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FORSCHUNG/132: Wie funktioniert das Gehirn von Zahlengenies? (highlights - Uni Bremen)


"highlights" - Heft 21 / September 2009
Informationsmagazin der Universität Bremen

Wie funktioniert das Gehirn von Zahlengenies?


1.000 Jahre zurück: Wissen Sie, welcher Wochentag der 24. Dezember 1009 war? Wohl kaum. Wenn doch, gehören Sie vielleicht zu den so genannten Savants, den "Inselbegabten". Zahlengenies und Kalenderrechner wie Rüdiger Gamm oder George Widener wissen sofort, dass es ein Sonntag war. Sie nennen auch den Wochentag jedes anderen beliebigen Datums oder können, wie Gamm, 91 hoch 50 im Kopf rechnen. Privatdozent Dr. Thorsten Fehr vom Zentrum für Kognitionswissenschaften (ZKW) der Universität Bremen forscht seit Jahren zu Phänomenen, die auf komplexen Kognitionen und komplexen Emotionen basieren. Mehrmals hat er bereits Tests und Untersuchungen mit Gamm und Widener durchgeführt - denn er will mehr über die Hirnfunktionen der begabten Rechenkünstler erfahren.


Das menschliche Gehirn ist extrem kompliziert und kaum erforscht. Aufgrund seiner Komplexität verbietet sich jeder Gedanke daran, es jemals vollständig zu "entschlüsseln". "Das Hirn ist ein Phänomen, das für unsere Vorstellungskraft in den Bereich der Unendlichkeit gehört", sagt Thorsten Fehr. "Denn der Spezies Mensch fehlt ganz einfach die Zeit, um diese Arbeit der kompletten Erforschung des Gehirns zu leisten." Kognitive Leistungen basieren auf hochkomplexen Interaktionen verschachtelter Nervenzellverbände, die sich immer wieder neu "organisieren". Kognitionswissenschaftler schreckt diese Komplexität nicht ab: Sie wollen mehr Licht ins "Geheimnis Gehirn" bringen und herausfinden, wie es funktioniert. Thorsten Fehr zählt dabei zu den Experten auf dem Gebiet der "Inselbegabten".

"Menschen mit einer Spartenfähigkeit und einer gewissen emotionalen Exzentrizität sind besonders interessant", sagt Fehr. "Die Überlegung dahinter: Wenn jemand etwas besonders gut kann, organisiert er das auch besonders gut in seinem neuronalen System." Fünfmal war er bereits mit Rüdiger Gamm im Labor, einmal mit George Widener. Rüdiger Gamm ist insofern ein "untypischer" Savant, weil er weder Autist noch auf anderen Gebieten geistig behindert ist. George Widener ist Autist vom Typ Asperger. Beide zeichnet aber eine spezielle Emotionalität aus, die Fehr als "positive Aggression" beschreibt: "Wenn jemand im Kopf Aufgaben rechnet, deren Ergebnis mit Sexdezillionen und Quintdezilliarden beginnt, braucht er das als 'Energiequelle'".


Als Savants werden Menschen bezeichnet, die über außergewöhnliche Fähigkeiten in Teilbereichen wie Mathematik, Musik, Sprache oder bildende Kunst verfügen, dafür aber oft starke Defizite in anderen mentalen Gebieten aufweisen. Der aus dem Französischen stammende Begriff ist eher missverständlich, weil er "Gelehrter" oder "Wissender" bedeutet. Tatsächlich sind etwa die Hälfte der bekannten Savants Autisten; viele weisen einen unterdurchschnittlichen Intelligenzquotienten auf. Der Begriff "Inselbegabte" kennzeichnet die herausragenden Fähigkeiten auf einem klar abgegrenzten Gebiet bei sonst schwacher Begabung deshalb besser. Einer breiteren Öffentlichkeit wurde das Savant-Syndrom durch den Film "Rain Man" bekannt, in dem Dustin Hoffman einen Autisten mit außergewöhnlichen Rechenfähigkeiten spielt.


Der Forscher will wissen, wie das Gehirn der Savants die komplexen Kognitionsleistungen realisiert, wie es schwierigste Aufgaben verarbeitet und wo im Gehirn sich die Hirnreize abbilden.

Dazu greifen Fehr und seine Kollegen auf verschiedene Methoden zurück. Eine große Rolle spielt die Bildgebung: Die funktionelle Kernspintomographie (fMRT) oder die Positronen-Emmissions-Tomographie (PET) machen wichtige Orte im Gehirn sichtbar, die an den komplizierten Denkprozessen beteiligt sind. Dazu müssen die beteiligten Savants schwierige Aufgaben "in der Röhre" rechnen. "Durch den Denkprozess strömt sauerstoffreiches Blut in die beanspruchten Hirnbereiche. Diese Veränderungen können wir registrieren." Das komplizierte Zusammenspiel von unterschiedlichen Neuronennetzwerken lässt sich allerdings besser mit anderen Methoden wie der Elektroenzephalographie (EEG) oder der Magnetenzephalographien (MEG) beschreiben. Erst die Verknüpfung beider Verfahren verschafft einen Eindruck von der Funktion des Gehirns in Zeit und Raum. Fehr: "Der Kombination von Bildgebung und Biosignalanalyse gehört die Zukunft. Wir stehen dabei noch am Anfang. Hier ist noch sehr viel Forschung notwendig."


Das Gehirn ist extrem anpassungsfähig

Bei Rüdiger Gamm ergab sich zunächst, dass bei "normalen" Rechenprozessen vergleichbare Hirnregionen aktiviert sind wie bei "Normalrechnern". Bei schwierigen Aufgaben wurden weitere Bereiche genutzt, die den "normalen" angelagert sind. "Rüdiger Gamm griff also - einfach gesagt - auf zusätzliche neuronale Kapazitäten zurück", erläutert Fehr. Er führte mit dem "Savant" mehrere Messungen in zeitlichen Abständen durch. "Hätten wir dabei durchgehend die gleichen aktiven Hirnregionen aufgefunden, hätte das die Theorie gestützt, dass das Gehirn modular organisiert ist." Tatsächlich stellte sich aber heraus, dass Gamm für die gleichen Aufgaben Wochen oder Monate später in weiten Teilen andere Hirnbereiche nutzte. Diese Forschungsergebnisse ließen einige wichtige Schlussfolgerungen für Fehr zu: "Offenbar lassen sich viele Reize bei der mentalen 'Erstverarbeitung' - zum Beispiel sensorisch - eher modular verorten, also auch bei verschiedenen Menschen an ähnlichen Stellen." Wenn der Mensch dann aber den Umgang mit diesen primären Reizen trainiere und kognitiv in komplexe Prozesse integriere, sie also bedeutungsvoll in verschiedene Kontexte des Alltags einbaut, wende er individuell völlig unterschiedliche Wege an. Das Gehirn, so Fehr, könne sich durch Lernprozesse oder Anforderungen in bestimmten Lebensphasen extrem anpassen.

Diese These wird auch durch die Erkenntnis gestützt, dass Rüdiger Gamm und George Widener für die gleichen Aufgaben beim Kalenderrechnen völlig unterschiedliche Hirnregionen nutzen. Es gibt nur kleine Überlappungen. Der Grund dafür ist die Tatsache, dass verschiedene Menschen unterschiedliche Denk-"Strategien" haben können. Komplizierte mentale Prozesse können mit verschiedenartigen Strategien umgesetzt werden. So können beispielsweise mentale Rechenprozesse verbal, räumlich oder visuell gedacht werden. Das führt zu unterschiedlichen Aktivierungsmustern im Gehirn. Noch komplizierter wird es, wenn Mischformen von Strategien angewendet werden. Thorsten Fehr verdeutlicht die unterschiedlichen Wege an einem Beispiel: "Viele Menschen rechnen 6 x 16 = 96 als 6 x 10 = 60 plus 6 x 6 = 36. Sie kommen dann durch die Addition auf 96. Manch ein Mensch weiß aber vielleicht, dass 3 x 16 = 48 ist - und rechnet dann einfach 2 x 48 = 96." Obwohl das Ergebnis gleich ist, können auf dem Weg dorthin völlig unterschiedliche Hirnregionen aktiviert werden.


Jeder Mensch denkt anders

"Viele Wege führen nach Rom - das gilt auch für die Hirntätigkeit bei der Lösung komplexer Aufgaben", lautet die Schlussfolgerung von Fehr. "Nach langwierigen Untersuchungen wissen wir heute: Je komplizierter ein mentaler Prozess ist, desto mehr Individualität weist er organisatorisch im Gehirn auf." Anders ausgedrückt: Je schwieriger die Herausforderung, desto unterschiedlicher ist von Mensch zu Mensch die Hirnaktivität. "Wir können wenig darüber sagen, WAS jemand denkt. Wir wissen aber schon sehr viel darüber, WIE jemand denkt!" Wenn ihm also jemand sagen würde, was er während der Untersuchung gedacht habe, könne er der Testperson mittlerweile vieles darüber erklären, wie sein Gehirn das getan habe. "Andersrum funktioniert das nicht", so der Bremer Forscher. "Das heißt: Mit den gegenwärtigen Methoden der Neurowissenschaften ist konkretes Gedankenlesen nicht möglich. Ob 'zum Glück' oder 'leider', sei dahingestellt."


Zentrum für Kognitionswissenschaften
www.neuropsychologie.uni-bremen.de


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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
12. Jahrgang, Heft 17 / September 2006, Seite 8-11
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
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veröffentlicht im Schattenblick zum 10. Dezember 2009