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SCHULE/303: Orientierung in diffuser Schullandschaft finden (TU Dresden)


Dresdner UniversitätsJournal Nr. 14 vom 21. September 2010

Orientierung in diffuser Schullandschaft finden
"Schulnavigator" hilft Eltern, die richtige Schule für ihre Kinder zu finden

Von Matthias Ritter und Nelly Schmechtig


Für Kinder werden im Alter von neun bzw. zehn Jahren wesentliche Weichen für den weiteren Bildungsweg gestellt. Die Entscheidung für eine weiterführende Schule erfolgt in Deutschland zu einem so frühen Zeitpunkt wie in fast keinem anderen Land der Welt.

Da die Kinder altersbedingt allein noch nicht in der Lage sind, die Tragweite dieser Lebensentscheidung voll einzuschätzen, treten die Eltern als Treuhänder ihrer Kinder auf. Selbst Experten dürfte es schwer fallen, das Entwicklungspotential der einzelnen Neun- bzw. Zehnjährigen adäquat zu diagnostizieren.

Umso schwieriger gestaltet sich die Wahl der Schullaufbahn bzw. einer bestimmten Schule für die Eltern. Auch wenn die Bildungsempfehlung eine bestimmte Schulart nahelegt und die Eltern mit dieser Empfehlung der Grundschule einverstanden sind, bleibt bei der unterschiedlichen Entstehungsgeschichte und der Pluralität der Profile und Programme der einzelnen Schulen die Auswahl einer ganz bestimmten Schule für ihr Kind. Zudem empfiehlt es sich, über weitere Schulen Informationen einzuholen, da der erste Schulwunsch nicht immer realisiert werden kann. Eine insgesamt schwierige Situation für Eltern, die sich dabei gern neben dem Rat der Lehrer auf die Erfahrung anderer Eltern stützen.

Die Sächsische Zeitung, der Landeselternrat und die TU Dresden, die den wissenschaftlichen Part übernommen hat, wollen mit dem Projekt "Schulnavigator" den Eltern im Prozess der Informationssuche und Entscheidungsfindung Unterstützung geben. Die Erfahrungen, die andere Eltern mit der jeweiligen Schule gesammelt haben, spielen hierbei eine wesentliche Rolle - im Zentrum steht eine Elternbefragung gemäß dem Motto "Eltern raten Eltern". In einem ersten Schritt werden die Gymnasien in den Regionen in und um Dresden, Bautzen und Meißen untersucht, bislang beteiligen sich 56 Gymnasien. Ein Team der "Forschungsgruppe Schulevaluation" der TU Dresden mit den Diplom-Soziologen Nelly Schmechtig und Matthias Ritter übernimmt unter Leitung von Prof. Wolfgang Melzer (Fakultät Erziehungswissenschaften) die schulbezogene Datenauswertung.

Einen Hintergrund des Projektes bildet nicht zuletzt die Tatsache, dass es in Deutschland im Gegensatz zu den meisten anderen Industrienationen bisher nicht gelungen ist, einen nationalen Bildungskonsens in Fragen der Schulstruktur herzustellen, im Gegenteil: die Schullandschaft in den 16 Bundesländern wird immer differenzierter und unübersichtlicher. Exemplarisch zu nennen ist hier aktuell auf der einen Seite der Hamburger Schulkonflikt, bei dem sich die Mehrheit gegen eine Ausdehnung der Grundschulzeit entschieden hat; auf der anderen Seite die Einführung einer fünfjährigen Grundschule im Saarland bzw. die Einrichtung von Gemeinschaftsschulen in einigen Bundesländern.

Zu einem "ideologiefreien" Kompromiss könnte die Erfahrung beitragen, dass eine "Schulreform von oben" nur sehr begrenzt wirkungsvoll sein kann und die eigentlichen Akteure, die Lehrer-, Eltern- und Schülerschaft mit eingebunden werden müssen. Dabei treten die Eltern in Vertretung ihrer Kinder als gleichwertiger Partner der Schule auf. Dies ergibt sich aus der Verfassungsrechtsprechung, die sowohl die "staatliche Schulhoheit" und das "natürliche Elternrecht" anerkennt, beide Parteien aber darauf verpflichtet, sich am "Kindeswohl" zu orientieren.

Neben der Schule müssen sich also auch die Eltern bei der Entscheidung für eine weiterführende Schule fragen, ob sie ein realistisches Bild vom Leistungsvermögen ihres Kindes haben und ihnen die notwendige Unterstützung zukommen lassen können und ob die Schule, die für sie erste Priorität besitzt, auch für das eigene Kind die richtige ist.

An dieser Stelle setzt das Projekt "Schulnavigator" mit der Zielsetzung an, Eltern eine umfassende und leicht zugängliche Informationsquelle zu bieten, die es in dieser Form bislang noch nicht gibt. Der Schulnavigator ermöglicht es, sich über mehrere in Frage kommende Gymnasien in der Region zu informieren und Hinweise auf fachliche Schwerpunkte und Angebote einer Schule zu erhalten. So können die Eltern überprüfen, ob das jeweilige "Programm" einer Schule den Talenten ihres Kindes entspricht. Für die abschließende Darstellung der Schulen werden verschiedene Quellen genutzt und zu einer komprimierten Präsentation zusammengefasst. Dazu gehören u. a. Daten zur Schulgröße, Anzahl der Klassen, Schüler und Lehrer, Hinweise auf besondere fachliche Schwerpunkte und Profile und - schwerpunktmäßig - die Erfahrungen, die Eltern mit der jeweiligen Schule gemacht haben.

Das Design der Studie umfasst die schriftliche Befragung möglichst vieler Eltern der ausgewählten Klassenstufen 6, 9 und 11, um zu einem möglichst repräsentativen und umfassenden Abbild der Schule zu gelangen. Inhalte des Fragebogens sind neben den Gründen der Schulwahl, Fragen zur Schulkultur und zur allgemeinen Zufriedenheit mit der Schule, zu besonderen Projekten an der Schule und den Möglichkeiten der Elternpartizipation an der jeweiligen Schule. Eine wichtige Rolle kommt den Schul- und Klassenelternräten zu, die als Multiplikatoren für die Verteilung der Fragebögen zuständig sind. Außerdem besteht die Möglichkeit, den Fragebogen im Internet auszufüllen. Datenschutz wird inallen Phasen des Projektes groß geschrieben.

Während die Auswertung von wissenschaftlicher Seite verantwortet wird, erfolgt die Aufbereitung der Ergebnisse und Darstellung der Profile der einzelnen Schulen in Zusammenarbeit mit professionellen Journalisten, deren Geschäft es ist, komplexe Sachverhalte verständlich und interessant aufzubereiten. Ein Ranking wird es dabei nicht geben, jede Schule hat ihre Stärken und Schwächen, ein spezifisches Profil oder eine pädagogische Philosophie, die für das jeweilige Kind das richtige Angebot darstellen - oder eben auch nicht. Gleichzeitig können kritische Rückmeldungen den Entwicklungsprozess der Einzelschule unterstützen und die Mitarbeit der Eltern fördern. Gelungene Beispiele und Projekte anderer Schulen können zudem Vorbildcharakter für die eigene Schule haben.

Die Ergebnisse des Schulnavigators werden ab November 2010 in der Sächsischen Zeitung veröffentlicht. Projekte, wie diese, haben - neben Grundlagenforschung, Evaluation von Schulen und wissenschaftlicher Begleitung von Modellversuchen - wegen ihres Praxisbezugs, der Möglichkeit des Wissenstransfers und ihres pädagogischen Nutzens für die Eltern und Schulen einen hohen Stellenwert im Selbstverständnis der Forschungsgruppe Schulevaluation.


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Quelle:
Dresdner UniversitätsJournal, 21. Jg., Nr. 14 vom 21.09.2010, S. 7
Herausgeber: Der Rektor der Technischen Universität Dresden
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2010