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BERICHT/055: Unterwegs zwischen der alten und der neuen Heimat (idw)


Friedrich-Schiller-Universität Jena - 22.08.2007

Imigranten: Unterwegs zwischen der alten und der neuen Heimat

Von der 13. Europäischen Konferenz zur Entwicklungspsychologie an der Universität Jena


Jena (22.08.07) Wenn die Presse über Immigranten berichtet, dann sind die Schlagzeilen meistens dick - und negativ. Doch stimmt es wirklich, dass "Ausländerkinder" die Sprache ihres Einwanderungslandes schlecht sprechen, in der Schule Probleme bekommen und zur Gewalttätigkeit neigen? Millionen von Menschen wechseln ihren Wohnort über Grenzen und Kontinente hinweg - und die meisten von ihnen etablieren sich innerhalb kurzer Zeit in ihrer neuen Heimat. Warum aber gelingt das einigen nicht?

Die Integration von Einwanderern, Flüchtlingen und Asylsuchenden aus Entwicklungsländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas stellt die Gesellschaft in den westlichen Industriestaaten vor enorme Herausforderungen. Deshalb ist dies auch ein wichtiger Schwerpunkt der 13th European Conference on Developmental Psychology. Diese bedeutendste Tagung der europäischen Entwicklungspsychologen wird vom 21.-27. August 2007 durch das Center for Applied Developmental Science (CADS) der Friedrich-Schiller-Universität Jena ausgerichtet. Mit Migrationsproblemen beschäftigen sich auf diesem Kongress alleine zwei Symposien sowie ein wissenschaftlicher Vortrag zum Thema "Acculturation of Immigrant Youth: The Challenges for Developmental Psychologists", eingeladen wurde dafür Professor David Lackland Sam, Universität Bergen/Norwegen.

Migration und gesellschaftliche Integration

Am CADS ist Migration ein wichtiger Forschungsschwerpunkt. Das Zentrum ist Initiator des seit 2006 laufenden deutsch-israelischen Forschungsverbundes "Migration und gesellschaftliche Integration", koordiniert von Dr. Rainer K. Silbereisen, Professor für Entwicklungspsychologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena.

Der Forschungsverbund, der vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) bis zunächst 2009 mit rund 3,5 Millionen Euro gefördert wird, untersucht die Situation junger Aussiedler und jüdischer Zuwanderer im Vergleich zu anderen Migrantengruppen und Einheimischen in Deutschland und Israel. Dabei arbeiten deutsche (Bielefeld, Berlin, Bremen, Chemnitz, Jena, Leipzig, Mannheim) und israelische (Bar-Ilan, Haifa, Jerusalem, Tel Aviv) Universitäten zusammen. Es kooperieren zudem Vertreter der Fächer Psychologie, Soziologie, Kriminologie und Sprachwissenschaften, die alle über umfassende Erfahrung in kulturvergleichender Forschung zu Migration verfügen. Die Aktivitäten des Forschungsverbunds werden durch Workshops und besondere Veranstaltungen für Nachwuchswissenschaftler begleitet. So werden im Herbst 2007 junge Wissenschaftler auf einer Akademie neueste Konzepte, Methoden und Ergebnisse der Migrationsforschung mit einschlägigen internationalen Experten diskutieren. Die Ergebnisse des Forschungsverbundes werden künftig über ein interaktives Web-Portal für Politik, Wissenschaft und Presse zugänglich sein.

Seit Ende der achtziger Jahre erlebten Israel und Deutschland mehrere Wellen von Immigranten aus der früheren Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Die Mehrheit dieser jüdischen Zuwanderer bzw. der so genannten "Aussiedler" konnte sich in der neuen Heimat ein gelungenes Leben aufbauen. "Dennoch existieren Probleme, beispielsweise erreichen Kinder aus Familien mit Migrationshintergrund seltener einen gymnasialen Bildungsabschluss", sagt Dr. Peter Titzmann, der sich am CADS mit Migrationsforschung befasst.

"Ein Schwerpunkt des Forschungsverbunds ist die Bewältigung wichtiger biografischer Übergänge von der Kindheit bis ins frühe Erwachsenenalter", so Titzmann. "Behandelt werden der Eintritt in Kindergarten und Grundschule, der Übergang in weiterführende Schulen, der Eintritt in den Arbeitsmarkt, erste romantische Beziehungen sowie der Übergang von einer Partnerschaft in die Ehe." Zu diesen Gelegenheiten treffen Auffassungen aus dem Herkunftsland mit den oft ganz anderen Haltungen des Aufnahmelandes zusammen. Sie sind zugleich Herausforderungen, deren Bewältigung besonderer Strategien und Kompetenzen bedarf, über die Migranten im Gegensatz zu Einheimischen häufig nicht verfügen. Das kann weitreichende Konsequenzen haben. Daher möchten einige Forschergruppen des Verbundes herausfinden, welche Migranten diese biografischen Übergänge gut meistern und wodurch ihnen das gelingt.

Die beteiligten Wissenschaftler suchen Antworten auf eine Vielzahl von Fragen. So wollen sie herausfinden, welche Bedeutung Spracherwerb und -gebrauch für die Identitätsentwicklung und Integration von Migrantenkindern haben. Sie interessieren sich dafür, welche Ressourcen ökonomischer, kultureller oder sozialer Art die Chancen junger Migranten verbessern, Hürden im Bildungssystem und auf dem Arbeitsmarkt zu meistern. Auch fragen sie nach, welchen Einfluss Migration auf die Identitätsentwicklung Jugendlicher im Hinblick auf Werte wie Tradition, Leistungsorientierung und Selbstbestimmtheit hat, und welche Risikofaktoren dazu beitragen, dass bestimmte jugendliche Zuwanderer überdurchschnittlich oft mit dem Gesetz in Konflikt geraten.

"Es ist eine Herausforderung für die Gesellschaft, die erwachsenen Einwanderer, die in ihrer angestammten Kultur stark verwurzelt sind, zu integrieren - und ihre Kinder, die zwischen den Welten aufwachsen", sagt Professor David Lackland Sam, Universität Bergen/Norwegen. Er leitet auf der 13th European Conference on Developmental Psychology das Symposium "Acculturation, Development and Adaptation of Immigrant Youth".

Zügige Integration führt zu Konflikten zwischen den Generationen

"An der Schwelle von der Kindheit ins Erwachsenenalter müssen alle jungen Leute wichtige Entscheidungen treffen", erläutert Sam. "Sie müssen überlegen, wer sie sind und wer sie in der Zukunft sein wollen - also eine Identität aufbauen. Zusätzlich müssen jugendliche Immigranten eine Identität entwickeln als Mitglied ihrer eigenen ethnischen Gruppe, also eine ethnische Identität, und, in unterschiedlichem Grade, als ein Mitglied der Gesellschaft, in der sie nun leben, also eine nationale Identität. Somit haben sich die jungen Immigranten einer Aufgabe zu stellen, die für ihre nicht eingewanderten Altersgenossen von weit geringerer Bedeutung ist." Die Entwicklungspsychologen interessiert, unter welchen Bedingungen die Jugendlichen eine Präferenz für die ethnische oder die nationale Gruppe entwickeln, oder beide zu einer bikulturellen Identität verknüpfen. Denn die zügige Integration der jungen Generation im Einwanderungsland führt, so Sam, zur Entstehung von Konflikten zwischen den Generationen: "Es ist eine enorme Herausforderung, die richtige Balance zu finden zwischen der Kultur und den Werten der Gesellschaft, in der sie sich angesiedelt haben - und der ihrer Eltern."

Welche Aspekte der Entwicklung aber sind normal und universell für alle Kinder und Jugendlichen und welche resultieren aus ihrem Migrationshintergrund? Und warum passt sich die erste Generation von Einwanderern oft besser an das Leben in der neuen Heimat an als Immigranten der folgenden Generationen? "Möglicherweise akzeptiert man gewisse Einschränkungen und Erfahrungen eher, wenn man neu im Lande ist, und engagiert sich, denn man will in der neuen Heimat erfolgreich sein", erklärt Titzmann. "Die zweite Generation hingegen ist hier geboren, sie spricht die Sprache und lernt in den gleichen Schulen - aber sie hat trotzdem oftmals nicht die gleichen Chancen. Mit dieser Erfahrung umzugehen, das ist nicht einfach."

Titzmann und Kollegen stellen auf der 13th European Conference on Developmental Psychology eine Studie vor, die nach dem Zusammenhang von Freizeitverhalten und Delinquenz bei Jugendlichen der ersten Einwanderergeneration fragt. Ergebnis: "Immigranten verbringen ihre Freizeit öfter unter Gleichaltrigen, in der so genannten Peergroup", so Titzmann. "Denn Angebote zur organisierten Freizeitgestaltung, wie die Mitgliedschaft in Vereinen, kosten Geld, und man muss Deutsch sprechen. Da treffen sich die jungen Leute lieber mit ihren Freunden. Doch das ,Herumhängen' lässt auch bei deutschen Jugendlichen das Risiko steigen, gegen soziale Normen und Gebote zu verstoßen." Will man die Anpassung der Jugendlichen unterstützen, könnte man solche Risikofaktoren durch gezielte Angebote ausschalten.

Welche weiteren Risikofaktoren die Forschung bereits identifiziert hat, fragt ein Symposium auf der 13th European Conference on Developmental Psychology, das Dr. Dagmar Strohmeier, Universität Wien/Österreich, leitet: "Immigrant Youth in Europe: Identifying Risk Factors for Positive Development an their Underlying Functions". Dazu werden neben den Jenaern auch weitere Forscher aus fünf europäischen Staaten über neue Studien berichten. So hat eine Arbeitsgruppe aus den Niederlanden Risikoverhalten bei Einwanderern und Einheimischen verglichen. Psychologen von der Universität Athen haben untersucht, wie die Wahrnehmung von Diskriminierung die Integration albanischer Einwanderer beeinflusst. Zwei Beiträge aus Norwegen und Österreich erkunden, welche Mechanismen aggressivem Verhalten zugrundeliegen. "Die Europäische Gesellschaft für Entwicklungspsychologie (European Society for Developmental Psychology, ESDP) wird in diesem Jahr außerdem ein Buch zum Thema Immigration vorlegen", berichtet Strohmeier. "Die Forschung engagiert sich stark für dieses Thema, weil alle europäischen Länder davon betroffen sind. Und als Entwicklungspsychologen können wir einen wirkungsvollen Beitrag zur Integration von Immigranten leisten."

Weitere Informationen unter:
http://www.esdp2007.de/index.htm
http://www.uni-jena.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/pages/de/institution23


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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Friedrich-Schiller-Universität Jena, Anke Müller, 22.08.2007
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2007