Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PSYCHOLOGIE

FRAGEN/014: Dominique Lestel - Stratgien des Lebens (research*eu)


research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008
Magazin des Europäischen Forschungsraums

Strategien des Lebens

Interview von Christine Rugemer mit Dominique Lestel


"Die Animalität lässt dem Menschlichen keine Ruhe, und den Menschen losgelöst vom Tier zu definieren, macht keinen Sinn", schreibt Dominique Lestel. Dieser "praktische" Philosoph, der Primaten auch in ihrer natürlichen Umgebung beobachtet und seine Doktoranden vor Ort schickt, ist Professor an der ENS (Ecole normale supérieure) in Paris und Leiter der Arbeitsgruppe für Ökoethologie und kognitive Ethologie am staatlichen Naturhistorischen Museum Frankreichs (Muséum national d'histoire naturelle). Ein Gespräch.


Der Titel Ihres Buches lautet "Les origines animales de la culture" - auf Deutsch in etwa "Die tierischen Ursprünge der Kultur" - und nicht "Die Kultur der Tiere" oder "Die Kulturen der Tiere". Bricht man nicht mit allem, wenn man der Animalität ein Vorrecht zuspricht, das in den Augen Vieler der menschlichen Spezies vorbehalten ist?

Ein Buch über die Kultur der Tiere zu schreiben, hieße, vom Menschen auszugehen, um die Tiere kennenzulernen. Von den tierischen Ursprüngen der Kultur zu sprechen, bedeutet dagegen, dass Kultur tatsächlich vom Tier herkommt und keine menschliche Besonderheit ist. Es handelt sich um eine Strategie des Lebens, um sich weiterentwickeln zu können. Mit diesem Paradoxon kommt auch unsere eigene Identität ins Spiel, vor allem im Hinblick auf die Bezüge, die man zum Tier herstellen kann, und im Hinblick auf die Art und Weise, wie man über dieses denkt.

Seit der Antike existieren zwei Konzepte. Eines geht davon aus, dass der Mensch sich vom Wesen her vom Tier unterscheidet, das andere, das später von Darwin wissenschaftlich gefestigt wurde, besagt, dass der Mensch vom Tier abstammt und dass das, was ihn vom Tier unterscheidet, nur eine Frage der Entwicklungsstufe ist. Je mehr sich das Wissen der Paläontologen und der Genetiker erweitert, umso klarer wird die Kontinuität von Mensch und Tier. Mit der Entwicklung der kognitiven Wissenschaften wird der Mensch nicht mehr als ein Wesen mit einer unterschiedlichen Natur angesehen, sondern als ein Wesen, das mit einem komplexeren Organismus ausgestattet ist, der ihm zum Beispiel die Fähigkeit zur Kommunikation mithilfe von Symbolen oder die Neigung, Spuren von sich selbst zu hinterlassen, verleiht.

Im Jungpaläolithikum hat sich der Homo sapiens in eine völlig neue Richtung orientiert, deren besonderes Kennzeichen die Erfindung einer besonderen Kultur ist. Stellt dieses Verhalten einen Bruch mit der Natur und dem tierischen Wesen dar? Kulturelles Verhalten scheint ein den Lebewesen eigenes Phänomen zu sein, das der Homo sapiens sehr viel weiter entwickelt hat als andere Spezies. Es verweist aber auch auf die Freiheit, die manche Tiere allmählich im Hinblick auf ihren Körperbau und die Zwänge ihrer Umwelt erlangen. Obwohl sie einen besonderen Status haben, dürfen die menschlichen Kulturen aus einer evolutionshistorischen Perspektive heraus keine Ausnahme bilden. Der Mensch ist nicht dem Zustand der Natur entkommen, sondern hat in dieser eine extreme Nische erkundet. Kulturelles Verhalten von Tieren und Menschen wird durch unbestreitbare Unterschiede getrennt, jedoch sind diese mit den Unterschieden vergleichbar, die eine Gesellschaft von Ameisen von einer Gesellschaft von Schimpansen trennt.

Die Veröffentlichungen, Debatten oder auch Ausstellungen zum Thema Tier sind unzählig. Woher kommt diese Begeisterung?

Dies ist ein Thema, das unsere eigene Identität betrifft. Diese definiert sich vor allem durch die Charakterisierung des Tieres, das eine Andersartigkeit darstellt, zu der der Mensch manchmal recht intensive, manchmal komplexe Bezüge herstellt. Um sich selbst zu definieren, benötigt der Mensch andere Bezugspunkte, vor allem Tiere, mit denen er immer koexistiert hat. Diejenigen, die mit Wellensittichen oder Raben zusammen leben, können bestätigen, dass dies eine andauernde, sehr ausgeklügelte Verhandlung nach sich zieht. Der Anthropologe Marcel Mauss schrieb bereits, dass der Mensch den Hund domestiziert hat, jedoch die Katze den Menschen.

Das Tier ist nicht die Maschine, auf die Descartes es reduziert hat - dem Menschen die Seele und das Denken, dem Tier nur eine physische Funktion, die der eines Automaten gleicht. Die Idee, das Tier sei eine Maschine, macht überhaupt keinen Sinn. Das Tier generiert Gefühle und es hält uns unsere Gemeinsamkeiten vor Augen, die Dimension des Menschlichen, die in ihm verborgen liegt. Besonders deutlich wird das bei Intellektuellen des Abendlandes, die ihre Körper oder ihre Begierden unterdrücken und ihren Geist und ihre Vernunft verherrlichen.

Das Familientier - was den Begriff des Haustiers übertrifft - hilft dem Menschen dabei, seinen eigenen Platz in der Gemeinschaft der Lebewesen zu finden. An dieser Stelle ist auch zu bemerken, dass, wenn verschiedene Spezies zusammenleben - Hund und Schafe, Hund und Katze - dies über den Mittler Mensch geschieht.

Sie haben sich auch für "einzigartige Tiere", wie Sie sie genannt haben, interessiert.

Wir haben uns darauf beschränkt, Animalität im kollektiven Sinn zu betrachten - die Zebras, die Elstern, die Bonobos. Aber manche Tiere können nicht auf die ihrer Spezies gemeinsamen Fähigkeiten reduziert werden. Das ist zum Beispiel der Fall bei Wattana, die aus dem Tiergehege des Jardin des Plantes in Paris in die Niederlande gebracht wurde, wo sie jetzt lebt. Dieses Orang-Utan-Weibchen kann äußerst komplizierte Knoten knüpfen und öffnen. Sie macht das gerne. Niemand hat ihr das jemals richtig gezeigt und kein anderer Orang-Utan verhält sich so. Manche Tiere besitzen Fähigkeiten - eher "Gaben" (1) -, die ihre Artgenossen nicht haben. Folglich gibt es Räume für kognitive Innovation innerhalb ein und derselben Spezies. Es ist eine interessante Frage, ob diese Tiere von dieser Fähigkeit, Verhaltensweisen, Strategien oder auch Beziehungen zu ihrer Umwelt zu haben, die sich von denen ihrer Artgenossen unterscheiden, profitieren können. Man könnte sich vorstellen, dass diese eine wichtige Rolle für die Dynamik der Gruppe und der Spezies spielt.

Wattana befindet sich ihrerseits in einem Zoo. Das Männchen, mit dem sie sich das Gehege teilte, interessierte sich einen Augenblick lang für die Knoten. Es konnte sie aber selbst nicht machen, wurde wütend und fing an sie zu schlagen. Tiere reagieren oder reagieren nicht, Unmögliches versuchen sie nicht mal.

Niemand hat Wattana gezeigt, Knoten zu knüpfen. Aber es gibt Forscher, die Affen das "Sprechen" beigebracht haben. Welche Schlussfolgerungen kann man daraus ziehen?

Seit den 1960er Jahren bemühen sich Experimentalpsychologen darum, Menschenaffen eine Symbolsprache beizubringen - man weiß, dass diese aus anatomischen Gründen keinen Zugang zur Sprache haben. Dazu wurde entweder die Gehörlosensprache verwendet oder eine Symbolsprache, die für den Zweck der Forschung entwickelt worden war. Washoe zum Beispiel, ein junges Schimpansenweibchen, kannte über 130 Zeichen, die ihr die amerikanischen Wissenschaftler Allen und Beatrix Gardner beigebracht hatten.

Man kann sich jedoch die Frage stellen, was fängt der Primat tatsächlich mit dieser Sprache an. Nun, er benutzt sie vor allem als Werkzeug, um das Verhalten seiner Artgenossen oder der Menschen zu beeinflussen. Dabei gibt es auch einige irreführende Besonderheiten. Der Schimpanse drückt sich zum Beispiel immer in der Gegenwart aus.

Sie sagen, dass diese Schimpansen mithilfe der Sprache, deren Grundlagen sie erlernt haben, keine Geschichten erzählen...

Selbst Schimpansen - und sie sind nicht die Einzigen - können keine "Geschichten" in der dritten Person erzählen, bei denen Subjekt und Erzähler nicht zusammenfallen. Ein Primat, der so tut, als ob er ein anderer als er selbst wäre, um einen Dritten zu überlisten, passt in eine Erzählstruktur, aber der Held der Geschichte ist immer der Erzähler. Tiere, die nicht zur Gattung Mensch gehören, können keine Geschichten erzählen, in denen Unmögliches oder Erfundenes vorkommt. Ich glaube, dass diese besonderen Geschichten des Menschen eine grundlegende Rolle in der einzigartigen Struktur seiner Gesellschaft gespielt haben. Der große Unterschied zwischen den sozialen Gefügen von Menschen und von Tieren ist sicherlich nicht die Kultur, wie häufig gesagt wird, sondern die vergleichbare Diversität der menschlichen Kulturen im Vergleich zu anderen tierischen Kulturen.

Führen diese neuen Fragen eventuell dazu, die vergleichende Verhaltensforschung neu zu überdenken?

Die Frage der tierischen Kulturen und der Zusammenhänge zwischen Mensch und Tier zwingt uns in der Tat dazu, den Sinn, den die vergleichende Verhaltensforschung erhält, zu überdenken. Ist es möglich, dass man, wenn man Schimpansen studiert, die Beziehung, die sich zwischen ihrer und der menschlichen Kultur bildet, einfach außer Acht lässt? Sollte man die vergleichende Verhaltensforschung nicht überdenken, indem man sie auch auf die Welt der Pflanzen und Artefakte erweitert? Warum sollte man sie nicht der tierischen Kultur öffnen? Alle Fragen sind offen. Aber im Allgemeinen ist das Paradigma, das heute in der vergleichenden Verhaltensforschung meistens Anwendung findet und das sowohl realistisch (wegen der Unabhängigkeit des Beobachters) als auch kartesianisch ist, nicht zufriedenstellend. Es gibt wenigstens eine - konstruktivistische - Alternative, der zufolge das Tier ein Subjekt ist, das Gefühle interpretiert, das seine Umwelt genauso aufbaut, wie es sich an diese anpasst.

Interview geführt von Christine Rugemer


Anmerkungen:

(1) Die Gabe ist eine Kompetenz, auch eine kulturelle, während die Fähigkeit aus dem kognitiven Bereich stammt.

(2) Werke von Dominique Lestel: Les origines animales de la culture, Flammarion, 2001 - L'animal singulier, Seuil, 2004 - Les Amis de mes Amis, Seuil, 2007.


*


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Dominique Lestel: "Der Mensch ist nicht dem Zustand der Natur entkommen, sondern hat in dieser eine extreme Nische erkundet".

Wattana kann komplexe Knoten knüpfen und öffnen. Sie scheint das sehr gern zu machen. Niemand hat ihr das jemals richtig beigebracht. Sie hat zweifellos die Handgriffe ihrer Pfleger imitiert. Florence Gaillard und Chris Herzfeld haben 2008 zwei Filme über dieses Phänomen gedreht: Funktionslust. Les noeuds de Wattana, orang-outan, Paris und Knotting Apes. The Case of Wattana, the orangutan, Paris.


*


Quelle:
research*eu Sonderausgabe - Oktober 2008, Seite 8 - 9
Magazin des Europäischen Forschungsraums
Copyright: Europäische Gemeinschaften, 2008
Herausgeber: Referat Information und Kommunikation der
GD Forschung der Europäischen Kommission
Chefredakteur: Michel Claessens
Redaktion: ML DG 1201, Boîte postale 2201, L-1022 Luxembourg
Telefon: 0032-2/295 9971, Fax: 0032-2/295 8220
E-Mail: research-eu@ec.europa.eu
Internet: http://ec.europa.eu./research/research-eu

research*eu erscheint zehn Mal im Jahr und wird auch
auf Englisch, Französisch und Spanisch herausgegeben.


veröffentlicht im Schattenblick zum 15. April 2009