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FORSCHUNG/166: Lernfähigkeit wächst in Gesellschaft und "reizvoller" Umgebung (RUBIN)


RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2011
Ruhr-Universität Bochum

Lernfähigkeit wächst in Gesellschaft und "reizvoller" Umgebung
Geselligkeit hält geistig fit

von Meike Drießen


Laufen, Röhren erkunden, spielen, Nester bauen: Wenn Mäuse die Gelegenheit haben, sich so auszutoben, wirkt sich das nachweislich positiv auf ihre Lernfähigkeit aus. Aber: Der Effekt ist an Gehirnzellen nur dann messbar, wenn die Tiere nicht allein, sondern in Gesellschaft in dieser "reizvollen" Umgebung sind. Dann lässt sich die Lernfähigkeit auch noch im Alter verbessern. Das gilt auch für Menschen.


Der Volksmund weiß: Wer rastet, der rostet. Und das betrifft nicht nur den Körper, sondern auch den Kopf. Eine Studie an der Ruhr-Universität mit älteren Menschen, die zuvor körperlich inaktiv waren, hat ergeben, dass ein sechsmonatiges Tanztraining fast alle Fähigkeiten verbessert: Das Gleichgewicht, die Kraft, den Tastsinn, die Koordination, das Gedächtnis (RUBIN Winter 09/10). Was allerdings genau zu diesen Verbesserungen führt und welche Voraussetzungen gegeben sein müssen, ist noch ungeklärt. Hier setzt Arne Buschler an (Abb. 1).

Ihn interessiert vor allem die Lernfähigkeit; Neurowissenschaftler sprechen von der Plastizität des Gehirns, also der Fähigkeit zur ständigen Anpassung der Nervenzellen an neue Gegebenheiten. "Die Gehirnregion, auf die es uns besonders ankommt, ist der Hippocampus", erklärt der Doktorand. "Er ist die Schaltstelle für das episodische Gedächtnis, das heißt für die Erinnerung an Orte, Personen, die eigene Biographie. Man könnte auch sagen, der Hippocampus ist die Schleuse vom Kurzzeit- ins Langzeitgedächtnis."

Gewisse Lerneffekte sind von der Aktivität des Hippocampus abhängig. Die Gehirnnervenzellen passen sich bei Beanspruchung an und ändern ihre Effizienz. Einer der Schlüsselbegriffe ist die sog. Langzeitpotenzierung, englisch long-term potentiation (LTP): Die Kommunikation zwischen Nervenzellen ist die Weitergabe elektrischer Signale über verschiedene Botenstoffe. Die Zelle, von der das Signal ausgeht (Präsynapse), schüttet Botenstoffe aus, die an Rezeptoren der Zielzelle (Postsynapse) andocken. Dadurch wird in der Zielzelle eine Reaktion hervorgerufen, beispielsweise die Öffnung eines Kanals in der Zellmembran, durch den positiv geladene Calcium-Ionen in die Zelle einströmen. Somit entsteht in der Zielzelle ein erhöhtes elektrisches Potenzial, das wiederum der Weitergabe des elektrischen Signals an andere Zellen dient.

"Wenn man einen solchen Signalweg wiederholt nutzt, das heißt wiederholte Reize an eine bestimmte Region gibt, verbessern die Zellen die Signalübertragung auf verschiedene Weise", erklärt Arne Buschler. Zum einen schüttet die Startzelle mehr Botenstoffe aus. Zum anderen baut die Zielzelle (Postsynapse) mehr Rezeptoren in ihre Zellmembran ein, so dass sie für die Botenstoffe gleichzeitig empfindlicher wird. So wird die gesamte Kommunikation effizienter. "In elektrophysiologischen Messungen bemerkt man das einerseits daran, dass sich die Signalantwort verstärkt, andererseits daran, dass das Optimum des elektrischen Signals schneller erreicht ist", berichtet der Forscher.

Was notwendig ist, um eine solche Plastizität zu verbessern, untersucht er an Mäusen. Die Tiere werden zunächst unter Standardbedingungen allein gehalten - ihre Umgebung ist dabei recht langweilig. Um die Plastizität im Hippocampus zu untersuchen, wird die Nervenzellaktivität gemessen. "Dabei geben wir zuerst in regelmäßigen kurzen Abständen schwache elektrische Impulse an die entsprechende Hirnregion und messen die Antwort der Zellen. Dann folgt ein stärkerer Reiz zur Induktion von LTP, der einem erinnerungswürdigen Ereignis entspricht. Danach kommen wieder schwache Reize. Bei erfolgreicher Induktion von LTP fällt die Antwort auf diese schwachen Reize dann stärker aus", erklärt Arne Buschler. Ergebnis: Unter Standardbedingungen gehaltene Mäuse weisen einen niedrigen LTP-Effekt auf (s. Abb. 2). Allerdings ist der Effekt nach vier Stunden nicht mehr messbar.

Dasselbe Messprotokoll wendet Buschler dann auch auf Mäuse an, die zwei Wochen lang - d.h. für relativ kurze Zeit - in einem sog. enriched environment gehalten werden. Die "Anreicherung" der Umgebung besteht in einem Laufrad, Röhren, Spielzeugen und Nistmaterial im Käfig (s. Abb. 3). Die Messungen haben gezeigt, dass bei diesen Tieren der Effekt der Langzeitpotenzierung viel stärker ausgeprägt ist (s. Abb. 4).

Man weiß, dass körperliche Fitness auch allein das Lernvermögen verbessert. Die Mäuse, die in Gruppen im enriched environment gelebt haben, haben aber "Nur-Läufern" gegenüber, denen nur ein Laufrad zur Verfügung stand, einen Vorteil. Die Verbesserung der Plastizität im Gehirn funktioniert auch noch bei "alten" Tieren. Die Mäuse, mit denen Arne Buschler arbeitet, sind normalerweise im besten Alter, d.h. etwa zwölf Wochen alt und damit junge Erwachsene. Aber auch ältere Tiere profitieren von der Interaktion mit Artgenossen und dem enriched environment. "Der Hippocampus ist eine Gehirnregion, in der noch bis ins hohe Alter hinein Nervenzellen neu gebildet werden", so Arne Buschler. "Dieser Effekt kann die hier gemessene Verbesserung der Langzeitpotenzierung aber nicht erklären, denn neue Nervenzellen brauchen gut drei Wochen um zu reifen und funktionsfähig zu werden. Zwei Wochen in stimulierender Umgebung können zwar die Reifung neuer Nervenzellen unterstützen, aber diese wären noch nicht ins neuronale Netzwerk integriert. Vermutlich liegen dem gemessenen Effekt sowohl die verbesserte Verfügbarkeit von Neurotransmittern, als auch der für sie spezifischen Rezeptoren zu Grunde." Im nächsten Schritt will er daher untersuchen, welche Rezeptoren es sind, die nach einem geselligen Aufenthalt in anregender Umgebung vermehrt vorliegen. Solche Studien kann man z.B. mit transgenen Mäusen machen, d.h. Tieren, denen der genetische Bauplan für bestimmte Rezeptoren fehlt.

Ein besonders interessantes Ergebnis der Studie: Die Verbesserung der Langzeitpotenzierung tritt ausschließlich dann auf, wenn die Mäuse in Gruppen im enriched environment leben. Eine einzelne Maus profitiert nicht von der anregenden Umgebung. "Das passt zu den Ergebnissen der Studie mit älteren Menschen, die einen Tanzkurs besucht haben, die von PD Dr. Hubert Dinse vom Institut für Neuroinformatik der RUB durchgeführt wurde", meint Buschler. "Auch da haben sie ja soziale Kontakte gehabt, zusätzlich zur körperlichen Betätigung." Allerdings sind soziale Stimuli alleine nicht in der Lage, die Langzeitpotenzierung einzelner Tiere zu verbessern. Es müssen schon eine reizvolle Umgebung und soziale Interaktion zusammen kommen.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Abbildung 1 auf Seite 52:
Arne Buschler im Labor mit seinen Versuchstieren: Mäuse lieben das Laufrad.

Abbildung 2 auf Seite 53:
Mäuse, die unter Standardbedingungen gehalten werden, weisen einen niedrigeren LTP-Effekt auf als Artgenossen, die im enriched environment leben.

Abbildung 3 auf Seite 54:
Nistmaterial, Bälle und Röhren wollen erkundet werden und regen die Mäuse zu Aktivität an.

Abbildung 4 auf Seite 55:
Tiere, die in Gesellschaft im enriched environment gehalten wurden, zeigen eine weit stärker Verbesserung der synaptischen Übertragung von Reizen im Gehirn als Tiere, die allein im enriched environment oder in Gruppen in Standardumgebungen gehalten wurden. Fazit: Geselligkeit und anregende Umgebung müssen zusammen kommen.


Den Artikel mit Bildern finden Sie im Internet im PDF-Format unter:
http://www.ruhr-uni-bochum.de/rubin/rubin-winter-2011/pdf/beitrag08.pdf


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Quelle:
RUBIN - Wissenschaftsmagazin, Winter 2011, S. 52-55
Herausgeber: Rektorat der Ruhr-Universität Bochum
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veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Januar 2012