreift und die Kinder als großzügige Lehrmeister. Kinder wollen von ihren Eltern nicht nur Liebe und Halt bekommen, sie geben ihren Eltern auch Zuwendung und Kraft.

WELT DER FRAU: Sie sagen, Kinder brauchen Grenzen. Brauchen auch Eltern Grenzen?

DR. JAN-UWE ROGGE: Für mich sind zwei Begriffe in der Erziehung zentral: die Dankbarkeit und die Demut. Man sollte dankbar sein, wenn es einem gelingt, Kinder in das Leben zu begleiten. Das hat auch ganz viel mit individuellem Glück zu tun und nicht allein mit der Anwendung von Techniken. Dies bedeutet auch, gut für sich zu sorgen, diese Dankbarkeit auch zu empfinden. Im Wort Demut steckt auch der Begriff "humus", die Erde. Der demütige Mensch ist nicht der unterjochte, geknechtete. Der demütige Mensch ist sich seiner Grenzen, der Grenzen von Machbarkeit jederzeit bewusst. Dies gilt insbesondere für die Erziehungsbeziehung. Kinder sind also auch dazu da, die Eltern zu erden, sie vor dem Abheben und dem Hochmut zu bewahren, immer alles im Griff zu haben.

Buchtipp:
Jan-Uwe Rogge: "Eltern setzen Grenzen", Rowohlt, 256 Seiten, Euro 10,80


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 9/2008, Seite 9
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. September 2008