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KIND/082: Kollektive Früherziehung und individuelle Bildungsbegleitung (Unimagazin Hannover)


Unimagazin Hannover - Ausgabe 03/04 - 2009
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.

Kollektive Früherziehung und individuelle Bildungsbegleitung

Entwicklungsperspektiven für ein gesamtdeutsches Krippensystem


Der Ausbau der bedarfsgerechten Kinderbetreuung mit differenzierten Bildungsangeboten für Kinder unter drei Jahren besitzt derzeit bundespolitische Priorität. Dies geht jedoch einher mit kontroversen Diskussionen um mögliche negative Konsequenzen für die Entwicklung der Kinder durch die frühe Trennung von der Familie. Ein Wissenschaftler des Instituts für Sonderpädagogik vergleicht die Situation ostdeutscher Kindertageseinrichtungen mit westdeutschen und erörtert positive und negative Aspekte der Krippenerziehung der DDR im Hinblick auf ein mögliches gesamtdeutsches Krippensystem.


Im Rahmen der gesellschaftspolitischen Forderung nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf soll das am 6. Dezember 2008 in Kraft getretene Kinderförderungsgesetz (KiföG) bis zum Jahr 2013 jedem Kind mit Vollendung des ersten Lebensjahres einen Rechtsanspruch auf die Förderung in einer Kindertageseinrichtung (in der Krippe) oder in der Tagespflege (bei einer Tagesmutter) gewähren. In den ostdeutschen Bundesländern ist dieses Ziel längst erreicht. So stellt das als "Baby-PISA" bekannt gewordene Early Childhood Policy Review der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) [1] dem Osten Deutschlands diesbezüglich ein hervorragendes Zeugnis aus: Für 37 Prozent der Kinder unter drei Jahren steht hier ein Betreuungsplatz zur Verfügung, in Westdeutschland liegt die Besuchsquote von 7 Prozent dagegen noch weit unter dem angestrebten Ziel der Bundesregierung. Der rasante Ausbau der Tagesbetreuung vernachlässigt jedoch weitgehend eine notwendige Diskussion um die Gestaltung der Betreuungsqualität, die einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung von Kleinkindern nehmen kann. Die kritische Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen aus Forschung und Praxis der Krippenerziehung in der DDR bietet in diesem Zusammenhang Ansätze für eine präventiv ausgerichtete Fremdbetreuung in der Bundesrepublik und kann gleichzeitig als Warnung vor politischem Mengendenken verstanden werden.


Fremdbetreuung im öffentlichen Kreuzfeuer

Die Grundlage für eine erfolgreiche Entwicklung wird in den ersten Lebensjahren gelegt. Die Anregungen, die ein Kleinkind in seiner Umwelt erhält, entscheiden darüber, ob und wie es seine Potenziale entwickeln kann. In den ersten Jahren kommt es darauf an, die Lernmotivation des Kindes zu erhalten und zu fördern. Zwar wird die Basis für eine gelingende Bildungskarriere in der Familie bereitgestellt, es besteht jedoch die bildungspolitische Hoffnung, dass herkunftsbedingte Benachteiligungen am wirksamsten in frühen Entwicklungsphasen durch eine Betreuung außerhalb der Familie kompensiert werden können. Die Bandbreite der Diskussion um eine Fremdbetreuung von Kindern unter drei Jahren ist jedoch groß: Während davor gewarnt wird, dass der Besuch einer Krippe aufgrund der frühen Trennung von der Mutter dem Aufbau einer sicheren Bindung schade, besteht auf der anderen Seite die Überzeugung, dass nicht die Quantität sondern die Qualität der Interaktion zwischen Eltern und Kind entscheidend für die Entwicklung der Kinder sei. Einerseits wird frühe Fremdbetreuung in Zusammenhang mit späterem Schulversagen und Verhaltensaufälligkeiten gebracht, andererseits erhöhe der Besuch einer Krippe sogar die Chance auf das Abitur [2]. Jenseits der Diskussion um Rabeneltern und volkswirtschaftlichen Nutzen muss jedoch deutlich sein, dass der Besuch einer Krippe keine Notlösung darstellen darf, sondern als Bildungschance verstanden werden sollte. So kann die familienergänzende Betreuung sich dann positiv auf die Entwicklung auswirken, sofern sie ein qualitativ hochwertiges Angebot darstellt, welches die Bedürfnisse der Kinder nicht vernachlässigt.


Krippenerziehung in der DDR

Die Auswirkung eines Krippenbesuchs auf die physisch-psychische Entwicklung von Kindern kann auf der Grundlage biografischer [3] und historischer [4] Analysen der in Europa einmaligen Situation einer fast vollständigen staatlichen institutionellen Fremdbetreuung der Kleinkinder erfolgen. Der gesetzliche Rahmen der Sozial-, Familien- und Gesundheitspolitik der DDR sah die Erziehung von Kindern und Jugendlichen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe an. Als eine der effektivsten politischen Maßnahmen wird dabei der flächendeckende Ausbau von Kinderkrippen beschrieben. Im Gegensatz zur Politik der Bundesrepublik, die üblicherweise der Mutter die primäre Erziehungs- und Betreuungsaufgabe zukommen ließ, hatte die Krippenerziehung neben der Vermittlung ideologischer Werte insbesondere die Funktion, die Erwerbstätigkeit von Müttern zu unterstützen [5]. So waren aufgrund der in der Verfassung garantierten Rechte im Jahr 1989 über 89 Prozent der Frauen im erwerbsfähigen Alter berufstätig oder befanden sich in einer Ausbildung.

Die inhaltliche Ausgestaltung der Krippenerziehung und die damit verbundenen Folgen für die Entwicklung der Kinder werden in der Literatur kontrovers wiedergegeben. So berichtet unter anderem Niebsch von einer gut vorbereiteten Übergangsphase von der Familie in die Einrichtungen, die sich durch enge Abstimmung zwischen Eltern und Erzieherinnen über die Persönlichkeit des Kindes und einer Dokumentation der gesundheitlichen Entwicklung bis ins Schulalter hinein kennzeichnete. Israel und Kerz-Rühling verweisen jedoch auf die Gefahren für die psychische Entwicklung der Kinder im zum Zeitpunkt der Wende dichtesten Krippennetz Europas, indem sie auf die Erkenntnisse der Bindungstheorie von Bowlby und die Erfahrungen aus New Yorker Kinderheimen verweisen. In der konzeptionellen Entwicklung der Kinderkrippen in der DDR spielten diese jedoch eine untergeordnete Rolle, so dass teilweise traumatische Trennungserfahrungen der Kinder mit erheblichen Folgeerscheinungen in Kauf genommen wurden. [6]

Der Tagesablauf in einer Krippe richtete sich nach den Bedürfnissen der erwerbstätigen Eltern, die Betreuung konnte entsprechend in der Zeit von etwa 6 Uhr bis 18 Uhr, im Bedarfsfall auch am Wochenende erfolgen. Zwar bestand keine Pflicht zur Annahme des Krippenangebots, eine häusliche Betreuung war für die zum großen Teil vollerwerbstätige Mütter jedoch nicht realistisch [7]. Das einheitliche Erziehungsprogramm als "theoretisches Rüstzeug für die erste Stufe des einheitlichen sozialistischen Bildungswesens" [8] war dem Ministerium für Gesundheitswesen untergeordnet und erfuhr im Verlauf seiner Ausgestaltung eine immer differenzierte Prägung. So wurden detaillierte Leitfäden in Krippen entworfen, die dem staatlichen Erziehungsauftrag folgten und genaue methodische und organisatorische Vorgaben für die pädagogische Umsetzung der Ziele von erzieherischen und pflegerischen bis in die Alltagshandlungen hinein strukturierten. Die Entwicklungsschritte der Kinder wurden minutiös dokumentiert und hinsichtlich der im Beschäftigungsplan formulierten Zielsetzungen überprüft. In der Folge führte dies zu einer zunehmenden Verschulung der Arbeit in den Krippen.

Die wissenschaftliche Begleitung der Krippenerziehung zur "Erforschung der Wechselwirkung von Gesundheit und Entwicklung" [9] wurde federführend über vier Jahrzehnte von der Ärztin Eva Schmidt-Kolmer geprägt. Aus heutiger Sicht kann ihre Forschungsperspektive im Verständnis der Identifikation von abweichender Entwicklung als überholt und defizitär beschrieben werden, auch wird die Bedeutung der frühen Trennung und die damit verbundene Belastung für Mutter und Kind größtenteils vernachlässigt. Für den aktuellen Ausbau von Kindertageseinrichtungen können die Erfahrungen aus Forschung und Praxis der Krippenerziehung jedoch zur Versachlichung einer emotional geführten Diskussion einen wertvollen Beitrag leisten. In der gegenwärtigen Debatte um die Vor- und Nachteile der ostdeutschen Krippenerziehung lassen sich ausgewogene Analysen jedoch vermissen. Daher sollen im Folgenden einige Perspektiven für die institutionelle Bildung, Betreuung und Erziehung für Kinder unter drei Jahren formuliert werden.


Die Wende - Auch in der Krippenerziehung?

Orientierungspläne für Bildung und Erziehung im Vorschulalter sind unverzichtbar, um zu einer größeren Klarheit beizutragen, was unter Bildungsprozessen im Kindergartenalter oder in der Kinderkrippe verstanden werden soll. Angesichts des massiven Ausbaus von Kindertageseinrichtungen besteht aber die Gefahr, dass die Qualität pädagogischer Prozesse zugunsten der Erfüllung quantitativer Vorgaben vernachlässigt wird. Aktuelle Kenntnisse aus der Säuglingsforschung über die frühen Bildungsprozesse haben darüber hinaus noch keineswegs überall Eingang in Aus- und Fortbildung pädagogischer Fachkräfte oder in die Arbeit in den Kindertageseinrichtungen gefunden. In der alltäglichen Praxis scheint sich derzeit unter dem Leistungsdruck der internationalen Schulleistungsvergleiche vielmehr ein Vertrauen auf quantifizierbare Erziehungs- und Bildungsprogramme (zum Beispiel zur Sprachförderung) durchzusetzen, ohne dabei über Möglichkeiten nachzudenken, wie der Alltag im Sinne der Bedürfnisse und Bildung der Kinder gestaltet und modifiziert werden kann. Die Entlastung der Betreuungspersonen, in der Regel die Mütter, kann als entwicklungsförderlich betrachtet werden. Zugleich ist es aber nötig, in der Tagesbetreuung der Kinder ein qualitativ hochwertiges Angebot bereit zu stellen, da die Förderung der Kinder für ihre Mütter einen weitaus höheren Stellenwert hat als die eigene Entlastung. Dazu gehört vor allem die behutsame Gestaltung der Eingewöhnungsphase, die den Übergang von der Familie in die Betreuung erleichtern soll.

Negative Folgen der Krippenerziehung lassen sich zusammenfassend nicht in der Betreuungsform an sich begründen, sondern sind im zu frühen Beginn, der zu langen Dauer sowie einer unzureichenden und instabilen Personalausstattung der Einrichtung zu verorten [10]. Frühkindliche Bildung sollte sich daher an einem Bildungsverständnis orientieren, das auf die Eigentätigkeit und die individuellen Bedürfnisse des Kindes eingeht: Das Kind wird verstanden als Akteur seines Lernens, nicht als Objekt der gesellschaftlichen Bildungsbemühungen.


Dr. Timm Albers Jahrgang 1974, arbeitet seit 2009 als Akademischer Rat am Institut für Sonderpädagogik der Philosophischen Fakultät an der Leibniz Universität Hannover. Kontakt:
Timm.albers@ifs.phil.uni-hannover.de


Literatur

• Bertelsmann-Stiftung (2008).

• BMFSFJ (2009). Gute Kinderbetreuung. Berlin. Im Internet unter: http://www.bmfsfj.de/bmfsfj/generator/BMFSFJ/Kinder-und- Jugend/kinderbetreuung.html [12.05.2009]

• Blank-Mathieu, M. (1998). Alte Bundesländer, neue Bundesländer. In: Handbuch für ErzieherInnen, 23 (ohne Seitenzahl)

• DJI (Hrsg.) (2004). OECD Early Childhood Policy Review 2001-2004. Hintergrundbericht Deutschland. München: DJI

• Hank, K., Tillmann, K., Wagner, Gert G. (2001). Außerhäusliche Kinderbetreuung in Ostdeutschland vor und nach der Wiedervereinigung. Ein Vergleich mit Westdeutschland in den Jahren 1990-1999. MPIDR WORKING PAPER WP 2001-003. Rostock: MPIDR

• Israel, A. & Kerz-Rühling, I. (Hrsg.) (2008). Krippenkinder in der DDR. Frühe Kindheitserfahrungen und ihre Folgen für die Persönlichkeitsentwicklung und Gesundheit. Frankfurt/Main: Brandes & Apsel

• Moer, L. (2007). Themenwoche Kinderbetreuung: Wie die DDR ihre Kinder betreute. Im Internet unter: http://mephisto976. uni-leipzig.de/alt/modules.php?name=News&file=article&sid=20386 [12.05.2009]

• Niebsch, G., Grosch, C., Boßdorf, U., Graehn-Baumann, G. (2007). Gesundheit, Entwicklung und Erziehung in der frühen Kindheit. Wissenschaft und Praxis der Kinderbetreuung in der DDR. Frankfurt/M.: Peter Lang

• Scheerer, A.-K. (2009). Krippenbetreuung als ambivalentes Unternehmen. In: Psychoanalyse Aktuell. Online-Zeitschrift der Deutschen Psychoanalytischen Vereinigung DPV. Im Internet unter: http://www.psychoanalyseaktuell.de/kinder/fremdbetreuung.html


Anmerkungen

[1] vgl. DJI 2004
[2] vgl. Bertelsmann-Stiftung 2008
[3] vgl. Israel & Kerz-Rühling 2008
[4] vgl. Niebsch et al. 2007
[5] vgl. Hank et al. 2001
[6] ebd.
[7] vgl. Hank et al. 2001
[8] Schmidt-Kolmer 1968 zit. nach Israel & Kerz Rühling 2008, 19.
[9] Niebsch et al. 2007, 27


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Quelle:
Unimagazin Hannover, Ausgabe 03/04 - 2009, Seite 26-28
Forschungsmagazin der Leibniz Universität Hannover
Mitteilungen des Freundeskreises der Universität Hannover e.V.
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veröffentlicht im Schattenblick zum 19. Februar 2010