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FRAGEN/009: Professorin Nele McElvany zum Stand der empirischen Bildungsforschung in Deutschland (idw)


Technische Universität Dortmund - 22.08.2016

"Es geht uns darum, ein möglichst realistisches Bild zu zeichnen: Wo ist Verbesserungspotenzial?"


Prof. Nele McElvany ist geschäftsführende Direktorin des Instituts für Schulentwicklungsforschung (IFS) der TU Dortmund. An der renommierten Forschungseinrichtung entstehen - neben zahlreichen anderen Untersuchungen - die deutschen Teile der internationalen Vergleichsstudien von Schülerleistungen IGLU und TIMSS. McElvany wurde jetzt in ihrem Amt als geschäftsführende Direktorin des IFS bestätigt. Das ist Anlass, mit ihr über den Stand der empirischen Bildungsforschung in Deutschland zu sprechen.


Die Botschaften der empirischen Bildungsforschung waren in der Vergangenheit nicht immer erfreulich für die Schulen. Spüren Sie eine Abwehrhaltung seitens der Lehrerschaft?

McElvany: Nein, im Gegenteil. Die Reaktionen auf unsere Forschung sind überwiegend positiv. Bei meiner Arbeitsgruppe steht in vielen Studien die Lesekompetenz im Mittelpunkt - die Brisanz ist allen klar. Die wissenschaftliche Arbeit ist hier relativ nah an dem, wo in der Schule der Schuh drückt. Unsere Studien zur Messung und Förderung von Lesekompetenz werden von den Lehrkräften, mit denen wir zusammenarbeiten, mit großem Interesse aufgenommen. Sie erwarten von uns Rückmeldungen über ihre Klassen und bekommen sie auch. Diagnostik und Förderung gehören eben zusammen.


Wo steht die empirische Bildungsforschung heute - 16 Jahre nach der ersten PISA-Studie?

McElvany: Seit PISA 2000 hat sich viel getan. Es geht nicht mehr allein darum, Schülerleistungen zu messen. Die Studien sind viel differenzierter geworden, es gibt eine große Vielfalt, gefragt wird nach Lehrerkompetenzen, Unterrichtsqualität, sinnvollen Interventionen - das Bild ist bunter geworden. Hinter den Large-Scale-Studien, also PISA, TIMSS und IGLU, standen früher Fragezeichen. Wie sinnvoll ist es, Schülerleistungen alle paar Jahre wieder zu messen? Heute sehe ich dafür und für die anderen Formate wie Längsschnittstudien oder experimentelle Interventionsstudien eine breite Akzeptanz. Viele Kolleginnen und Kollegen in der schulischen Praxis oder Bildungsadministration wollen wissen, was die Empirie, die Datenlage, zu bestimmten pädagogischen Fragen und Herausforderungen zu sagen hat, um darauf aufbauend Entscheidungen zu treffen. Empirische Bildungsforschung ist das Fundament für die Schulentwicklung.


Und wofür steht das IFS?

McElvany: Das IFS konzentriert sich auf den schulischen Kontext - auf allen Ebenen: vom individuellen Schüler oder der individuellen Schülerin über die sozialen Voraussetzungen der Lernenden bis hin zu den Lernprozessen. Wir betrachten die Unterrichtsqualität, Lehrerkompetenzen, das Schulleitungshandeln und schließlich das ganze Schulsystem. Wir möchten mit dem IFS die Erkenntnisse aus Laborforschung zu grundlegenden Prozessen und Mechanismen zusammenbringen mit der angewandten Feldforschung. Und unser Ansatz ist keineswegs nur ein deskriptiver und erklärender - wir wollen letztlich mit unseren Erkenntnissen dazu beitragen, dass der Schulalltag optimiert werden kann. Es ist ja nicht unsere Aufgabe, in der Praxis zu arbeiten - dafür sind die Lehrerinnen und Lehrer da -, aber wir möchten mit unserer Forschung praxisrelevant sein. Es geht uns darum, ein möglichst realistisches Bild zu zeichnen: Wo ist welches Verbesserungspotenzial? Dabei geht es häufig auch um die Frage: Sind unsere Ergebnisse implementierbar? Es macht wenig Sinn, Szenarien zu konstruieren, die nicht umsetzbar sind. Wichtig ist uns neben einem interdisziplinären Ansatz auch der internationale Kontext. Unsere Forschung soll über Deutschland hinaus anschlussfähig sein.


Ende des Jahres wird, neben PISA, die neue TIMS-Studie veröffentlicht, deren deutscher Teil gerade am IFS entsteht. Brauchen wir die wirklich noch? Wissen wir nicht längst, woran es im Schulsystem hapert?

McElvany: Es wäre sehr problematisch, wenn wir keine weitere der Large-Scale-Studien hätten. Wir würden den internationalen Vergleichsrahmen verlieren und die deutsche Bildungsforschung würde sich methodisch viel schlechter weiterentwickeln können. Wir würden in dem Bereich den Anschluss verlieren. Wichtiger aber wohl noch: Wir würden nicht mehr erkennen, was im deutschen Schulsystem passiert. Wenn wir nur mal bei PISA Rückschau halten, dann lassen sich doch Entwicklungslinien ausmachen. Es ergeben sich Trendanalysen für das Bildungssystem. Das ist ein großer Erkenntnisschatz, darauf können wir doch nicht ernsthaft verzichten wollen.


Was hat sich denn seit der ersten PISA-Studie in Deutschlands Schulen getan?

McElvany: Wir haben mit PISA ein breites Bewusstsein aller dafür entwickelt, dass Lesekompetenz die Grundlage aller Fächer ist. Das ist ein großes Verdienst. Zudem haben wir den Fokus auf Kinder mit Migrationshintergrund gerichtet - was uns jetzt im Zusammenhang mit den Flüchtlingskindern zugutekommt. Auch wenn wir sicher noch nicht sagten können: Wir haben alle Konzepte beisammen, so beginnen wir jetzt doch nicht bei null. Außerdem ist dank PISA der große Zusammenhang zwischen Bildungserfolg und sozialem Hintergrund der Schülerinnen und Schüler offenkundig geworden. Hinter diese Erkenntnis gibt es keinen Schritt mehr zurück, und es sind ja auch erste Verbesserungen erkennbar. Allerdings wird uns das Thema noch lange begleiten und uns fehlen gerade in dem Bereich noch Studien, die wirksame und implementierbare Interventionskonzepte untersuchen.


Aber reduzieren die großen Bildungsstudien Schülerinnen und Schüler nicht auf ihre Lesekompetenz und ein paar Mathe- und Naturwissenschaftskenntnisse?

McElvany: Vorrangig die Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern zu messen, macht schon Sinn. Das ist eine zentrale Schlüsselkompetenz. Wer nicht lesen kann, ist nicht nur in Deutsch schlecht, sondern kann auch in anderen Fächern nicht erfolgreich sein. Aber natürlich ist Bildung mehr als Lesekompetenz.


Weitere Informationen unter:
http://www.ifs.tu-dortmund.de/cms/de/home/

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution12

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Technische Universität Dortmund, Martin Rothenberg, 22.08.2016
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 24. August 2016

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