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FORSCHUNG/093: Zeitempfinden, Zeitmangel und Biorhythmus (forsch - Uni Bonn)


forsch 2/2007 - April 2007
Bonner Universitäts-Nachrichten

Haben oder nicht haben
Von Zeitempfinden, Zeitmangel und Biorhythmus

Von Ulrike Eva Klopp


"Gott schuf die Zeit. Von Eile hat er nichts gesagt." So steht es auf einer alten Küchenuhr, angeboten auf dem Bonner Flohmarkt. Eile, Hektik und Termine sind jedoch heute - in unseren Breiten zumindest - allgegenwärtig. Das Leben wird länger, aber Zeit wird überwiegend als Ressource gesehen, die man nutzen muss: In wenig Zeit viel machen und das in hoher Qualität und kostengünstig. Und wenn eine E-Mail nicht unmittelbar beantwortet wird, ist das schon fast ein Affront. Dabei leben die Menschen eigentlich schon seit der Erfindung der künstlichen Beleuchtung gegen ihren natürlichen Rhythmus.


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"Ja, eine allgemeine Beschleunigung des Lebens findet sicher statt", sagt der Psychologe Professor Dr. Arndt Bröder. "Der amerikanische Wissenschaftler Robert Levine hat den eindeutigen Zusammenhang mit dem Grad der Industrialisierung - und damit dem Zwang zur Effizienz in umfangreichen Studien festgestellt. Dabei hat er sogar die Geschwindigkeit gemessen, mit der sich Menschen unterschiedlicher Kulturen in einer Einkaufsstraße bewegen oder wie schnell man am Postschalter bedient wird." Sarah Schneider, Studentin der Medienwissenschaft, hat für sieben Wochen in der Universitätsstadt Stellenbosch bei Kapstadt gearbeitet. Sie kam mit dem Eindruck zurück, dass das Leben in Südafrika langsamer verläuft: "Das Verständnis von schnell und stressig hat mich öfter amüsiert. Südafrikaner haben eine gelassenere Auffassung von Zeit und nutzen sie anders, sie 'hängen gerne ab'. Das hat wohl auch damit zu tun, dass es weniger Regeln und Vorgaben gibt als bei uns, viel Sonne und das Meer."

Wenn Zeit als kostbare Ressource gilt, wird Zeit zu verlieren oder gar zu vergeuden zum Vorwurf. "Ich habe keine Zeit" ist ein oft gehörter Schlachtruf. Zum einen signalisiert er, gefragt und sehr beschäftigt zu sein - aber auch zunehmend das Gefühl der Überforderung und zu wenig Zeit für sich selbst zu haben. Und jemandem "Zeit zu schenken" ist kostbar.


Fremdbestimmt - oder "frei"?

Unser Alltag teilt sich in der Regel in drei Phasen: die fremdbestimmte Zeit, die man an der Schule, in der Uni, bei der Arbeit und im Haushalt verbringt, die Zeit, die man für lebensnotwendige Tätigkeiten wie Essen und Schlafen braucht - die aber durchaus als Genuss erlebt werden können - und die Zeit, über die man frei bestimmen kann. Freizeit wird als starker Kontrast zur Arbeitszeit gesehen.

"Das war nicht immer so", betont der Literaturwissenschaftler Professor Dr. Jürgen Fohrmann. "Bis zum späten 18. Jahrhundert lebte und arbeitete man zum Beispiel als Handwerkerfamilie unter einem Dach. Erst mit der Industrialisierung, dem aus-dem-Haus-gehen zur Arbeit, kam die Abgrenzung."


Freizeithektik versus Erholung

Ein anerkannter Zweig der Soziologie widmet sich schon seit langem dem Feld Arbeit und Freizeit, heute verstärkt im Rahmen der Lebensstilforschung. Dr. Doris Lucke, apl. Professorin für Soziologie, hat mit dem Thema Zeit beim letzten Dies academicus viele Zuhörer angezogen. "In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war die von Verpflichtungen freie Zeit überwiegend Erholung oder diente der Wiederherstellung der Arbeitskraft", sagt sie. "Im wachsenden Wohlstand der 60-er und 70-er Jahre wurde sie mehr und mehr zur sozialen Selbstdarstellung. Das war die Phase, in der man zum Beispiel nach Italien reiste oder einem Tennisclub angehörte. Als diese Reiseziele oder bestimmte Sportarten populärer wurden, suchte man sich etwas Anderes, noch Exklusiveres. In der Folge nahm das 'immer mehr, immer weiter, immer auffälliger' schon geradezu hektische Formen an. Heute drückt sich das steigende Bedürfnis nach innerer Ruhe und Muße, nach persönlicher 'Entschleunigung' und Pflege der Gesundheit auch im Wellnessboom aus." Zum Thema freie Zeit sieht die Soziologin durchaus auch einen Unterschied zwischen Männern und Frauen: "Die ist bei Frauen trotz des Typs 'neuer Mann', der auch im Haushalt etwas mit anfasst, eingeschränkter. Männer übernehmen eher solche Tätigkeiten, die nach außen signalisieren: Ich tue was."


Pflichten organisieren

"Wenn ich gefragt werde: Hast Du kurz Zeit? sage ich schon mal: Eigentlich nicht, aber ich nehme sie mir", meint Professor Bröder. "Das ist das Thema Zeitmanagement: Wenn ich bestimmte Prinzipien aufstelle und unterscheide, was wirklich wichtig ist und was 'nur' dringend, lässt man sich nicht dauernd aus dem Tritt bringen. Natürlich gibt es Zwänge von außen. Und um Zeit zu sparen, muss man erstmal Zeit investieren - aber für das Gefühl, dann mehr Kontrolle zu haben und selbst zu bestimmen, lohnt sich das."

Moderne Medien ermöglichen vorher nie gekannten, faszinierend schnellen Nachrichten- und Datenaustausch und optimale Erreichbarkeit - aber die damit verbundene Erwartung schneller Reaktion trägt zu Unruhe und Stress bei. Man wird häufig bei dem unterbrochen, was man gerade tut. "Mit E-Mail- und Internet-fähigen Handys dreht sich das Rad noch schneller", sagt der Psychologe. "Hier kommen Kommunikationskultur und unausgesprochene Regeln ins Spiel: Was wird erwartet und wie geht man damit um? Darüber muss man reden." Bereitschaft sei Dienst - wird erwartet, dass man generell auch in Pausen erreichbar ist, unterlaufe man das.


Gefühlte Zeit

Ein Tag hat 24 Stunden, eine Stunde 60 Minuten und die 60 Sekunden. So sagt es die Uhr - und bei Terminen wie bei vielen sportlichen Leistungen spielt sie die entscheidende Rolle. Wie aber Menschen Zeiträume empfinden, kann subjektiv ganz anders sein.

"Die Wahrnehmungspsychologie kennt das Weber'sche Gesetz zum wahrgenommenen Unterschied zwischen Reizen", erzählt Professor Bröder. "Wenn man zum Beispiel in einem dunklen Raum zu einer Kerze eine zweite anzünde wird es deutlich heller. Wenn schon hundert Kerzen brennen und nimmt eine dazu, wird man den Unterschied nicht merken." Ähnlich wie mit den Kerzen ist es mit den Jahren: Sind schon viele da, fällt ein weiteres kaum auf. Die Zeit im Alter scheint daher zu rasen, denn es braucht immer größere tatsächliche Unterschiede, bis wir sie auch als vergangene Zeit empfinden. Ein ereignisreicher Zeitraum erscheint uns, während wir ihn erleben, kurz, er vergeht "wie im Flug". Auf etwas zu warten, ohne dass etwas passiert, kann man als sehr lang empfinden. Bröder kennt den Spruch "watched water never boils"; besser ist, zwischendurch etwas anderes zu machen. Das ersehnte Ereignis selbst scheint dann ebenfalls oft ganz schnell vorbei - wie das freie Wochenende nach einer Arbeitswoche.

"Im Rückblick allerdings ist es umgekehrt", weiß der Psychologe. "Hat man viel erlebt, gelernt und viele Eindrücke gespeichert, wird das als lange Zeiteinheit empfunden. So scheint die Zeit der Jugend auch langsamer vergangen zu sein. Ältere Leute erleben und verarbeiten seltener Neues, bekannte Routine lässt ihnen in der Erinnerung die letzten Jahre schneller vergehen. Dies verstärkt den Eindruck der fliehenden Zeit im Alter."

"Ein gestörtes Zeitgefühl kann oft auch Ausdruck psychischer Erkrankungen sein", weiß Professor Dr. Thomas Schläpfer von der Universitätsklinik für Psychiatrie und Psychotherapie. "Patienten mit Depressionen berichten oft, dass ihnen der Tag endlos lang erscheint und ihr Leiden sich so noch vergrößert. Bei einer Manie 'fliegt' die Zeit nicht nur in besonders krasser Form, sondern die Patienten sind auch hektisch in ihren Bewegungen, in Gestik und Mimik, sie sprechen schnell." Behandeln lässt sich beides psychotherapeutisch und pharmakologisch, aber auch hier spielt die Zeit eine Rolle: Obwohl bei Depressionen erste Therapieerfolge schneller sichtbar sind, können auch diese drei bis vier Wochen den Patienten sehr lang vorkommen.


Schlafenszeit

Die Chronobiologie hat die volkstümlichen Begriffe der Eulen - spät zu Bett und spät auf - und der Lerchen - früh zu Bett und früh auf - geprägt. "Umerziehen ist so gut wie ausgeschlossen. Das wiederum heißt, dass ein großer Teil der Bevölkerung gegen die eigenen Anlagen leben muss", sagt Dr. Ursula Voss, Privatdozentin für Psychologie, und schmunzelt: "Ich selbst gehöre auch dazu." Umerziehung ist zwecklos - aber entwicklungsbedingte Veränderungen treten zum Beispiel während der Pubertät ein. Davor sind viele Schüler eher Eulen und sitzen morgens dann müde im Unterricht.

Dazwischen gibt es viele weitere Formen: die Kurz- und die Langschläfer sowie Menschen, die unfähig sind, am Tag zu schlafen und damit als Schichtarbeiter ein massives Problem hätten. Licht hat darauf tatsächlich Einfluss: Im Sommer schlafen wir bedingt durch den erhöhten Lichteinfall eher weniger, im Winter mehr. Da in der Ruhephase die Biorhythmen synchronisiert werden, sie sich reorganisieren und rekonstituieren können, ist guter Schlaf ausgesprochen wichtig. Versuche mit Probanden in neutralen Räumen ohne Tag und Nacht zeigen eine veränderte Zeitwahrnehmung: "Im Bunker" scheinen die Tage länger, zwischen 26 und 33 Stunden", sagt Dr. Voss. "Das Verhältnis von Schlaf- zu Wachzeit verändert sich allerdings kaum. Die Probanden außer denen, die auch sonst mit weniger Ruhestunden auskommen - schlafen wie gewohnt etwa ein Drittel der Zeit."

Genau genommen veränderte die Erfindung der großräumigen künstlichen Beleuchtung, die anders als Lagerfeuer oder Kerzenschein wirklich die Nacht zum Tag machte, den natürlichen Lebensrhythmus der Menschen. Schichtarbeit und Langstreckenflüge, ob mit oder gegen die MEZ, stören die innere Uhr: Stoffwechsel- und Kreislaufschwankungen, eine Störung des Schlaf-Wach-Rhythmus beeinflussen die Konzentrationsfähigkeit nachhaltig, ein "Jetlag" wird nur langsam wieder abgebaut. Davon abgesehen ist trotz künstlicher Beleuchtung die Jahreszeit der kurzen Tage für viele Menschen ein Problem: "Der Mangel an natürlichem Licht im Winter führt bei dafür anfälligen Menschen zur bekannten Winterdepression", bestätigt Professor Schläpfer. So beklagt mancher schon am Nachmittag "gefühlte 22 Uhr", und empfindet einen Verlust an Zeit und Energie.

Biologische Rhythmen reichen von Millisekunden im Stoffwechselbereich bis zum Jahr, zum Beispiel dem Winterschlaf von Tieren oder eben der "Winterdepression" bei Menschen. So ist es nachvollziehbar, dass auch die Wirksamkeit und erforderliche Höhe der Konzentration von Arzneien abhängig von der Tageszeit sein kann, wann sie verabreicht werden. Dazu ist derzeit ein eigener Forschungsbereich entstanden. Wer allerdings von dem ganzen Stress Kopfschmerzen bekommt, hat es relativ einfach: Die Tageszeit ist egal, wirksamer ist die Tablette auf nüchternen Magen - aber verträglicher nach einem kleinen Imbiss. Oder man versucht es erst mit einem kleinen Spaziergang, einer "Aus-Zeit".


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Quelle:
forsch - Bonner Universitäts-Nachrichten Nr. 2, April 2007,
Seite 6-8
Herausgeber:
Rektorat und Senat der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn
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veröffentlicht im Schattenblick zum 8. August 2007