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FRAGEN/017: "Die Trennung kann für Kinder eine Erlösung sein" (DJI)


DJI Bulletin 1/2010, Heft 89
Deutsches Jugendinstitut e.V.

»Die Trennung kann für Kinder eine Erlösung sein«


Eine Trennung oder Scheidung der Eltern hinterlässt nur selten bleibende seelische Schäden bei Kindern. Dennoch sind sie Leidtragende des Konflikts. Die Münchner Psychologin Sabine Walper über Schuldgefühle, falsche Ideale und die Frage, wie Kinder gestärkt aus der Krise gehen können.


DJI: Frau Professor Walper, bis heute hält sich die Vorstellung, dass Scheidungskinder bedauernswerte, traumatisierte und zerrissene Wesen sind. Trifft das die Realität?

WALPER: Die Trennung oder Scheidung der Eltern belastet die meisten Kinder zunächst natürlich sehr. Oft werden Verhaltensauffälligkeiten oder schlechte Schulleistungen beobachtet. Allerdings zeigen neuere Forschungsbefunde, dass sich viele der psychisch belasteten Kinder nach zwei bis drei Jahren wieder erholen. Wie die Eltern brauchen sie offensichtlich eine gewisse Zeit, um sich in der neuen Lebenssituation wieder zurechtzufinden.

DJI: Was bricht in Kindern zusammen, wenn die Eltern sich trennen?

WALPER: Die emotionale Geborgenheit in der Familie geht verloren. Für Kinder ist es schlimm zu sehen, wenn die Eltern streiten, rumbrüllen oder sogar körperlich aufeinander losgehen. Die Belastungen beginnen aber vielfach nicht erst mit der Trennung, sondern bereits Jahre vorher. Nicht die Trennung, der Streit macht Kinder krank. Viele Studien haben gezeigt, dass Kinder aus konfliktreichen Familien die gleichen Belastungen aufweisen wie Trennungskinder, deren Eltern zerstritten sind. Nach unseren Befunden sind chronische Konflikte sogar weitaus schlimmer.

DJI: Wie wirken sich solche Kämpfe auf die kindliche Entwicklung aus?

WALPER: Kinder fühlen sich in aller Regel beiden Eltern verbunden und geraten dadurch häufig in einen Loyalitätskonflikt. Nach dem Motto: Wenn ich Mutter liebe, bin ich illoyal zu Vater und umgekehrt. Wenn die Eltern viel miteinander streiten, ist das für Kinder immens anstrengend und belastend. Sie reagieren depressiv, manchmal auch aggressiv. Oft leidet das Selbstwertgefühl. Dies kann auch einen negativen Einfluss auf andere soziale Beziehungen haben - beispielsweise zu Gleichaltrigen. Kinder aus hochstrittigen Scheidungsfamilien verlieren häufig nicht nur den Rückhalt ihrer Eltern, sondern fühlen sich auch von Gleichaltrigen ausgeschlossen.

DJI: Gibt es ein bestimmtes Alter, in dem Kinder eine Scheidung oder Trennung besonders schwer verkraften?

WALPER: Jüngere Kinder werden in der Regel schlechter damit fertig als ältere. Bei Vorschulkindern beispielsweise ist das Risiko noch sehr groß, dass sie das Auseinandergehen der Eltern fehldeuten und auf sich selbst beziehen. Bei einem 13-jährigen Jugendlichen ist die Gefahr dagegen geringer, dass er Schuldgefühle entwickelt.

DJI: Das klingt, als müssten die Eltern möglichst lange ein glückliches Paar spielen, und alles wäre halb so schlimm.

WALPER: Nein, denn Kinder haben sehr feine Antennen. Sie spüren es, wenn etwas unter der Oberfläche schwelt. Natürlich ist es für Kinder immer am besten, wenn die Eltern gut miteinander auskommen. Aber es sollte auch nicht um jeden Preis Harmonie herrschen. In jeder normalen Familie gibt es Konflikte und Streit. Kinder müssen lernen, damit umzugehen, das ist wichtig für ihre Entwicklung und die eigene Konfliktfähigkeit. Hinzu kommt, dass sich Kinder, die ohne jegliche Vorwarnung mit der Scheidung ihrer Eltern konfrontiert werden, am schlechtesten damit arrangieren können. Diese Kinder leiden oft bis ins Erwachsenenalter unter negativen Folgen. Diejenigen, die gesehen haben, dass die Eltern einen Grund haben, können der Scheidung auch etwas Positives abgewinnen.

DJI: Bis zu welchem Grad ist Streit in der Familie gesund, und wann sollten die Eltern eine Trennung in Erwägung ziehen?

WALPER: Es ist sehr schwer, diesen schmalen Grat zu finden. Der Forschung ist das bisher nicht gelungen, weil es von vielen individuellen Faktoren abhängt. Nur so viel lässt sich sagen: Wenn der Streit zivil abläuft und der Konflikt in der Auseinandersetzung gelöst wird, können alle Beteiligten davon profitieren. Wenn aber der Konflikt zwischen den Eltern lange anhält, die Kinder belastende Symptome zeigen, wenn die Probleme chronisch und Lösungsversuche wiederholt gescheitert sind, ist das für Kinder kein gutes Lernfeld. Oft leidet ja auch das Erziehungsverhalten der Eltern. Bei Eltern, die heftig und sehr oft streiten, kann die Trennung eine Erlösung für Kinder sein.

DJI: Heißt das, Kinder können von einer Trennung auch profitieren?

WALPER: Durchaus. Zwar lassen sich nicht alle Frustrationen und Enttäuschungen im Nachhinein wettmachen. Aber sofern es den Eltern nach der Trennung oder Scheidung gelingt, ihre Konflikte beizulegen, können die Kinder langfristig profitieren. Sie werden nicht selten zu ungewöhnlich verantwortungsbewussten, belastbaren und zielstrebigen jungen Erwachsenen. Und natürlich ist die Trennung ein Gewinn für jene Kinder, für die damit die Gewalt in der Familie ein Ende hat.

DJI: Wie kann den Kindern über die erste harte Phase hinweggeholfen werden?

WALPER: Wie gut ein Kind eine Scheidung verkraftet, hängt vor allem davon ab, ob Eltern trotz der eigenen Belastung den Bedürfnissen ihrer Kinder Rechnung tragen und ein gutes Erziehungsklima herstellen können. Aber auch finanzielle Ressourcen spielen eine Rolle. Amerikanische Studien zeigen, dass die Hälfte der Probleme, die Kinder nach einer Scheidung haben, eigentlich nichts mit der Scheidung selbst zu tun haben, sondern eine Reaktion auf die finanziellen Schwierigkeiten der alleinerziehenden Mutter sind.

DJI: Inwiefern können auch Lehrer, Erzieherinnen oder Sozialarbeiter positiven Einfluss auf Kinder nehmen?

WALPER: Ganz ähnlich wie das Erziehungsklima in der Familie hat auch das Schulklima einen deutlichen Einfluss auf Scheidungskinder. Entscheidend ist ein liebevoller konsequenter Erziehungsstil, sehr einfühlsam, aber auf der anderen Seite auch mit ganz klaren Regeln und Grenzen. In der Tat müssen die Erwartungsstandards in der Schule oder im Kindergarten für eine überschaubare Periode heruntergefahren werden, weil die Kinder zunächst sehr unter Druck stehen und sich mit sich selbst auseinandersetzen müssen. Aber Scheidungskinder dürfen kein Stigma erhalten, denn dann würden sie möglicherweise ihre Erwartungen an sich selbst auf Dauer herunterschrauben. Es ist also wichtig, den Kindern zu vermitteln, dass sie zwar eine schwere Zeit durchmachen, aber Licht am Ende des Tunnels ist.

DJI: Vielen Eltern gelingt es trotz guter Vorsätze nicht, sich im Guten zu trennen und zu kooperieren. Wie können Berater entgegensteuern?

WALPER: Es geht darum, die Ressourcen der Eltern zu stärken, die Erziehungskompetenz, die Konfliktfähigkeit, das Selbstvertrauen. Der Elternkurs »Kinder im Blick«, den wir an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität gemeinsam mit dem Familien-Notruf entwickelt haben, setzt genau an dieser Stelle an. Die teilnehmenden Eltern profitieren auf vielfache Weise: Sie lernen, ihren Stress zu bewältigen und besser miteinander zu kommunizieren, nehmen in Rollenspielen auch mal die Sicht der Kinder ein und erleben durch den Kontakt zu anderen Eltern oft zum ersten Mal, dass sie nicht allein sind mit ihren Problemen.

DJI: Stellen Eltern zu hohe Erwartungen an sich selbst?

WALPER: In der Tat überfordern sie sich häufig. Dabei ist es nicht so wichtig, dass die Eltern bei der Sorge um das Kind eng kooperieren. Wichtiger ist, dass sie den Konflikt beenden. Das kann auch bedeuten, dass die Mutter und der Vater die elterliche Verantwortung nur noch getrennt wahrnehmen, um sich nicht dauernd über gemeinsame Regeln zu streiten. Diese sogenannte parallele Elternschaft ist für das Kind übrigens genauso gut wie die kooperative Elternbeziehung, bei der sich die Eltern eng abstimmen.

DJI: Viele Väter fühlen sich heute verpflichtet, die enge Beziehung zum Kind aufrechtzuerhalten, um ihr Sorgerecht aktiv auszuüben.

WALPER: Getrennt lebende Väter können für ihre Kinder eine wichtige Ressource sein. Dabei spielt aber die Häufigkeit der Kontakte eine sehr nachrangige Rolle. Vor ein paar Jahren ging man noch davon aus, dass das Kindeswohl leidet, wenn der Kontakt zum Vater stark abnimmt oder gar abbricht. Mittlerweile zeigen aber viele Studien, dass die zuverlässige Zahlung des Unterhalts und die Qualität des väterlichen Erziehungsverhaltens deutlich ausschlaggebender sind. Entscheidend ist, dass den Kindern Sicherheit, Zuwendung und Orientierung vermittelt wird, damit sie die Unsicherheiten nicht in die spätere eigene Partnerschaft hineintragen.

DJI: Scheidungskinder trennen sich später eineinhalbmal so häufig von ihrem Partner wie Kinder aus intakten Ehen.

WALPER: Das stimmt. Dafür gibt es viele Gründe: fehlende Vorbilder für konstruktive Konfliktlösung, mitunter auch eine weniger gelungene Partnerwahl und häufig ein mangelndes Vertrauen in die Tragfähigkeit einer Partnerschaft. Viele Kinder erwartet nach dem ersten Bruch der Eltern keineswegs ein stabiles Familienleben. Oft treten mehrmals neue Partner in ihr Leben. Diese Instabilitäten in der Familie machen den Kindern auf Dauer zu schaffen. Sie erschüttern den Glauben an die Haltbarkeit einer Partnerschaft - und der gehört nun mal dazu, wenn man sich selbst bindet.

Interview: Birgit Taffertshofer


Prof. Dr. Sabine Walper ist Diplom-Psychologin und hat an der Ludwig-Maximilians-Universität die Professur für Allgemeine Pädagogik und Bildungsforschung mit dem Schwerpunkt Jugendforschung inne. Sie forscht zu Scheidungsfolgen, zu den Auswirkungen von Armut auf betroffene Eltern und Kinder, zu Eltern-Kind-Beziehungen und zu Partnerschaften im Jugend- und Erwachsenenalter. Sie ist Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Beiräte, darunter auch des wissenschaftlichen Beirats für Familienfragen am Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ).
Kontakt: walper@edu.uni-muenchen.de


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Quelle:
DJI-Bulletin Heft 1/2010, Heft 89, S. 10-11
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veröffentlicht im Schattenblick zum 20. Mai 2010