Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE

RATGEBER/037: Starke Kinder brauchen starke Eltern (welt der frau)


welt der frau 11/2007 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Starke Kinder brauchen starke Eltern
Interview mit Erziehungswissenschafterin Sigrid Tschöpe-Scheffler

Von Christine Haiden


Kinder brauchen Wurzeln und Flügel, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Sigrid Tschöpe-Scheffler. Dazu brauchen Kinder Eltern, die selbst wissen, worauf es ihnen im Leben ankommt.


CHRISTINE HAIDEN: Immer wieder diskutieren wir, wie unverzichtbar die intensive Bindung des Kindes an die Mutter für seine gedeihliche Entwicklung ist. Was kann die Forschung dazu sagen?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Die Bindungs- und auch die Hirnforschung haben hinlänglich bewiesen, dass eine stabile, liebevolle Beziehung zu einer Hauptbezugsperson für die kindliche Persönlichkeitsentwicklung ganz wesentlich ist. Ob das die Mutter ist oder der Vater oder eine andere verlässliche Bezugsperson, die eine sichere Bindung anbietet, ist für das Erleben des Kindes nicht so entscheidend. Auch kann sich in die Mutter-Kind-Symbiose oder die Bezugsperson-Kind-Symbiose ein Dritter oder Vierter einbringen. Das ist sogar wichtig für neue Reize, für Lernerfahrungen, für den ganzen Bereich der Förderung. Es geht nicht um die Ausschließlichkeit einer Person sondern dass es eine Person gibt, die verlässlich da ist, und dass dritte Personen - Vater, Großeltern, Geschwister, Freunde - da sind, die das ergänzende Umfeld darstellen.

CHRISTINE HAIDEN: Wie viel Anwesenheit dieser ersten Bezugsperson braucht ein Kind?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Es ist nicht nur eine Frage der Zeit, sondern der Qualität des Kontakts, wenn ich mit meinem Kind beisammen bin. Eine interessante Studie zeigt, dass die Mutter, die zu Hause und zufrieden ist, Zeit hat und eine personale Beziehung zum Kind eingeht, für die Persönlichkeitsbildung des Kindes am besten ist. Am zweitbesten schneidet die berufstätige Mutter ab, die zufrieden ist, eine adäquate Fremdbetreuung für ihr Kind hat und die Zeit mit dem Kind angemessen verbringt.

CHRISTINE HAIDEN: Reicht eine halbe Stunde am Abend, um eine Beziehung aufzunehmen?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Eine halbe Stunde ist mit Sicherheit zu wenig, weil sich da keine Beziehung entwickeln kann. Beziehungen ergeben sich durch gemeinsame Interessen, durch die Alltagsgestaltung und durch regelmäßige intensive Kontakte, wie zum Beispiel einen gemeinsamen Nachmittag oder einen Vormittag miteinander. Auch ein gut geführtes Wochenende mit Ritualen und Gemeinsamkeiten fördert die Beziehungsgestaltung.

CHRISTINE HAIDEN: Das würde Modellen das Wort reden, dass beide Eltern in der Phase der Kinderbetreuung weniger arbeiten, sodass man auch während der Woche mehr Zeit für die Kinder hat.

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Das wäre ein Modell von vielen. Familien haben heute unterschiedliche gute Alternativen. Es gibt auch gute Fremdbetreuungen, wie zum Beispiel durch die Großeltern, Tagesmütter oder Krippen. Generell kann man nicht sagen, so wie es aktuell geschieht, die Ganztagesbetreuung in einer Krippe sei das A und O. Diese Betreuungsform kann gut sein, wenn für Qualität gesorgt wird. ErzieherInnen in Österreich und Deutschland leisten unendlich viel, sind aber im europäischen Vergleich am schlechtesten ausgebildet. Da muss noch einiges an Qualifizierung in der Ausbildung dazukommen.

Aber es gibt auch noch den gesunden Hausverstand, der in den ersten Lebensjahren dazugehört, wenn es um Emotionalität und Beziehung geht. Am besten wäre der gesunde Hausverstand kombiniert mit professioneller Wahrnehmung.

CHRISTINE HAIDEN: Wo sehen Sie den Mangel der professionellen Erzieher und Erzieherinnen?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Parallel zum pädagogischen Wissen muss die Ausbildung der eigenen Persönlichkeit betrieben werden. Persönlichkeit und Pädagogik sind nicht zu trennen. Aber man muss auch die Personalsituation in Kindertageseinrichtungen sehen. Es geht nicht, dass wir in der Phase, in der am meisten gelernt und erfahren wird, einen Personalschlüssel von 1:25 haben.

CHRISTINE HAIDEN: Welchen Schlüssel empfehlen Sie?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: 1:15 fände ich ab dem dritten Lebensjahr schon besser. Für die unter Einjährigen ist ein Schlüssel von 1:5 angemessen. Die BetreuerInnen müssen wirklich zu jedem einzelnen Kind in eine Beziehung treten können.

CHRISTINE HAIDEN: Ist aus pädagogischer Sicht eine gemischtaltrige Kleinkindbetreuung, die eine geschwisterähnliche Konstellation erzeugt, von Vorteil?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Ich plädiere für Familiengruppen, weil ich denke, das ergibt sich logisch aus dem natürlichen Prozess, wie Kinder in Familien leben. Größere Kinder lernen von kleineren und umgekehrt.

CHRISTINE HAIDEN: Öffentlich debattiert man, wie die Kinderbetreuungseinrichtungen noch mehr zu Bildungseinrichtungen werden können. Welche Bildung braucht man im Vorschulbereich?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Es gibt zwei große Strömungen in der Bildungsdebatte. Die eine ist, dass selbsttätige Bildung unterstützt werden soll, also schafft man Rahmenbedingungen, in denen Kinder neugierig werden, Fragen stellen und sich ihre Antworten erarbeiten können. In anderen Konzepten geht es eher um gezielte Förderprogramme, zum Beispiel im Hinblick auf sprachliche oder schulische Förderung.

Kinder brauchen in den ersten Lebensjahren eine gute, emotionale Basis. Sie müssen sich sicher fühlen, gesehen und wahrgenommen werden und viele neue Erfahrungen machen können. Gipfelstürmer brauchen eine Basisstation. Das entspricht meinem Bildungskonzept. Man muss Kinder individuell im Blick haben, wissen, wo sie gerade stehen, welche Fragen sie haben, und ihnen helfen, diese Fragen zu beantworten.

CHRISTINE HAIDEN: Die Ansprüche an außerhäusliche ErzieherInnen sind groß. Eltern sind im Verhältnis dazu blutige Amateure. Reicht das, was Eltern mitbringen, um ein Kind zu erziehen?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Das ist auch die Frage, ob man Erziehung lernen kann. Wenn Eltern eine Beziehung zu ihrem Kind aufnehmen und es allseitig umsorgen, wenn sie sich auf ihr Kind einlassen, wissen und spüren sie, was es braucht, und sie können handeln.

Eltern lassen sich oft nicht auf diese elementare Beziehung ein, weil sie mit eigenen Problemen belastet sind. Wo Eltern sich einlassen können, passiert vieles von selbst.

CHRISTINE HAIDEN: Was heißt, sich auf ein Kind einzulassen?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Hier sind die Achtsamkeit und die Wahrnehmung ganz wichtig. Wir müssen beobachten, was Kinder uns sagen wollen. Schon Säuglinge zeigen mir, wenn ich sie auf den Arm nehme und sie das nicht wollen. Sie drehen den Kopf weg, sie machen sich steif. Ein sensibler Vater und eine achtungsvolle Mutter nehmen das wahr und achten gleichzeitig ihr eigenes Bedürfnis. So möchte der Vater vielleicht gerne mit seinem Kind schmusen, weil er zum Beispiel einen stressigen Tag hatte. Er kann entscheiden, auf das Bedürfnis des Kindes zu reagieren und zu schauen, was das Kind möchte. Das ist schwer. Da kann es sein, dass man Unterstützung braucht im Sinne einer "Wahrnehmungsschulung". Das ist weniger eine Strategie im Sinne von Erziehungstipps, die erstens, zweitens, drittens zum Ziel führen. Bestimmte Erziehungsmittel wie zuzuhören und wahrzunehmen oder Grenzen zu setzen können gelernt werden.

CHRISTINE HAIDEN: Wie kann man im Erziehungsalltag sein Wahrnehmungsverhalten entwickeln?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Dazu braucht man Unterstützung, wenn man es nicht intuitiv hat. Veranstaltungen der Elternbildung können Eltern dabei helfen. Manche glauben mehr an Erziehungsratgeber als an das, was sie mitbringen und fühlen. Wer nur das tut, was einem jemand anderer vorsagt, ist in Gefahr, das nicht wahrzunehmen, was er selbst will und wahrnimmt.

Jeder Mensch will wahrgenommen und geliebt werden. Wenn ein Kind nicht angemessen wahrgenommen wird, reagiert es. Das sind dann die Störungen. Eltern suchen dann oft Hilfe und Beratung. Das sind die besten Gelegenheiten zu lernen, zum Beispiel einmal eine Woche lang nur wahrzunehmen, was das Kind schon gut kann.

CHRISTINE HAIDEN: Es muss also immer auch das eigene Gefühl als Erziehender reflektiert werden.

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Unbedingt. Das wäre das Professionelle der Elternschaft neben dem Hausverstand und der intuitiven Elternkraft. Wir kennen alle den Satz: Ich will nur dein Bestes, und weil ich dich liebe, weiß ich, was für dich gut ist. Den Satz haben viele aus meiner Generation gehört. Es gibt aber eine vereinnahmende Liebe, die den anderen nicht loslässt. Dann kann die Mutter sagen: "Weil ich mein Kind liebe, lasse ich es nicht alleine auf den Spielplatz gehen." Da lohnt es sich, noch einmal zu reflektieren: Der Spielplatz ist um die Ecke und mein Kind ist sieben Jahre alt. Es scheint also meine eigene Angst zu sein, die mich abhält, mein Kind weggehen zu lassen. Eltern sollten darüber nachdenken, wie sie mit ihren eigenen Freiräumen umgehen. Was ich selbst nicht lebe, ermögliche ich unter Umständen meinen Kindern auch nicht. Oder, wie eine Mutter sagte: "Ich weiß, dass ich eine ängstliche Mutter bin, und deswegen zähle ich bis zehn, wenn ich sehe, dass mein Kind auf dem Spielplatz auf das höchste Gerät klettert, und drehe mich um und vertraue, dass es nicht runterfällt. Und es fällt nicht runter." Diese Mutter ist durch ihre Angst gegangen.

CHRISTINE HAIDEN: Das Vertrauen der Eltern ist das Kapital der Kinder.

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Ja, das Vertrauen der Eltern in die Selbstentfaltungskraft der Kinder. Eine Mutter sagte: "Wenn ich ganz viel Angst habe, dann falte ich auch die Hände, denn irgendjemand muss dem Kind beistehen, wenn ich es nicht kann."

Eltern, die ein kosmisches Urvertrauen haben und an etwas Göttliches glauben, fühlen sich in schwierigen Situationen entlastet. Das Kind hat das Recht auf ein Leben mit Risiken. Wenn ein Kind nicht lernt, mit Risiken zu leben, wie soll es als Erwachsener mit Krisen umgehen? Durchlebte Krisen bedeuten auch ein Stück in der Entwicklung weiterzukommen.

CHRISTINE HAIDEN: Die Welt der Kinder wird oft sehr stark von Erwachsenen kontrolliert. Diese vermitteln und überwachen sogar die Kinderkontakte.

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Das ist sehr einschränkend für die Autonomieentwicklung der Kinder. Eltern organisieren häufig nicht nur die Besuchstermine für ihre Kinder, sondern - ich nenne das die "Generation Rücksitz" - transportieren sie im Auto auch überall hin. Diese Kinder haben keine Kontrolllöcher mehr. Alle Kinder finden aber ihre Löcher, sie stören dann oder machen ganz riskante Dinge. Kinder müssen sich erproben.

CHRISTINE HAIDEN: Eltern werden sagen, es sei praktischer, die Kinder zu fahren, weil das auch sicherer sei.

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Das Argument höre ich oft. Dann frage ich die Eltern, wie sie ihre Kindheit verbracht haben. Dann bekommen die Eltern funkelnde Augen und erzählen von tollen Abenteuern, die ihre Eltern nie hätten wissen dürfen. Ich frage sie: "War das denn nicht gefährlich?" - "Doch, doch, das war schon gefährlich, aber unsere Mütter wussten das ja nicht." Aber bei den eigenen Kindern haben sie zu viel Angst.

Es ist wichtig, mit den Kindern über das zu reden, was passieren kann, und Möglichkeiten zu besprechen, was sie tun können, wenn etwas passiert.

CHRISTINE HAIDEN: Gefahren lassen sich nicht ganz aus dem Weg räumen.

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Es geht darum, angemessen mit Gefahren und Krisen umzugehen. Kinder brauchen die Chance, schwierige Situationen selbst zu lösen. Wenn Eltern klagen, dass ihre Kinder bequem werden, kann es sein, dass sie für die Kinder das getan haben, was deren Aufgabe wäre, zum Beispiel einen Streit mit einem Freund selbst auszutragen oder Konflikte in der Schule selbst zu lösen. Das ist "Krisenklau". In unangenehmen Situationen brauchen Kinder Begleitung und Ermutigung, aber sie können sie selbst durchstehen.

CHRISTINE HAIDEN: Ist für Eltern oft unklar, was ihre Verantwortung in der Erziehung ist?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Erwachsene sind zuerst verantwortlich für sich. Das heißt, ich zeige mich als Person mit dem, was mir wichtig ist, was meine Werte sind, was ich glaube und wie ich lebe. Das muss ich für mich klären. Das Zweite ist, dass sie verantwortlich für ihr Kind sind, für die Begleitung seines Aufwachsens und für die Art der Beziehungsgestaltung zwischen dem Kind und ihnen selbst. Kinder müssen eine Chance haben, sich von den Eltern abzugrenzen. Das können sie nicht, wenn Eltern so sein wollen wie die Kinder. Wir sollten als Erwachsene nicht so tun, als wüssten wir, was das Kind will. Wir sollten lieber herausfinden wollen und staunen, wer dieser fremde Mensch, dieses Kind ist.

CHRISTINE HAIDEN: Wie kann man Familien entlasten, die sich ungenügend fühlen, zum Beispiel weil ein Partner fehlt oder sie sich selbst noch nicht genügend gefestigt fühlen?

SIGRID TSCHÖPE-SCHEFFLER: Alle fühlen sich irgendwann einmal ungenügend. Ob das die sogenannte heile Familie ist oder die alleinerziehende Mutter oder der arbeitslose Vater, wir haben alle auch als Erwachsene Krisen zu bewältigen. Es ist unsere Aufgabe, mit diesen Krisen und mit den Menschen, die diese Krisen betreffen, im Austausch zu bleiben. Es gibt in jeder Familie schwere Situationen. Wichtig ist zu lernen, wo man sich Hilfe holen kann. Menschliches Leben ist fragmentarisch. Keiner hat das perfekte Leben. Mit diesen Fragmenten zu leben, sie zu akzeptieren und dennoch ein gelingendes Leben zu führen, ist unsere lebenslange Entwicklungsherausforderung.


Prof.in Dr.in Sigrid Tschöpe-Scheffler ist Direktorin des Instituts für Kindheit, Jugend, Familie und Erwachsene an der Fakultät für Angewandte Sozialwissenschaften in Köln. Sie beschäftigt sich insbesondere mit den Themen Erziehungskompetenz und Elternschulung. Von ihren zahlreichen Veröffentlichungen sind die Bücher "Kinder brauchen Wurzeln und Flügel" und "Fünf Säulen der Erziehung", beide im Matthias-Grünewald-Verlag erschienen, auch für den Erziehungsalltag gut zu verwenden.


*


Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Ausgabe 10/2007, Seite 14-17
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
Redaktion: Welt der Frau Verlags GmbH
4020 Linz, Lustenauerstraße 21, Österreich
Telefon: 0043-(0)732/77 00 01-11
Telefax: 0043-(0)732/77 00 01-24
info@welt-der-frau.at

Die "welt der frau" erscheint monatlich.
Jahresabonnement: 26,- Euro (inkl. Mwst.)
Auslandsabonnement: 38,- Euro
Kurzabo für NeueinsteigerInnen: 6 Ausgaben 7,80 Euro
Einzelpreis: 2,17 Euro


veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Januar 2008