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JUGEND/092: Wahrnehmung bei Babys - Schau mir in die Augen, Kleines (GEHIRN&GEIST)


GEHIRN&GEIST 5/2012
Das Magazin für Psychologie und Hirnforschung

Wahrnehmung | Gesichter erkennen
Schau mir in die Augen, Kleines

Babys reagieren schon kurz nach der Geburt besonders sensibel auf Gesichter. Anfangs können sie sogar Tierporträts gut auseinanderhalten. Schon bald jedoch verlieren sie diese Fähigkeit und spezialisieren sich auf menschliche Mienen.

Von Stefanie Höhl


AUF EINEN BLICK
Sieh an, sieh an
  1. Schon im Babyalter spezialisiert sich das neuronale System des Gesichtersehens. Kinder können anfangs sowohl einzelne Tiere als auch Menschen unterscheiden; später gelingt ihnen das nur noch bei Vertretern der eigenen Spezies.
  2. Der Grund: Während der frühkindlichen Entwicklung gehen Nervenverbindungen verloren, die selten beansprucht werden.
  3. Die erhöhte Sensibilität für Gesichter beeinflusst auch die Aufmerksamkeit und damit Lernprozesse bei Kindern.


Marie öffnet die Augen. Etwas mitgenommen von der Geburt blickt sie sich zum ersten Mal in der Welt um. Noch sieht sie sehr verschwommen und nur auf kurze Distanzen. Doch ihre Mutter hält sie intuitiv im richtigen Abstand, so dass die Kleine ihr Gesicht studieren kann.

Nichts scheint Marie in diesem Moment mehr zu fesseln als dieser Anblick. Schließlich gehört er zu der Stimme, die sie während der Zeit im Mutterleib kennen gelernt hat. Schon bald wird das kleine Mädchen in der Lage sein, das Gesicht ihrer Mutter von dem anderer Frauen zu unterscheiden.

Damit Marie bei diesem ersten Blickkontakt ihre Mutter tatsächlich erkennt, muss sie sie sprechen oder singen hören, wie die Entwicklungspsychologin Fatma Zohra Sai herausfand. Die Wissenschaftlerin aus den Vereinigten Arabischen Emiraten untersuchte Neugeborene, von denen einige in den ersten Stunden nach der Geburt zwar körperlichen Kontakt zur Mutter hatten, aber ihre Stimme nicht vernahmen, weil die Frauen - entsprechend dem vereinbarten Versuchsablauf - schwiegen. Erschien nun Mamas Gesicht im Blickfeld, war es für sie nicht interessanter als das einer fremden Frau. Babys, die ihrer Mutter von Anfang an auch lauschen durften, schauten sie dagegen deutlich länger an. Demnach müssen Neugeborene wohl erst das Gesicht mit der Stimme in Verbindung bringen, um ihre Mutter zu identifizieren.

Aber nicht nur die eigene Mutter ist für Babys spannend. Generell wenden sich Neugeborene eher gesichtsähnlichen Mustern zu als anderen, ähnlich komplexen visuellen Reizen. Dabei scheint schon ein einfaches Schema aus drei Punkten, die wie zwei Augen und ein Mund angeordnet sind, ihre Aufmerksamkeit zu wecken.

Mark Johnson vom Birkbeck College in London und seine Kollegen führten dazu bereits in den 1990er Jahren ein aufschlussreiches Experiment durch. Sie zeigten Babys, die weniger als eine Stunde auf der Welt waren, verschiedene Schilder mit aufgemalten Mustern. Mit der Videokamera zeichneten die Forscher auf, ob und wie intensiv die Kleinen versuchten, den Bewegungen der Schilder zu folgen. Das Ergebnis: Erinnerten die aufgemalten Muster an ein Gesicht, erregten sie die Aufmerksamkeit der Babys. Handelte es sich um irgendwelche Zeichnungen, die keine Ähnlichkeit mit menschlichen Porträts hatten, interessierten sich die Neugeborenen deutlich weniger dafür. Das könnte eine überlebenswichtige Strategie sein, denn von ihren Mitmenschen bekommen Babys die Zuwendung und Fürsorge, die sie be­ nötigen.


Ein Blick genügt

Da wir also schon als Kleinkinder auf Gesichter gepolt sind, erreichen wir im Erwachsenenalter große Könnerschaft darin, Gesichter schnell und akkurat zu erkennen und zu unterscheiden. Selbst wenn uns nicht immer gleich der passende Name zu einer Person einfällt, können wir doch sehr zuverlässig angeben, ob wir sie schon einmal gesehen haben oder nicht. Das Fundament dafür wird offenbar in den ersten Lebensmonaten gelegt, wie der französische Entwicklungspsychologe Olivier Pascalis vor zehn Jahren zeigte.

Pascalis untersuchte - damals noch mit seinem Team an der University of Sheffield in Großbritannien -, wie gut Babys und Erwachsene die Gesichter von Menschen und Affen unterscheiden können. Hierfür nutzten die Forscher einen raffinierten Test. Bekommt ein Mensch mehrmals hintereinander dieselbe Information präsentiert, lässt seine Aufmerksamkeit mit der Zeit nach, da er sich daran gewöhnt. Das funktioniert bei Neugeborenen ebenso wie bei Erwachsenen.

Hat ein Proband beispielsweise zehnmal hintereinander dasselbe Gesicht gesehen, wird sein Blick nicht mehr so lange und aufmerksam daran haften bleiben. Präsentiert man ihm nun das bekannte gemeinsam mit einem neuen Porträt, wird er das letztere deutlich länger und intensiver studieren - vorausgesetzt, er erkennt, dass es sich um ein anderes Antlitz handelt. So lässt sich testen, ob die Teilnehmer einen Unterschied zwischen den beiden Gesichtern bemerkt haben.


Klein übertrumpft Groß

Gestützt auf diese Methode, zeigten Pascalis und sein Team einer Gruppe von Erwachsenen sowie neun Monate alten Babys verschiedene Fotos von Javaneraffen- und Menschengesichtern. Wie erwartet waren beide Gruppen sehr gut darin, Menschen voneinander zu unterscheiden, scheiterten aber bei den Affen. Für große Überraschung sorgte indes eine dritte Gruppe mit sechs Monate alten Babys: Sie konnten Affenporträts offenbar genauso gut auseinanderhalten wie menschliche Antlitze.

Dieses Ergebnis deutet darauf hin, dass das neuronale System, mit dem wir Gesichter verarbeiten, zu Beginn unserer Entwicklung extrem flexibel ist und sogar über Artgrenzen hinweg funktioniert. Erst im Alter zwischen sechs und neun Monaten beginnen wir uns auf menschliche Gesichter zu spezialisieren. Das ergibt Sinn: Weil wir normalerweise unter Menschen aufwachsen, haben wir einen Vorteil davon, sie rasch zu identifizieren und vor allem jene zu erkennen, von denen wir Nahrung, Schutz und Zuneigung bekommen.

Mit Affen dagegen interagieren wir üblicherweise kaum, nutzen also auch nicht unser Talent, sie auseinanderzuhalten, weshalb diese Fähigkeit mit der Zeit verloren geht. Im Umkehrschluss heißt das, ein Kind, das unter Affen aufwüchse, hätte später Schwierigkeiten damit, Menschengesichter zu erkennen, könnte aber problemlos zwischen Affen unterscheiden.

Kommen wir mit bestimmten Reizen selten in Kontakt - etwa den Gesichtern von Menschen anderer Ethnien -, verkümmert unsere Fähigkeit, sie effektiv zu verarbeiten

Unter bestimmten Voraussetzungen lässt sich die Fähigkeit, Affen auseinanderzuhalten, aber bewahren - und zwar dann, wenn die Tiere eine Identität bekommen. Das ergaben Untersuchungen der US-Forscherin Lisa Scott im Jahr 2009. Die Entwicklungspsychologin von der University of Massachusetts bat Eltern, mit ihren sechs Monate alten Kindern zu Hause regelmäßig Bilderbücher mit Affengesichtern anzuschauen. Dabei sollten einige Eltern die Tiere immer nur »Affen« nennen, andere sogar überhaupt keine Bezeichnung für die Tiere verwenden. Eine dritte Elterngruppe dagegen wurde gebeten, den Affen individuelle Namen zu geben, etwa Carlos, Flora oder Louis.

Drei Monate später, also im Alter von neun Monaten, wurden die Babys auf ihre Fähigkeit getestet, zwischen Affenporträts zu unterscheiden. Gemäß den Ergebnissen von Olivier Pascalis war zu erwarten, dass sie die Tiere nun nicht mehr auseinanderhalten könnten. Bei den Kindern, die zu den Tiergesichtern immer nur die Bezeichnung »Affe« oder gar keine Benennung gehört hatten, war das auch der Fall. Jene aber, denen Affengesichter mit individuellen Namen gezeigt worden waren, konnten die Tiere auch jetzt noch unterscheiden. »Wir vermuten, dass die persönlichen Namen dazu geführt haben, dass sich die Babys auf die Unterschiede zwischen den Gesichtern konzentrierten«, erklärt Scott das Studienergebnis. »Die gemeinsame Bezeichnung Affe führte hingegen dazu, dass die Babys mehr die Gemeinsamkeiten der Bilder beachteten.«

Entscheidend ist demnach nicht, wie oft und wie lange ein Kind bestimmte Gesichter sieht. Vielmehr scheint die Erkenntnis eine Rolle zu spielen, dass es sich dabei um Individuen handelt. Diese Erfahrung machen Babys in der Regel nur mit Menschen, die ihnen meist mit Namen oder individuellen Bezeichnungen vorgestellt werden, etwa als »Oma«, »Tante Lisa» oder »Lukas«. Deshalb kommt es bei ihnen zu einer »perzeptuellen Einengung«: Sie spezialisieren sich auf Angehörige der eigenen Spezies.

Derselbe Mechanismus erklärt auch, warum es uns in der Regel leichter fällt, Gesichter unserer eigenen Ethnie zu unterscheiden. Die meis en Westeuropäer können andere Westeut ropäer problemlos auseinanderhalten, während ihnen das bei Asiaten oder Afrikanern schwerfällt. Auch diese Spezialisierung scheint sich in den ersten Lebensmonaten auszubilden. So beobachteten Forscher um David Kelly von der University of Sheffield, dass drei Monate alte englische Babys gut zwischen verschiedenen Gesichtern differenzieren konnten - und zwar sowohl bei Europäern als auch bei Afrikanern, Arabern und Chinesen. Bereits mit sechs Monaten war diese Flexibilität verschwunden: Jetzt gelang den Kleinen die Unterscheidung nur noch bei Europäern und Chinesen. Und im Alter von neun Monaten waren sie schließlich ganz auf ihre eigene Ethnie spezialisiert.


Was Hänschen nicht lernt

Was zunächst wie ein Verlust erscheinen mag, bringt vermutlich einen Effizienzgewinn mit sich. Im Säuglingsalter baut das Gehirn synaptische Verbindungen im Übermaß auf, doch viele davon gehen im Verlauf der ersten Lebensjahre wieder verloren. Nach dem Prinzip »use it or lose it« (auf Deutsch: Nutze es, oder du wirst es einbüßen), bleiben nur Nervenverbindungen bestehen, die dauerhaft beansprucht werden. Kommen wir mit bestimmten Reizen selten in Kontakt - etwa den Gesichtern von Menschen anderer Ethnien -, verkümmert unsere Fähigkeit, sie effektiv zu verarbeiten.

Doch ist es tatsächlich von Vorteil, sich derart zu spezialisieren? »Evolutionsgeschichtlich war es für uns Menschen sehr wichtig, andere Individuen zuverlässig zu erkennen und insbesondere die Mitglieder der kleinen Gruppe, in die wir hineingeboren wurden, schnell zu identifizieren«, sagt Olivier Pascalis, der heute an der Université Pierre Mendès-France in Grenoble forscht. Eine weniger spezialisierte Gesichtserkennung hätte ihm zufolge dazu geführt, wesentliche Informationen zu verpassen. Zu groß wäre demnach die Gefahr der Ablenkung, hätten unsere Vorfahren ihre Aufmerksamkeit im gleichen Maß auf Affen oder Personen aus fremden Gruppen gerichtet.

Vergleichbares kennt man aus der Verarbeitung akustischer Reize: Während Babys in den ersten Monaten noch in der Lage sind, zwischen Lauten aus unterschiedlichsten Sprachen zu differenzieren, geht diese Fähigkeit zwischen dem neunten und zwölften Lebensmonat verloren. Und gegen Ende des ersten Lebensjahrs können sie nur noch Laute ihrer eigenen Muttersprache gut unterscheiden. Nur wenn eine Person die Kinder regelmäßig in einer Fremdsprache anspricht, behalten sie ihr feines Gespür dafür. Ähnlich wie bei Gesichtern kommt es also auch hier zu einer Spezialisierung zu Gunsten der Effizienz.

»Die Frage, warum das Gehirn von Säuglingen so formbar ist, das Gehirn von Erwachsenen aber so unflexibel, ist eine der spannendsten aktuellen Fragen der Hirnforschung«, sagt die Psychologin Patricia Kuhl, die an der University of Washington forscht. Was passiert eigentlich, wenn die sensiblen Phasen in der frühen Kindheit vorüber sind? Lässt sich die Spezialisierung später wieder aufheben? Können Menschen nachholen, was sie in dieser Zeit möglicherweise verpasst haben? Gerade in Sachen Gesichtserkennung führen Wissenschaftler derzeit eine lebhafte Debatte.

Die Hirnforscherin Nancy Kanwisher vom Massachusetts Institute of Technology in Cambridge ist überzeugt davon, dass menschliche Porträts für uns ganz besondere Reize darstellen - und zwar vom Säuglingsalter an. Dafür spricht, dass ein bestimmter Bereich im unteren Schläfenlappen des Gehirns auf die Verarbeitung von Gesichtern spezialisiert ist: das fusiforme Gesichtsareal. Eine Verletzung dieser Region führt zu einer besonderen neurologischen Störung, der Prosopagnosie, auch bekannt als Gesichtsblindheit. Die Betroffenen sind nicht mehr in der Lage, individuelle Antlitze voneinander zu unterscheiden. Sie müssen sich im Alltag auf andere Merkmale konzentrieren, um eine Person zu erkennen, etwa deren Stimme oder Körperhaltung. Objekte zu unterscheiden, bereitet ihnen jedoch keine Mühe.


Ganzheitliche Wahrnehmung

Allerdings zeigten Untersuchungen der Psychologin Isabel Gauthier von der Vanderbilt University in Nashville, dass das fusiforme Gesichtsareal unter Umständen auch beim Betrachten von Vögeln oder Autos aktiv wird - zumindest im Gehirn von Vogel- beziehungsweise Autoexperten. Das könnte bedeuten, dass es sich bei dieser Hirnregion in Wirklichkeit um ein »Expertiseareal« handelt. Erscheinen Gesichter vielleicht nur deshalb so grundverschieden von anderen Sehreizen, weil normalerweise jeder Mensch im Lauf seines Lebens zum Experten für Gesichter wird?

Das letzte Wort in dieser Debatte ist noch nicht gesprochen. Doch zeichnet sich bereits ab, dass selbst bei Vogel- und Autoexperten das fusiforme Gesichtsareal deutlich stärker aktiv ist, wenn sie Gesichter betrachten, als wenn sie Vögel oder Fahrzeuge anschauen. Und: Während ein Mensch eine zoologische oder technische Expertise bis ins hohe Alter hinein erwerben kann, scheint sich bei der Gesichtswahrnehmung bereits in den ersten Lebensmonaten ein entscheidendes Fenster zu schließen.

Eine aufschlussreiche Studie dazu führten Richard le Grand und seine Kollegen von der McMaster University in Ontario vor acht Jahren durch. Sie untersuchten junge Erwachsene, die auf Grund einer Augenerkrankung in den ersten Lebensmonaten blind gewesen waren. Im Alter von drei bis sechs Monaten waren sie dann operiert worden und hatten seither eine annähernd normale Sehfähigkeit besessen.

Dennoch schien ihre Gesichtswahrnehmung verändert zu sein. Normalerweise nehmen wir Gesichter als Ganzes wahr. Bekommen wir mehrere zusammengesetzte Porträts präsentiert, bei denen die obere Gesichtshälfte immer gleich, die untere jedoch verschieden ist, erkennen wir nur mit Mühe, dass die Stirn- und Augenpartie stets von derselben Person stammt. Sehen wir dagegen die einzelnen Gesichtshälften separat, fällt uns diese Zuordnung nicht schwer.

In der Studie von le Grand zeigte sich, dass es für Menschen, die in ihren ersten Lebensmonaten blind gewesen waren, keine Rolle spielte, ob sie zusammengesetzte Porträts anschauten oder die Gesichtshälften einzeln betrachteten. Sie erkannten immer, ob die jeweiligen Gesichtshälften identisch waren und zur selben Person gehörten oder nicht. Offensichtlich nahmen sie die Porträts nicht als Ganzes wahr. Möglicherweise hatten die Betreffenden also in frühester Kindheit ein wichtiges Zeitfenster verpasst, um eine normale ganzheitliche Gesichtswahrnehmung zu erlernen.

In unserer Arbeitsgruppe im Psychologischen Institut der Universität Heidelberg untersuchen wir unter anderem, wie Säuglinge den Gesichtsausdruck anderer Menschen deuten können, um mehr über ihre Umgebung zu erfahren. Aus dem Antlitz einer Person lässt sich ja nicht nur ihre Identität ablesen, sondern auch ihr emotionaler Zustand und worauf sie ihre Aufmerksamkeit richtet. Gesichtsausdruck und Blickrichtung spielen hierfür eine entscheidende Rolle.

In einer aktuellen Studie, die wir Anfang 2012 veröffentlicht haben, untersuchten wir, wie Säuglinge auf die Blickrichtung verschiedener Personen reagieren. Dazu zeigten wir vier Monate alten Babys verschiedene Fotos, auf denen entweder die Mutter oder der Vater zu sehen waren oder eine fremde Person desselben Geschlechts. Die Bilder zeigten außerdem einen Gegenstand, zum Beispiel ein Spielzeug. Auf manchen Fotos blickten die Personen zu dem Gegenstand hin, auf anderen schauten sie in eine andere Richtung. Anschließend präsentierten wir den Kleinen noch Bilder, auf denen nur das Spielzeug dargestellt war, und erfassten ihre Hirnreaktion mit Hilfe der Elektroenzephalographie (EEG).

Das Ergebnis: Die Babys waren vertrauter mit dem Anblick des Spielzeugs, wenn Mutter oder Vater sie zuvor mit ihrem Blick darauf gelenkt hatten. Das zeigte sich in charakteristischen Mustern der Hirnströme, die das EEG wiedergab. Sie erlaubten zu unterscheiden, ob die Kleinen das zuletzt präsentierte Foto des Gegenstands erst neu verarbeiten mussten oder dabei auf bereits abgespeicherte Informationen zurückgreifen konnten.


Am Vorbild der Eltern orientiert

Demnach scheinen Säuglinge der Blickrichtung von vertrauten Gesichtern zu folgen, wenn sie ihre Umgebung erkunden. Was Mama spannend findet, dafür interessiert sich auch das Baby. Ob hier allerdings tatsächlich die enge persönliche Bindung wichtig ist oder die Kinder vielleicht nur mehr Routine darin haben, dem Blick der vertrauten Person zu folgen, müssen weitere Studien zeigen.

Sicher ist, dass Gesichter für Babys nicht nur für sich genommen wichtig sind, sondern auch einen Einfluss darauf haben, wie sie ihre Umwelt wahrnehmen und kennen lernen. Etwas ältere Kinder scheinen übrigens mehr der Blickrichtung von Fremden zu folgen als der ihrer eigenen Mutter. Dies passt zu der Beobachtung aus zahlreichen Studien, wonach sich Säuglinge in sehr frühem Alter hauptsächlich für ihre engen Bezugspersonen interessieren, während sie sich später eher an unbekannten Menschen orientieren, die ihnen potenziell mehr Neues bieten. Die kleine Marie, die gerade auf die Welt gekommen ist, fixiert deshalb noch gebannt das Gesicht ihrer Mutter. Einige Monate später jedoch werden fremde Menschen für sie immer interessanter werden und ihr wichtige Gelegenheiten zum sozialen Austausch und zum Lernen bieten.


Stefanie Höhl erforscht am Lehrstuhl für Entwicklungspsychologie und Biologische Psychologie der Universität Heidelberg, wie Babys andere Menschen wahrnehmen und von ihnen lernen. Als Mutter eines kleinen Sohns interessiert sie sich auch privat dafür, ob enge Bezugspersonen besonderen Einfluss darauf haben, wie Babys ihre Umwelt erleben.


QUELLEN

Hoehl, S. et al.: Effects of Eye Gaze Cues provided by the Caregiver Compared to a Stranger on Infants' Object Processing. In: Developmental Cognitive Neuroscience 2, S. 81-89, 2012

Pascalis, O. et al.: Is Face Processing Species-Specific du ring the First Year of Life? In: Science 296, S. 1321-1323, 2002

Scott, L. Monesson, A.: The Origin of Biases in Face Perception. In: Psychological Science 20, S. 676-680, 2009


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

© 2012 Stefanie Höhl, Spektrum der Wissenschaft Verlagsgesellschaft mbH, Heidelberg

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Quelle:
GEHIRN&GEIST 5/2012, Seite 52 - 57
Herausgeber: Dr. habil. Reinhard Breuer
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veröffentlicht im Schattenblick zum 22. Juni 2012