Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → PÄDAGOGIK

SCHULE/333: Schulbuch 2.0 - Mehr als nur Lesen (Agora - Uni Eichstätt-Ingolstadt)


Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt, Ausgabe 2 - 2011

Schulbuch 2.0: Mehr als nur Lesen

von Heiner Böttger


Eine internationale Projektgruppe unter Leitung der Englischdidaktik an der KU untersucht innerhalb von zwei Jahren, wie sich Tablet-PCs im Fremdsprachenunterricht so einsetzen lassen, dass die Schüler einen deutlichen Mehrwert zum herkömmlichen Schulbuch erhalten.


In der Diskussion um erfolgreiches Fremdsprachenlernen im schulischen Kontext dominieren derzeit mehrere Trends, die sich aus neuesten Erkenntnissen aus der allgemeinen Lernforschung, der Spracherwerbsforschung und der Hirnforschung speisen, dazu zählen u.a.

• die Bedeutung von Individualisierung und Differenzierung/Lernerautonomie,
• das Bemühen um Authentizität der Materialien,
• die zentrale Bedeutung von Motivation für das Sprachenlernen,
• die Einbeziehung neuer Medien (Web 2.0) sowie
• das Verständnis von Lernen als sozialem Prozess.

Schulische Lehrwerke können diesen Trends und damit den Bedürfnissen von Lernen im 21. Jahrhundert allein aufgrund seiner physikalischen Beschaffenheit nicht mehr gerecht werden. Das Lehrwerk

• impliziert Progressionen (z.B. in den Bereichen Wortschatz, Grammatik), die in dieser Form im natürlichen Spracherwerb weder existieren noch im schulischen Kontext lernförderlich sind,
• führt zu einer Dominanz des schriftlichen Textes, der viele Lernertypen benachteiligt,
• lässt zu wenig Spielraum für differenzierte, differenzierende und individualisierende Aufgabenformen, Texterschließungshilfen (scaffolding) und Übungsformen, und
• ermöglicht keine wirkliche Sprachkompetenzorientierung und kein Strategietraining, solange zentrale Elemente (Einführung von neuen Vokabeln (incl. Aussprache) mangels überzeugender Alternativen von der Lehrkraft übernommen werden müssen. Der Dreischritt Vokabeleinführung - Textbegegnung - Fragen zum Text dominiert auch weiterhin das Unterrichtsgeschehen.

Auch wenn die Lehrwerke der neuesten Generation versuchen diese Defizite anzugehen, ist das Ergebnis dennoch unbefriedigend:

a) Neue Medien (Web 2.0) werden nur punktuell in den Unterricht einbezogen.
b) Selbst dort, wo authentische Materialien in den Unterricht einbezogen werden, besteht meist keine Möglichkeit für die Schüler, die Rezeption nach eigenen Bedürfnissen zu gestalten (mehrmaliges Abspielen eines Hörverstehenstextes, Videos bei z.B. reduzierter Geschwindigkeit, individuelle Vokabelarbeit, etc.).
c) Individuelles, autonomes sowie informelles bzw. spielerisches Lernen spielt nur eine untergeordnete Rolle.
d) Das Bemühen, die angesprochen Defizite zu beheben führt zu einer Fülle an Zusatzmaterialien verschiedener Anbieter, wobei jedoch fraglich bleibt, ob diese inflationären Angebote wirklich zu einer Verbesserung des schulischen Fremdsprachenlernens führen, solange sie nicht effektiv und konsequent in den Unterricht integriert werden, was unserer Einschätzung solange nicht der Fall sein wird, wie diese Materialien nicht allen Schülern permanent zur Verfügung stehen.

Auf diese Weise werden nicht nur wertvolle Ressourcen vergeudet, Potenziale nicht ausgeschöpft und essentielle Kompetenzen zum erfolgreichen Bestehen in der Wissensgesellschaft nicht vermittelt - vielmehr wird auch die Medienrealität der Kinder und Jugendlichen nicht reflektiert und abgebildet.

Das zweijährige Projekt "iDidactics: Textbook 3.0" der Professur für Englischdidaktik bietet Auswege und Lösungsangebote an, die einen Paradigmenwechsel im Fremdsprachenlernen in schulischen und außerschulischen Kontexten befördern können und sollen. Es bietet der Englisch- und Fremdsprachendidaktik neue Felder für Fremdspracherwerbs- und Unterrichtsforschung sowie die Entwicklung neuer Lehr-/Lernkonzepte und -szenarien.

Entwickler und Herausgeber von Unterrichtsmedien und -materialien, z.B. Schulbuchverlage, werden durch das Projekt in die Lage versetzt, die Grenzen der Zweidimensionalität von Text und Abbildung zu durchbrechen und die Interaktivität von Lernenden untereinander und Lerner mit Texten neu zu definieren. Mit den Tablett-PCs besteht also zum ersten Mal die realistische Möglichkeit, die Defizite bestehender Lehrwerke erfolgreich zu überwinden. Im Gegensatz zu Laptops/Netbooks oder auch Smart boards verbinden Tablets u.a. Portabilität, Displaygröße und höhere Softwaresicherheit und -stabilität mit den Möglichkeiten des Internets sowie mit äußerst intuitiven Interaktionsmöglichkeiten und Bedienoberflächen. Gleichzeitig werden diese Geräte in absehbarer Zeit wesentlich günstiger werden, sind im Vergleich zu Laptops und Stand-PCs schon jetzt konkurrenzfähig.

Die beteiligten internationalen Projektpartner sind die Englischdidaktik der KU, die RMIT University Melbourne/Australia, das Games & Experimental Entertainment Laboratory (GEElab), Vertreter der Kultusministerien und Schulaufsichten aus Rheinland-Pfalz und Bayern, verschiedene Partnerschulen sowie der Cornelsen Verlag Berlin. Sie konzipieren und produzieren gemeinsam auf iterative Weise und unter Beteiligung der Zielgruppe(n) exemplarische Lerneinheiten für das iPad. Das iPad dient dabei als beispielhafter Tablet-PC. Anschließend werden die entwickelten Lerneinheiten an assoziierten Partnerschulen (alle Schularten) in ganz Deutschland getestet und evaluiert. Diese Lerneinheiten basieren auf einem ebenfalls zu entwickelnden, modularen Softwaregerüst, das es erlaubt, weitere Lerneinheiten einerseits ohne größeren Aufwand und andererseits auch auf anderen Endgeräten mit Browser und Onlinekonnektivität zur Verfügung zu stellen.

Die Projektpartner sind u.a. an folgenden Fragestellungen interessiert:

• Wie lassen sich neueste, weithin verfügbare Hardware (Tablet-PCs wie das iPad, Notion Ink Adam, Motorola Xoom, HTC Flyer etc.) und intuitive Bedienkonzepte sinnvoll und zielgerichtet nutzen, um für den Lerner einen deutlichen Mehrwert für sein individuelles Fremdsprachenlernen im schulischen Kontext zu erzielen?
• Wie lässt sich schulisches Lernen innerhalb von sozialen Netzwerken realisieren?
• Wie lässt sich das Zusammenspiel von verschiedenen Endgeräten (Tablets, Handys, Laptops, Ipods, Handhelds, etc.) organisieren bzw. optimieren?
• Wie lassen sich Individualisierung und Differenzierung ("individuelle Lernpfade", digitale Portfolios) systematisch auf allen Unterrichtsebenen (Texterschließung, Aufgabenformate, Übungsformate, Wortschatzarbeit/ Kollokationsarbeit, language support etc.) gewinnbringend umsetzen?
• Welches Potential haben real-time assessment bzw. instant-feedback?
• Welche Möglichkeiten eröffnen sich für das schulische Lernen durch die Integration von Regelspiel- bzw. Videospielelementen (wie z.B. tutoring, adaptive & interessante Zielsetzungen, Wahlmöglichkeiten bei Entscheidungen, Progressions-Belohnungen, Möglichkeit des Scheiterns und der Wiederaufnahme etc.) in das Lernwerk, bzw. von spielerischen rich media-Elementen (Sound, Grafik, Animation)?

Das Projekt wird flankiert von aktuellen neurodidaktischen Forschungen der Englischdidaktik. Die wissenschaftliche Begleitung des Projekts durch thematisch relevante Dissertationen und anderen Abschlussarbeiten sichert die empirische Fundierung der Projektentwicklung. Parallel dazu wird angedacht, Transfermöglichkeiten der Erkenntnisse, die aus der Projektentwicklung resultieren, für andere Sprach- und Fachbereiche zu prüfen bzw. in Kooperation mit diesen zu treten, um Synergieeffekte und Wechselwirkungen einzuschätzen. Die erste Phase des Projekts - die Entwicklungsphase von verschiedenen Prototypen zur Testreife - beträgt nun ein halbes Jahr, beginnend ab der viertägigen Initiativ- und Kick-off-Konferenz iDidactics Synergy Conference, die Ende April dieses Jahres im griechischen Nei Poroi/Thessaloniki stattfand. Am Ende des zweijährigen Entwicklungsprozesses sollen im Sommer 2013 stehen:

• Einzelne Module zu ausgewählten Aspekten der Vermittlung, Übung, Automatisation und Habitualisierung in der Sprachaufnahme-, Sprachverarbeitungs- oder Sprachanwendungsphase (z.B. Wortschatz, Grammatik, Aussprache, Spiele etc.)
• Aufgaben-, problem- oder interessensorientierte modulbasierte Formate zum Fremdsprachenlernen auf allen Klassen- und Schulstufen.
• Module, Units oder Lehrwerke als Ergänzung oder gezieltem Ersatz von Printmaterialien.
• Units/Module für den bilingualen Sachfachunterricht.
• Verwertbares Know-how für weitere Sprachen.
• Wissenstransfer für andere Bereiche.


Prof. Dr. Heiner Böttger ist an der KU Inhaber der Professur für Didaktik der Englischen Sprache und Literatur. Zu seinen Forschungsgebieten gehören u.a. Legasthenie und Lese-Rechtsschreibschwäche bei Englischlernenden sowie bilingualer Sachfachunterricht.


*


Quelle:
Agora - Magazin der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt
Ausgabe 2/2011, Seite 26-27
Herausgeber: Der Präsident der Katholischen Universität, Prof. Dr. Richard Schenk
Redaktion: Presse- und Öffentlichkeitsreferat der KU, 85071 Eichstätt
Tel.: 08421 / 93-1594 oder -1248, Fax: 08421 / 93-2594
E-Mail: pressestelle@ku-eichstaett.de
Internet: www.ku-eichstaett.de

AGORA erscheint einmal pro Semester und kann kostenlos bezogen werden.


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. Dezember 2011