AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 1 - 2016
Inklusion sucht (Schul-)Raum
von Wolfgang Schönig und Christina Schmidtlein-Mauderer
Der Lehrstuhl für Schulpädagogik hat bundesweit 15 Schulen untersucht, die Inklusion bereits seit Jahren in ihrem Konzept fest verankert haben. Der Schwerpunkt der Untersuchung lag auf Schularchitektur und Raumkonzepten, die zu einer besseren Inklusion beitragen können.
Inklusion - ein Begriff, der erst seit wenigen Jahren in aller Munde
ist. Einen medialen Beitrag dazu haben z. B. der Kinofilm "Ziemlich
beste Freunde" von François Cluzet und Omar Sy und die Dokumentation
"Klassenleben" aus der Berliner Fläming-Grundschule von Hubertus
Siegert geleistet, indem sie eindrücklich auf das Lernen, die
Lebensweise und die Bedürfnisse von behinderten Menschen aufmerksam
gemacht haben. Was bislang am Rande der Gesellschaft stattgefunden
hat und mit den Begriffen Exklusion und Separation belegt worden ist -
das Leben mit Handicaps - soll ein selbstverständlicher Bestandteil
des gesellschaftlichen Lebens und aller Bildungseinrichtungen werden.
Allen Menschen soll unabhängig von ihrer persönlichen Konstitution
ein Optimum an gesellschaftlicher Teilhabe ermöglicht werden.
Inklusion - ein Normalzustand. Ausgrenzung, Missachtung und
Benachteiligung sollen vermieden werden. Ausschlaggebend für diese
neue Orientierung ist die im Jahr 2006 verabschiedete
UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK), die nach und nach von
zahlreichen Ländern und im Jahr 2009 von der Bundesregierung
ratifiziert worden ist. Der viel zitierte Artikel 24(1) der UN-BRK
zum Thema Bildung hält zudem fest, dass auch durch Bildung
Diskriminierung verhindert und "ein inklusives Bildungssystem auf
allen Ebenen" geschaffen werden soll. Dadurch haben Eltern eines
Kindes mit sonderpädagogischem Förderbedarf einen Rechtsanspruch auf
den Besuch einer Regelschule. Die Bundesländer verfolgen entsprechend
das Ziel, den Inklusionsanteil, d. h. den Anteil der jungen Menschen
mit sonderpädagogischem Förderbedarf, die eine Regelschule besuchen,
zu erhöhen. Diese Praxis wird sich in den nächsten Jahren in noch
nicht vorhersagbarer Weise auf den Rückbau des Förderschulsystems
auswirken.
Trotz dieser Situation ist keineswegs geklärt, was unter Inklusion
genau zu verstehen ist. Befürworter eines weiten
Inklusionsverständnisses denken in Anlehnung an Annedore Prengels
Diktum einer "Pädagogik der Vielfalt" an einen konstruktiven Umgang
mit jeglicher Form von Diversität in der Regelschule, angefangen bei
dem Schüler mit Migrationshintergrund über das hochbegabte Kind oder
das Flüchtlingskind bis zum mehrfachbehinderten Jugendlichen.
Kritiker der Auffassung, dass es "normal" sei anders zu sein, wenden
ein, dass die spezifische Situation des behinderten Schülers
womöglich nicht mehr hinreichend wahrgenommen wird und die pauschale
Diskreditierung des Ortes Förderschule schwer wiegende Folgen haben
könnte.
Setzt man darauf, dass die Regelschule so gestaltet wird, dass ihre
Pädagogik allen jungen Menschen gerecht wird - auch jenen mit starken
Einschränkungen ihrer Teilhabechancen durch Behinderung - dann stellt
sich Frage nach der Qualität der einzelnen Schule mit besonderer
Dringlichkeit. Vor diesem Hintergrund haben wir uns besonders mit
einer Qualitätsdimension der Schulpraxis, nämlich dem Schulraum,
befasst.
Nach der langjährigen Raumvergessenheit der Pädagogik konstatieren wir in den Sozialwissenschaften seit etwa zwei Jahrzehnten einen so genannten "spatial turn", eine neue Aufmerksamkeit gegenüber der Bedeutung des Raums für den Menschen. Auch in der Schulpädagogik wird die kulturelle Dimension des Raums erkannt: Der Schulraum ist kein Behälter für Schülermassen, sondern vielmehr Voraussetzung für ein vielschichtiges und abwechslungsreiches Lernen im Kontext sozialer Beziehungen. Er ist zugleich auch Ergebnis von - häufig unbewussten - Austausch- und Gestaltungsprozessen, die die Interessen und Handlungen der Akteure einer Schule widerspiegeln. Raum wird nicht nur hingenommen, sondern "gemacht". So gesehen verraten Zustand und Ensemble der Räume vieles vom pädagogischen Profil der jeweiligen Schule. Räume können ein dynamisches pädagogisches Konzept unterstützen oder behindern. Sie können inszeniert und entsprechend der jeweiligen pädagogischen Notwendigkeit "bespielt" werden oder auch gestalterisch unausgeschöpft bleiben. Der Schulraum als Kraftquelle für das Lernen oder als Hindernis? Diese Frage stellt sich vor dem Hintergrund der Diversität der Schülerschaft besonders dringlich. Lernen muss vielgestaltig werden und allen Heranwachsenden die aktive und selbstständige Aneignung der Inhalte mit allen Sinnen ermöglichen. So gesehen werden die Lehrkräfte als Arrangeure und Gestalter von differenzierten Lernumgebungen immer wichtiger. Gefragt ist eine teamförmige Arbeitsweise, die für die Stimmigkeit der didaktischen Prinzipien sorgt. Zudem ist die Schule besonders dort als Lebens- und Aufenthaltsort gefragt, wo sie im Ganztagsbetrieb arbeitet und sich die Verweildauer junger Menschen in der Schule entsprechend erhöht.
Die pädagogische Öffnung von Schule für das vielfältige Lernen, für die Lebenswelten junger Menschen und die Inklusion verlangt also nicht nur eine neue pädagogische und kooperative Haltung der Lehrkräfte, sondern spiegelbildlich auch eine räumliche und architektonische Öffnung. Es ist allerdings noch nicht erforscht worden, in welcher Weise inklusive Pädagogik die Raumprogramme der Schule herausfordert. Deshalb sind wir den Fragen nach dem guten inklusiven Schulraum durch eine empirische Untersuchung nachgegangen, die im Kontext des Verbundprojektes "Inklusives Lernen und Leben in der Schule" stand. Fünfzehn Schulen unterschiedlicher Schulart in der Bundesrepublik, darunter auch drei Förderzentren, haben uns Einblick in ihre Raumnutzung und ihre pädagogische Praxis gewährt. Zumeist handelt es sich um Schulen, die Inklusion seit vielen Jahren erfolgreich durchführen. Einige sind mit dem Jakob-Muth-Preis für Inklusion oder gar dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet worden. Durch ganztägige Ortsbegehungen, Dokumentenanalyse, Interviews mit dem Personal und mit Schülern und Schülerinnen sowie durch zahlreiche Fotos haben wir die Praxis der jeweiligen Schule detailliert beschrieben.
Wir konnten feststellen, dass es eine weitgehende Übereinstimmung der Schulen hinsichtlich eines weiten Inklusionsverständnisses gibt: Inklusion wird als die umfassende konzeptionelle Berücksichtigung der Unterschiede zwischen den Schülern und Schülerinnen verstanden. Anders als bei der Integration junger Menschen in die vorhandenen Ablaufstrukturen stellt Inklusion die jeweilige Schule jedoch vor die Herausforderung, sich dynamisch und kontinuierlich an die Bedürfnisse ihrer Schülerinnen und Schüler anzupassen. Diese inklusiven Schulen bestätigen den bekannten Befund der Schulentwicklungsforschung, dass Schulen individuell auf den akuten Problemlösungsbedarf reagieren und je eigene "Gestalten" und Kulturen erzeugen können. Von einer einheitlichen Landschaft inklusiver Schulen kann also keine Rede sein. Vielmehr zeigen sie uns "maßgeschneiderte" Konzepte auf der Grundlage der spezifischen Schülerklientel, der Ressourcenzuweisung und diagnostischen Praxis im jeweiligen Bundesland sowie des pädagogischen Selbstverständnisses des konkreten Kollegiums. Dies bildet sich auch im Raumprogramm der einzelnen Schule ab. Wo die Schule durch ihre Architektur ein differenziertes Raumangebot vorhält, z. B. Lernhäuser oder Cluster-Bauweise, wird es insbesondere Heranwachsenden mit sozialen und emotionalen Problemen erleichtert, Nähe und Distanz zu regulieren und einen ihnen gemäßen Ort im Gebäude zu finden. Aber nicht jede Schule hat ein differenziertes Raumangebot, günstige Raumzuschnitte oder gar zusätzliche Räume für die spezielle Förderung. Zu sehen ist gleichwohl, dass es selbst in monotonen Altbauten gelingen kann, durch akustische Beruhigung, farbliche Gestaltung, Raumgliederung und geschickte Lichtführung Schülerinnen und Schüler in einem angenehmen Schulraum zu beheimaten.
So lässt sich auch die Frage, ob es zu empfehlen ist, für die Inklusion zusätzliche spezielle Räume einzurichten, nicht pauschal beantworten. Einige unserer Schulportraits zeigen, dass es in manchen Fällen pädagogisch geboten sein kann, auf die Schaffung spezieller Räume zu verzichten, damit nicht neuerlich Situationen der Separation innerhalb der Schule entstehen. Sie zeigen aber auch, dass dem gewöhnlichen Schulraum dort Inklusionsgrenzen gezogen sind, wo es um die Förderung junger Menschen mit erheblicher Einschränkung der Mobilität, der geistigen Entwicklung und mit Mehrfachbehinderung geht. Dann sind Räume für die Pflege oder für therapeutische Maßnahmen im Bereich der Sprach- bzw. Logotherapie, der Ergo- oder der Physiotherapie angezeigt (vgl. Förderschulen). Eine Tagung im Oktober vergangenen Jahres an der KU, an der auch einige porträtierte Schulen beteiligt waren, hat zudem gezeigt: Die Inklusion der Zukunft braucht multiprofessionelle Teams, bestehend aus Lehrkräften, Sonderpädagogen, Schulbegleitern, Erzieherinnen und ggf. Pflegefachkräften. An dieser Stelle schließt sich der Kreis zu den Raumfragen, denn professionelle Kooperation für die Inklusion braucht gemeinsamen Raum!
Wolfgang Schönig, Christina Schmidtlein-Mauderer (Hrsg.): Inklusion sucht Raum. Porträtierte Schulentwicklung, hep verlag, 2015.
Prof. Dr. Wolfgang Schönig ist Inhaber des Lehrstuhls
für Schulpädagogik an der KU. Zu seinen Schwerpunkten gehören
Schulqualität und -entwicklung sowie Organisationsberatung der
Schule.
Christina Schmidtlein-Mauderer ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Schulpädagogik.
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Quelle:
AGORA - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 1/2016, Seite 14-15
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
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veröffentlicht im Schattenblick zum 21. Mai 2016
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