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KIND/102: Frühkindliche Bildung in Dänemark (welt der frau)


welt der frau 12/2011 - Die österreichische Frauenzeitschrift

Frühkindliche Bildung in Dänemark
Wo Entdecken auf dem Lehrplan steht

Von Susanne Sonnleitner


Dänemark kann sich über einen Mangel an ForscherInnen nicht gerade beklagen. Man findet sie vornehmlich in Kindergärten und Vorschulen. Dort lernen die Kleinen früh, selbstständiges Handeln und ihre eigenen Ideen zu verwirklichen. Projektarbeit und Teamwork stehen auf der Tagesordnung. Von Dreijährigen, die mit dem Messer hantieren, und Klassenräumen, die es gar nicht gibt.


Heute Mittag gibt es Apfelhälften, gefüllt mit Butter-Zimt-Masse. Es ist Freitag, der letzte Tag der Apfelprojektwoche der Kindergartengruppe "Cassiopeia". Die rund zwanzig Kinder zwischen zweieinhalb und fünf Jahren haben in den letzten Tagen Unmengen an Äpfeln verdrückt, heute gibt es aber etwas Besonderes. Am Gartentisch in der Vormittagssonne sitzen eine Betreuerin und zwei Kinder. Sie schneiden die Äpfel in Hälften, auch die dreijährige Lilja versucht es mit einem Messer. Etwas ungeschickt, aber mithilfe der Betreuerin schafft sie es dann doch.


Selbst ist das Kind

Eigenständigkeit wird in der Kopenhagener Kindertagesstätte "Galaxen" besonders gefördert. Dazu gehört auch das Arbeiten mit Messer und Schere. "Natürlich helfen wir den Kindern bei Bedarf, kleine Verletzungen kommen dennoch schon mal vor. Wir sehen das als Teil des Lernprozesses", erklärt die Leiterin der "Cassiopeia"-Gruppe Susanne. "Cassiopeia" ist eine Außenstelle von "Galaxen". Jeden Morgen fahren die Kinder mit dem Bus aufs Land hinaus. Fahrtzeit: 45 Minuten. Viele Kopenhagener Kindergärten haben Häuschen in Vororten gekauft, um den Kindern mehr Platz zu bieten. Platz zum Erkunden, wie zum Beispiel auf den zwei riesigen Grundstücken samt Birkenwäldchen. Platz ist aber auch für ein paar Hühner und zwei Hasen. Zwei Pädagoginnen und zwei Assistentinnen teilen die Kinder vor Ort in eine Draußen- und Drinnen-Gruppe. Am Nachmittag wird gewechselt, sodass jeder/jede ein paar Stunden im Garten verbringt. Jeden Tag, bei jedem Wetter.


Lernen nach italienischem Vorbild

Wie in vielen Kindertagesstätten in Dänemark wird auch in "Galaxen" in Anlehnung an die Reggio-Emilia-Pädagogik gelehrt. Das aus Norditalien stammende Konzept beruht auf der Annahme, dass Kinder eigenständige Menschen mit Kompetenzen sind. Die Pädagogen sind lediglich Beobachter und Begleiter. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf Projektarbeit, auch in der Tagesstätte "Galaxen". Das zeigt ein kürzlich abgeschlossenes Projekt: Ein paar Kinder saßen beisammen und dachten über ihr Jahresmotto "Wasser" nach, bis jemand das Wort "Fisch" erwähnte. Das Interesse der anderen war groß, also startete man ein Projekt. Die Gruppe machte einen Ausflug zum Hafen, die Kinder sprachen mit den Fischern, kauften Fisch im Supermarkt und erfanden Märchen zum Thema Fisch. Bis die jungen ProjektteilnehmerInnen genug hatten und das Projekt beendeten. "Es gibt nichts Motivierenderes für Kinder, als zu sehen, dass es ihre eigene Idee ist, die zu einem Ende kommt", meint Jens Pallisgaard, der die Aufsicht über "Galaxen" und drei weitere Einrichtungen hat. Bei dem Fischprojekt arbeiteten ältere Kinder aus der Krabbelstube und jüngere Kinder aus dem Kindergarten zusammen. Das geht deshalb, weil "Galaxen" eine von vielen integrierten Tagesstätten in Dänemark ist, die Krabbelstube und Kindergarten unter einem Dach vereinen. Insgesamt 106 Kinder werden hier betreut, wobei die Ein- bis Dreijährigen die Krabbelstube besuchen. Ab dem Alter von drei Jahren kommen sie in den Kindergarten, der entweder nur eine Tür weiter oder auf dem Land ist. "Der Vorteil dieses Systems ist", so Jens Pallisgaard, "dass wir individuell auf das Kind eingehen können. Wenn eines mit zwei Jahren und drei Monaten schon reif genug ist, kann es in den Kindergarten wechseln. Umgekehrt müssen wir Kinder nicht drängen, wenn sie mit drei noch nicht so weit sind."


Ein Buch als Begleiter

Nachdem dänische Kinder großteils ganztägig extern betreut werden, legt "Galaxen" Wert darauf, eine starke Verbindung zwischen dem Zuhause und der Institution zu schaffen. In der Reggio-Emilia-Pädagogik wird das "Dokumentation" genannt. Für jedes Kind wird mit Eintritt in die Tagesstätte ein Buch angelegt, das von den Eltern und den PädagogInnen gemeinsam mit dem Kind geführt wird. Es enthält wichtige Ereignisse und Entwicklungsschritte des Kindes. Ein Stammbaum stellt die Familienmitglieder vor, selbst die Cousine ist mit einem Foto vertreten. Diese Instrumente sollen auch zum Kommunizieren anregen. "Kinder tun sich einfach leichter, über ihr Leben zu sprechen, wenn sie Fotos in der Hand haben", sagt Mette Krab, die Leiterin von "Galaxen".


Was auf dem Lehrplan steht

In den Lehrplänen dänischer Kinderkrippen und -gärten geht es nicht vordergründig um schulische Bildung. So sind etwa Fremdsprachen in Kindergärten kein Thema. Vielmehr werden soziales Verhalten und Persönlichkeitsbildung gefördert. Auch Stig Lund, Berater bei BUPL, einer der zwei Pädagogengewerkschaften in Dänemark, sieht das so:

"Die nordischen Länder haben ein umfassendes Verständnis von frühkindlicher Förderung. Es geht nicht nur um Ausbildung des Intellekts, sondern darum, Kreativität in einem Kind zu wecken." "Dennoch beobachten wir, wie sich in Dänemark Bildung immer mehr nach vorne, in Kindergärten und Vorschulen, verlagert", so Stig Lund. Den Grund sieht er in der rechtsliberalen Politik von Ministerpräsident Rasmussen, der bis Herbst 2011 das Land zehn Jahre lang geführt und diese Entwicklung vorangetrieben hat.

PädagogInnen, die in Krabbelstuben, Kindergärten und Vorschulen unterrichten, besitzen den akademischen Abschluss "Bachelor der Sozialerziehung". Das Studium dauert dreieinhalb Jahre. "Obwohl LehrerInnen nur um ein halbes Jahr länger studieren, klafft die Einkommensschere - speziell nach 10 bis 15 Berufsjahren - unverhältnismäßig auseinander", sagt Stig Lund. Auch in Dänemark gilt: Je jünger das Kind, desto geringer das Einkommen.


Der "dritte Erzieher"

In den Kindergärten und Schulen des Landes taucht zunehmend ein "dritter" Pädagoge auf: der Raum. Er hat - neben LehrerInnen und MitschülerInnen - die Aufgabe, das Aktivwerden zu fördern und soll Lern- und Rückzugsbereich vereinen. "Galaxen" hat dazu ein Atelier eingerichtet. Hier wird nichts weggeräumt, im Gegenteil, der bunte Mix aus Farben, Pinseln und Leinwänden soll inspirieren.

Über den Raum als dritten Erzieher hat sich auch die Hellerup-Schule im Vorort Gentofte Gedanken gemacht. Die Gesamtschule, die 650 SchülerInnen besuchen, kommt ganz ohne Klassenräume aus. Stattdessen gibt es sechseckige Pavillons, Rundtische, Chill-out-Zonen und Gartenhütten, in denen gelernt und gelehrt wird. Warum so unkonventionell? Weil nicht für jedes Kind die gleiche Lernsituation optimal ist und sich nicht jedes Thema für jeden Raum eignet. Auch drei Vorschulklassen - in Dänemark verpflichtend - gibt es hier. Obwohl lediglich das Lernen von Buchstaben, nicht aber das Lesen ganzer Wörter auf dem Lehrplan steht, können es viele VorschülerInnen dennoch. Grund dafür sind die fächer- und klassenübergreifenden Projekte, bei denen die Kleinen interdisziplinär und von den Älteren lernen. Zum Beispiel wenn DrittklässlerInnen Fisch sezieren und die VorschülerInnen dabei zusehen.

In der Hellerup-Schule lernen die Kinder früh, Rücksicht aufeinander zu nehmen, denn das offene Raumkonzept lässt kein Lärmen zu. Bei Konzentrationsschwierigkeiten haben die Kinder aber die Möglichkeit, Kopfhörer zu verwenden - auf Wunsch mit Musikeinspielung.

Nicht für jedes Kind ist diese Art von Schule geeignet. Sie erfordert Selbstdisziplin, Eigenständigkeit und rücksichtsvollen Umgang miteinander. Und genau das ist es, was auch den Jüngsten in den Krabbelstuben und Kindergärten des Landes mitgegeben wird. Den Kindern etwas zuzutrauen, anstatt den Weg vorzugeben.


Dieser Bericht wurde im Rahmen von "eurotours 2011" erstellt. "eurotours" ist ein Projekt der Europapartnerschaft, finanziert aus Gemeinschaftsmitteln der EU.


KINDERBETREUUNG IN DÄNEMARK

87% der Null- bis Zweijährigen und 98% der Drei- bis Fünfjährigen sind in einer Krabbelstube oder in einem Kindergarten untergebracht. Anspruch auf einen Betreuungsplatz hat jedes Kind ab 6 Monaten. Die Gemeinden sind dafür verantwortlich, genügend Plätze sicherzustellen. Die Kosten für öffentliche Betreuungseinrichtungen werden teils vom Staat, teils von den Eltern getragen. Für Null- bis Zweijährige beläuft sich der Elternbeitrag auf ca. 420,00 Euro, für Drei- bis Fünfjährige auf 280,00 Euro.


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Quelle:
welt der frau - Die österreichische Frauenzeitschrift,
Dezember 2011, Seite 14-17
mit freundlicher Genehmigung der Redaktion und der Autorin
Herausgeberin: Katholische Frauenbewegung Österreichs
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veröffentlicht im Schattenblick zum 11. Januar 2012