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KIND/139: "Das kannst du doch eh nicht!" (Leibniz-Journal)


Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft 1/2015

"Das kannst du doch eh nicht!"

von Susanne Hörr


Fremde Sprache, fremdes System. Für Kinder aus Migrantenfamilien stellen deutsche Schulen eine besondere Herausforderung dar. Darüber, ob sie gute Bildungschancen haben, entscheidet aber vor allem ihre soziale Herkunft.


Thilo Sarrazin ist Schuld, dass Ahmad und ich jetzt hier sitzen. Auf dem Fransenteppich seines Kinderzimmers, über uns an der Wand eine goldfarbene, verschnörkelte Sure. Wir haben uns vor vier Jahren bei einem Spielenachmittag kennengelernt. Er war damals neun Jahre alt und auf der Suche nach einer Patin, ich 29 und ziemlich naiv.

Deutschland diskutierte gerade darüber, wie es sich - so unkte Sarrazin - "abschafft". Und ich wollte von der Diskussion über die drohende Verdummung des Landes nichts mehr hören. Deshalb bewarb ich mich bei den "Neuköllner Talenten", einem Programm der Neuköllner Bürgerstiftung, das Kindern mittels Patenschaften helfen möchte, ihr Potenzial zu entfalten. Bei einem Gespräch über das Computerspiel "Super Mario" funkte es. Am Ende des Nachmittags hatte Ahmad eine Patin. Und ich jemanden, den ich mit in meine bildungsbürgerliche Welt nehmen konnte.

Ahmads Geschichte und die seiner Schwestern Maryam, Scherin und der fünf anderen Kinder der Familie Khalil* spielt im Berliner Stadtteil Neukölln. Es geht in ihr um Bildung und Migration. Viele der 15.297.460 Menschen mit sogenanntem Migrationshintergrund in Deutschland könnten sie erzählen. Immer ein bisschen anders, je nach Bildungsstand und Herkunftsland. Und je nachdem, seit wann sie hier sind, woher die Eltern stammen und warum sie kamen.


Die Menschen hinter den Zahlen

Sie sind die Menschen hinter den Zahlen, die Bildungsforscher wie Cornelia Kristen und Cornelia Gresch auswerten. Kristen ist Inhaberin eines Lehrstuhls für Soziologie an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg und wissenschaftliche Leiterin des Arbeitsbereichs "Bildungserwerb von Personen mit Migrationshintergrund im Lebenslauf" am Bamberger Leibniz-Institut für Bildungsverläufe (LIfBi). Gresch untersucht am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) unter anderem ethnische Ungleichheiten im Bildungswesen.

Die Wissenschaftlerinnen durchleuchten riesige Datensätze wie den Mikrozensus und analysieren die Ergebnisse von Schulleistungsstudien wie PISA. Wertvolle Daten für ihre Forschung gewinnen sie auch durch das Nationale Bildungspanel (NEPS), das seit 2014 vom LIfBi durchgeführt wird. Die für Deutschland repräsentative Studie begleitet Bildungsprozesse und Kompetenzentwicklung von 60.000 Menschen über viele Jahre hinweg in verschiedenen Lebensphasen.

Heute auf dem Fransenteppich erzählt mir Ahmad von der Schule. Er geht nicht gerne hin. Der Ton in der Klasse ist rau, die anderen hänseln ihn. Ahmad schaut auf den Boden, eine schwarze Haarsträhne rutscht vor seine dunklen Augen. Er möchte später gerne Ingenieur werden, sagt er. Oder Informatiker, so genau wisse er das noch nicht. Vor vier Jahren hätte ich gesagt, klar, warum nicht. Das war, bevor ich verstanden hatte, was es bedeutet, wenn man von ungleichen Bildungschancen spricht.

Zwischen dem, was Ahmad gerne mal wäre und dem, was er nach momentanem Stand sein kann, liegt eine Kluft. Sie ist gefüllt mit Schwierigkeiten, denen sich viele Menschen mit Migrationshintergrund stellen müssen. Da ist zum Beispiel die Landessprache: Um dem Unterricht folgen zu können, müssen Migrantenkinder sie erst einmal lernen. "Das ist einer der Gründe, warum sie am Ende der Grundschulzeit schlechter abschneiden", sagt Cornelia Gresch vom WZB. In ihrer Dissertation hat sie gezeigt, dass es dabei Unterschiede zwischen den verschiedenen Gruppen gibt. Spätaussiedler etwa haben etwas bessere Noten als türkischstämmige Schüler und erzielen auch in Leistungstests etwas bessere Ergebnisse. Das kann daran liegen, dass sie oder ihre Eltern häufig schon im Herkunftsland Deutsch gesprochen haben. Die Bildungschancen eines Kindes, das betonen Gresch und auch Cornelia Kristen, hängen aber vor allem von seiner sozialen Herkunft ab: dem sogenannten soziökonomischen Status.


Hoher Status, gute Chancen

Schüler mit einem hohen sozioökonomischen Status besuchen im Vergleich zu jenen mit einem niedrigen Status seltener Hauptschulen (7 vs. 34 Prozent), jedoch dreimal so häufig ein Gymnasium (64 vs. 21 Prozent), heißt es auch im Bildungsbericht 2014. Und häufig sind es eben Migranten, die ihren Kindern nicht viel mehr als einen guten Willen bieten können.

Und den haben sie: 28 Prozent der türkischstämmigen Schüler etwa wechseln auf das Gymnasium - obwohl nur 18 Prozent von ihnen hierfür eine Empfehlung erhalten. Dennoch, sagt Cornelia Kristen, höre man Sätze wie "Die wollen halt einfach nicht!" häufig in Deutschland. "Aber das stimmt nicht. Migranten haben häufig eine wesentlich höhere Bildungsaspiration." Wissenschaftler reden in diesem Zusammenhang auch von "Zuwanderungsoptimismus": Im Gegensatz zu Deutschen aus vergleichbaren sozioökonomischen Schichten wollen Migranten oft ihren Status verbessern und wünschen sich deshalb für ihre Kinder eine höhere Bildung.

Auch Ahmads Vater Abdulkader Khalil ist das ein Anliegen. "Ich sage meinen Kindern immer, wie wichtig Bildung ist. Bildung ist Nahrung für das Gehirn, also das, was für den Körper das Essen ist." Diese Sätze fallen regelmäßig, wenn wir uns unterhalten.

Mit seiner Frau sitzen wir im Wohnzimmer auf der beigefarbenen Couch und trinken süßen schwarzen Tee. Im Hintergrund läuft Al Jazeera, es geht um die Lage in Syrien. Dort hat Vater Khalil an der Universität von Damaskus Englisch unterrichtet, bevor er als Kurde mit seiner Familie fliehen musste. "Ohne Uniabschluss kann man nicht gut leben", sagt er. "Leben kann jeder. Aber gut leben - das nicht." Khalil hat so einen Abschluss, aber wegen fehlender Papiere wurde er hier nicht anerkannt. Seine Frau ist nicht zur Schule gegangen. Seit 21 Jahren leben sie in Berlin. Derzeit von Hartz IV.

Bildung und Kapital sind meist eng miteinander verknüpft. Ob ein Kind Erfolg in der Schule hat oder nicht, darüber entscheiden vor allem die sogenannten Bildungsressourcen, die zwischen den Schichten jedoch ungleich verteilt sind. Cornelia Gresch und Cornelia Kristen können einige aufzählen: die bereits erwähnte Kenntnis der Landessprache, das Bildungsniveau der Eltern, finanzielle oder auch intellektuelle Fördermöglichkeiten der Kinder, das Lernumfeld oder schlicht: Wissen - über das deutsche Bildungssystem zum Beispiel.


Bildungsweichen fürs Leben

Die Phase vor dem Wechsel in die Sekundarstufe I in Deutschland ist kritisch. Jetzt werden Bildungsweichen gestellt, nicht nur für das Gymnasium, sondern auch für die weitere Laufbahn. Wer das nicht weiß, verpasst unter Umständen den entscheidenden Moment, den Grundstein für eine solide Bildung seines Kindes zu legen.

"Danach ist es eigentlich gelaufen", sagt Cornelia Gresch vom WZB. "Wechsel zwischen den verschiedenen Schulformen finden dann nur noch selten statt." Das deutsche System werde deshalb immer wieder kritisiert, die Schüler zu früh auf weiterführende Schulen zu verteilen. Wenn die Kinder mit unterschiedlichen Ausgangsvoraussetzungen in die Grundschule kommen, reiche die kurze Zeit nicht aus, um das auszugleichen.


Jedes Kind ein Einzelfall

Im Wohnzimmer der Khalils wurde in letzter Zeit viel diskutiert. Auch Ahmad und seine Schwester Maryam stehen kurz vor dem Wechsel an eine höhere Schule. Die Kinder gehen in die sechste Klasse der Karlsgartengrundschule, Ahmad hat einen Notendurchschnitt von 3,2, Maryam einen von 1,6. Sie würde lieber auf die Leibniz-Oberschule gehen, wo das Niveau höher und der Migrantenanteil niedriger ist. Ahmads Leistungen reichen dafür nicht aus.

Manchmal habe ich mich gefragt, warum er es nicht schafft, zu Maryam aufzuschließen. Die Geschwister leben und lernen unter den gleichen Bedingungen. Sie teilen Eltern, Wohnung und Geschichte - und sehen sich mit denselben Hindernissen konfrontiert. Aber wenn wir in die Bücherei gehen, zieht es Ahmad magisch in die Ecke mit den Computerspielen, während Maryam zwischen den Bücherregalen verschwindet. Ahmad fällt es schwer, sich auf den Unterricht und die Hausaufgaben zu konzentrieren, Maryam ist fokussiert und neugierig auf die Welt. Ihre guten Leistungen scheinen nicht in das Bild zu passen, das in Deutschland wohl viele von Migrantenkindern haben.

Das Beispiel der Geschwister zeigt, wie schwierig es ist, einzelne Schicksale in das komplexe Forschungsfeld "Bildung und Migration" zu pressen. Jedes Kind ist individuell. Quantitative Forschung, wie Cornelia Gresch und Cornelia Kristen sie betreiben, erlaubt es, dennoch aussagekräftige Rückschlüsse über typische Muster und zentrale Bedingungen des Bildungserfolgs zu ziehen.

Vater Abdulkader Khalil hat oft gegrübelt, ob Ahmad es auf einer anderen Schule leichter gehabt hätte. Ob er auf einer mit weniger Migranten besser gefördert worden wäre? Immer wieder haben die Khalils mit dem Gedanken gespielt, in einen anderen Berliner Bezirk zu ziehen, ins wohlhabende Steglitz oder das grüne Zehlendorf zum Beispiel. Am Ende stand immer das Geld: Auch wenn sie gewollt hätten, die Mieten dort wären zu teuer gewesen.


Vereinheitlichung der Leistungen

In der Wissenschaft wird diese Diskussion unter dem Schlagwort "Segregation" geführt. Darunter versteht man die ungleiche Verteilung verschiedener Ethnien über Stadtgebiete und Ortschaften: In Neukölln ist die Segregation besonders stark ausgeprägt, viele Kinder aus sozioökonomisch schwachen Familien gehen hier zur Schule. "In einem Umfeld, wo die Mitschüler im Schnitt schlechtere Leistungen erzielen, lernt auch das einzelne Kind weniger als in einem leistungsstärkeren Umfeld", erklärt Cornelia Kristen. Die Aufgliederung in die verschiedenen Schultypen verstärke diesen Effekt vermutlich noch. "Sie zieht eine Vereinheitlichung der Leistungen innerhalb der verschiedenen Schulformen nach sich."

Ahmads große Schwester Scherin weiß, wovon die Bamberger Bildungsforscherin spricht. "Wir waren fast nur Ausländer in der Schule", erinnert sich die 27-Jährige. Die Familie einer Freundin sei deshalb nach Steglitz gezogen. "Sie spricht heute anders als ich, drückt sich sehr gewählt aus", sagt Scherin. "Wie hätte ich das lernen sollen, bei so vielen Migranten?"


Als Migrant doppelt beweisen

Gerade hat sie ihren Bachelor für "Soziale Arbeit" an der Uni Potsdam abgeschlossen. Einfach war der Weg dorthin nicht. Scherin musste die zweite Klasse wiederholen und auch das Abitur. Ihr NC war zu schlecht, deshalb hat sie sich in ihr Studium eingeklagt. Die Hausarbeiten seien ihr als Nichtmuttersprachlerin schwerer gefallen als den deutschen Kommilitonen. Und noch eine Erfahrung hat sie im Laufe ihrer Bildungslaufbahn gemacht. "Als Migrant musst du dich doppelt beweisen. Wenn dein Name Ali ist, heißt es schnell: Ach, du kannst es doch eh nicht! Selbst wenn du gute Klausuren schreibst."

Scherin würde ihre Schwester Maryam deshalb gerne auf der Leibniz-Oberschule sehen. Sie würde dort gefordert werden, das täte ihr gut. Im Neuköllner Wohnzimmer der Khalils aber ist die Entscheidung gefallen: Maryam und Ahmad sollen auch künftig nicht auf verschiedene Schulen gehen. Vater Abdulkader Khalil hat die Kinder an der Albert-Schweitzer-Schule angemeldet. "Sie liegt im Norden von Neukölln", sagt er. "Und hat einen Migrantenanteil von über 90 Prozent", denke ich.

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Quelle:
Leibniz-Journal - Das Magazin der Leibniz-Gemeinschaft, Nr. 1/2015, Seite 28-31
Herausgeber: Präsident der Leibniz-Gemeinschaft
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veröffentlicht im Schattenblick zum 13. Mai 2015

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