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RATGEBER/038: Warum so perfekt? (welt der frau)


welt der frau 11/2007 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Warum so perfekt?

Von Dr. Jan-Uwe Rogge
Interviews: Michaela Herzog


"Plötzlich befällt mich dieses schlechte Gewissen wieder!" Ein Satz, der häufig aus dem Mund von Müttern zu hören ist. Wieso berufstätige Frauen ein schlechtes Gewissen ihren Kindern gegenüber haben und wie sie damit umgehen können.


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Ein Problem elterlicher Erziehung in der Gegenwart ist der Perfektionismus, dieser geradezu zwanghafte Versuch, alles anders zu machen als früher, bloß keinen Fehler zu begehen. Deshalb erzieht man nicht nur, man will vielmehr perfekt erziehen, will das absolut Beste für das Kind. Aber keine Mutter, kein Vater kann je hundertprozentig sein. Da aber solche Unvollkommenheit nur schwer zu ertragen ist, sucht man nach Sündenböcken für das alltägliche Scheitern an den selbst gesteckten hohen Ansprüchen. Und ein Sündenbock ist dabei schnell zur Hand - die eigene Person. Je perfekter Eltern sein wollen, umso unerbittlicher gehen sie mit sich um, umso heftiger sind die Selbstanklagen, umso schmerzhafter klingen die Selbstvorwürfe, umso mehr schlägt und pocht das schlechte Gewissen. Statt nach einem nicht umzusetzenden Perfektionismus zu streben, kommt es vielmehr auf den Mut zur Unvollkommenheit an, denn Unvollkommenheit ist menschlich. "Unvollkommen, also bin ich", sagen die amerikanischen Psychologen Howarth und Tras.

Der "Mut zur Unvollkommenheit" ist eine Möglichkeit, mit dem selbst produzierten schlechten Gewissen umgehen zu lernen, es zu akzeptieren, eine andere, menschenfreundlichere Haltung dagegenzusetzen ... Und dies soll an zwei Situationen, die schnell ein schlechtes Gewissen aufbauen, konkretisiert werden.


"Ich muss den Anforderungen mehr als genügen!"

So pragmatisch Mütter mit den verschiedenen organisatorischen Problemen umgehen, die sich aus der Doppelbelastung von Haushalt und Beruf ergeben, so couragiert sie sich diesen Herausforderungen stellen und sich als kompetente Zeitmanagerinnen erweisen, so groß sind ihre Skrupel und Bedenken, wenn es um die gefühlsmäßigen Auswirkungen geht, die ihre Berufstätigkeit auf die Entwicklung der Kinder haben kann. Hier sind sie hin- und hergerissen zwischen Pflicht und Neigung: Da ist einerseits die Sorge um das Wohl des Kindes, da sind andererseits Wünsche und Träume, sich in Bereichen jenseits des Familienlebens zu verwirklichen.


Wie geredet wird

Zwei Muster kennzeichnen die Diskussionen über berufstätige Mütter:

Manche öffentlichen Diskussionen wollen belegen, dass die Probleme in der kindlichen Entwicklung auf die Erwerbsarbeit der Mütter zurückzuführen sind, die fehlende Zeit psychische Defizite verursacht. Dies hat sich als unsinnig und vereinfachend herausgestellt.
 
Zugleich werden Vollzeitmütter und berufstätige Mütter gegeneinander ausgespielt, wird suggeriert, dass gute Mütter - je nach Standpunkt - einer Berufstätigkeit nachgehen oder sich ausschließlich als Erzieherin in der Familie verwirklichen. Tatsächlich. "Gute" Mütter arbeiten - nur wo, das muss jede Mutter für sich entscheiden. Und wichtig dabei ist: Sie muss zu ihrer Entscheidung stehen. Nur diese Haltung gewährleistet innere Zufriedenheit.


Was tun?

Es gibt keine allgemeingültigen Rezepte, nach denen man die Entscheidung für oder gegen die Berufstätigkeit leicht treffen kann. Aber einige Kriterien kann man nennen:

Jede Mutter muss aufgrund ihrer individuellen Lebens- und Alltagssituation entscheiden. Jede Entscheidung hat Vor- und Nachteile. Es gibt keine perfekte Lösung.
 
Für die berufstätige wie für die Vollzeitmutter gilt: Kinder sind eigenständige Wesen, die mental nicht verkümmern, wenn Mütter mal nicht anwesend sind.
 
Für berufstätige Mütter heißt es: Kinder nicht verantwortlich und zum Sündenbock zu machen, wenn manches nicht so läuft. Oder sich nicht mit schlechtem Gewissen quälende Selbstvorwürfe zu machen, wenn mal wieder Stress angesagt ist. Und für Vollzeitmütter bedeutet das: Kindern später nicht vorzuhalten, man habe ihnen zuliebe auf vieles - auch auf den Beruf - verzichtet.


"Alleinerziehend! Bin ich eine Rabenmutter?"

Wenn Alleinerziehende - und das sind in der Mehrzahl Frauen - in die Beratung kommen, dann fällt mir auf: Sie führen Schwierigkeiten, die die Kinder haben oder machen, auf ihr Singledasein zurück und darauf, dass den Kindern ein männlicher Part fehlt. Und da Alleinerziehende dieses - auch von der Umwelt geprägte - Bild nahezu verinnerlicht haben, kommt es nicht selten zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung: Da glaubt man, man habe versagt und dem Kind etwas genommen, das es zu seiner Entwicklung braucht, und schon tritt das negative Ereignis fast automatisch ein. Dabei zeigen Befragungen und wissenschaftliche Untersuchungen: Kinder aus Ein-Eltern-Familien sind nicht verhaltensschwieriger, gewaltbereiter oder zeichnen sich häufiger durch Schulversagen aus. Meine Beobachtung: Je selbstverständlicher sich der alleinerziehende Elternteil mit der Situation des Getrenntlebens arrangiert hat, umso selbstbewusster und eigenständiger gehen Kinder auch damit um, umso sicherer richten sie sich ihr Leben ein und umso eigenständiger bewältigen sie die Aufgaben.


Zu wenig Zeit?

Allerdings sind Alleinerziehende nicht selten eingezwängt in den Zeitplan, den man nur mit viel Disziplin, Flexibilität und Kreativität einhalten kann - und der subjektiv das Gefühl hinterlässt: "Ich bin nicht da, wenn mein Kind mich braucht!" Die knappe Zeit fordert die Alleinerziehenden heraus und überfordert sie nicht selten: Kinder müssen in der Tagesstätte, bei Freunden oder den Großeltern untergebracht werden, man muss sie zwischen Arbeitsschluss und Schlafenszeit abholen, muss Aufgaben kontrollieren, die Kinder ins Bett bringen. Und je jünger das Kind ist, umso schwieriger wird die Koordination. Und dann ist da noch die Hausarbeit, Zeit zum Genuss, Zeit für sich bleibt da kaum. Und so opfern sich nicht wenige Alleinerziehende auf, da auf keinen Fall das Kind zu kurz kommen soll.

Meine Tipps:

Setzen Sie Prioritäten im Alltag! Sie müssen nicht jeden Tag den Haushalt auf Hochglanz bringen!
 
Vergleichen Sie sich nicht ständig mit anderen! Stehen Sie zu Ihrer Situation! Bedenken Sie: Das So-ist-es-Gefühl stärkt, eine O-wie-schade-Traurigkeit schwächt!
 
Schaffen Sie sich ein soziales Netzwerk aus Verwandten, Freunden und Gleichgesinnten, mit denen Sie sich ausquatschen können, die Sie emotional unterstützen.


Vom Mut zur Unvollkommenheit

Kindererziehung hat zu tun mit dem Mut zur Unvollkommenheit. Und mit diesem Gedanken sind Frust und Trost verbunden. Der Frust besteht darin, dass Erziehung nicht wirklich mach- und planbar ist; Frust vielleicht auch darüber, dass man es weder den Kindern noch sich selber in jeder Situation recht machen kann. Der Trost zeigt sich in Gelassenheit. Und Gelassenheit (nicht Gleichgültigkeit!) meint: Ich lasse zu. Ich lasse los. Ich lasse zu, dass ich so bin, wie ich bin. Ich lasse zu, dass ich ein Kind habe, das so ist, wie es ist. Es ist eine einzigartige, unvergleichliche Persönlichkeit.


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Interviews:

Anforderungskatalog für Mütter
Kornelia L.(*), 45, Wirtschaftsmediatorin und Coach, zwei Kinder

Meine erste Tochter habe ich mit 20 Jahren bekommen, die zweite zwölf Jahre später. Ich kenne Lebensphasen als Alleinerzieherin und als verheiratete Frau. Neben meinem Muttersein war ich all die Jahre berufstätig, habe Ausbildungen gemacht, organisiert, jongliert, terminisiert. Unzählige Kuchen gebacken, Geburtstagsfeste veranstaltet, Urlaube bezahlt. Und versucht gegen mein schlechtes Gewissen anzugehen. Die Erwartungen der Gesellschaft, was Mütter sollen, dürfen, müssen, wollen, sind ja genau definiert. Als Mutter steht man unter öffentlicher Beobachtung mit einer Endlospflichtenliste. Als Mutter hechelst du durch das Leben und genügst scheinbar nie. Wenn das Kind zu langsam schreibt, verträumt ist, oft Schnupfen hat oder nicht grüßt, dann sicherlich deshalb, weil die Mutter arbeitet und Kinder von zwei verschiedenen Vätern hat. Aus Erschöpfung, weil du täglich 100.000 Dinge gleichzeitig tust, glaubst du das sogar noch. Schlechtes Gewissen stellt sich auf Knopfdruck ein, wenn das Kind traurig ist. Weil du alleine den gelungenen Purzelbaum beim Weihnachtsturnen bewunderst. Die kindlichen Sehnsuchtsbilder von Vater-Mutter-Kind machen traurig, weil du sie nicht erfüllen kannst.

Und dann versuchst du den Kinder viel zu ermöglichen. Sowohl auf der emotionalen als auch auf der materiellen Ebene. Als Alleinerzieherin wollte ich ihnen den Standard bieten, den andere auch hatten. Im Job interessiert niemand, dass gerade ein Zahn wackelt, die Mathematikaufgabe unlösbar scheint oder dein Kind am Telefon weint, weil du nicht daheim bist. Weil du versprochen hast, die Lieblingshose zu waschen und es einfach nicht mehr geschafft hast.


Bin ich eine Rabenmutter?
Katharina N.(*), 38, Angestellte, geschieden, vier Kinder

Wegen der Kinder zusammenzubleiben wäre nicht mehr verantwortungsvoll gewesen. Es war absolut keine leichtfertige Entscheidung. Als mein Exmann und ich unseren Kindern die Trennung mitgeteilt haben, waren die Größeren sichtlich erleichtert. Mein Ältester hat dann versucht, mich zu unterstützen, indem er das Familienruder übernehmen wollte. Es hat mehrere Gespräche gebraucht, bis ich ihm klarmachen konnte, dass ich die Chefin der Familie bleibe.

Bin ich eine Rabenmutter? Als berufstätige und geschiedene Mutter von vier Kindern. Bin ich zu egoistisch? Kommen meine Kinder dabei zu kurz? Diese Gedanken sind schlagartig da und machen kombiniert mit schlechtem Gewissen depressiv und die Kinder unglücklich. Schlechtes Gewissen? Mein Exmann würde ganz klar mit "Ich? Nein" antworten. Dass ich jetzt nur mehr die Hälfte des Lebens meiner Kinder mitbekomme, daran muss ich mich erst gewöhnen.


Ein ständiger Balanceakt
Eva K.(*), 44, Juristin, verheiratet, ein Sohn

Der tägliche Zeitkuchen ist begrenzt, wenn ich als Mutter im Beruf etwas weiterbringen will. Da ist es mit acht Stunden meist nicht abgetan. Abendtermine, Veranstaltungen und Vorträge reihen sich aneinander, die mein Mann und ich getrennt voneinander wahrnehmen wollen. Keiner von uns hat trotz Kind beruflich zurückstecken müssen, mit der Kinderbetreuung haben wir uns gut abgewechselt. Doch Zeit und Energie für die Paarbeziehung bleibt kaum übrig.

Ist es das wert, habe ich mich in den vergangenen Jahren immer wieder gefragt. Dass ich meinen Sohn nicht jeden Tag erlebe und auf ihn eingehen kann. Dass ich nach einem langen Tag ein bis zwei Stunden mit ihm verbringe, bevor er ins Bett geht und ich mich wieder an den Schreibtisch setze. Bin ich eine gute Mutter? Manchmal drückt mich schlechtes Gewissen. Das habe ich kompensiert und an den Wochenenden versucht auszugleichen. Ich möchte nicht verschweigen, dass mich Gedanken - leidet mein Kind, bekommt er zu wenig Aufmerksamkeit - manchmal mehr oder weniger befallen haben. Genährt von gesellschaftlichen Konventionen, dass gute Mütter eher mehr für Kinder da sein sollten. Doch mein Sohn erlebt Liebe, Vertrauen, Geborgenheit und entwickelt sich gut.

(*) Der Name ist der Redaktion "welt der frau" bekannt.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 11/2007, Seite 16-18
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Februar 2008