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ERWACHSEN/043: Realitätsverändernde Bildungsprozesse (Frauensolidarität)


Frauensolidarität - Nr. 103, 1/08

Realitätsverändernde Bildungsprozesse
Politische Bildungsarbeit im autonomen Migrantinnen-Zentrum maiz

Von Rubia Salgado


Bildungsarbeit mit Migrantinnen stellt eine der ersten und grundlegendsten Aktivitäten des in Linz ansässigen Vereins maiz dar. Sie wurde von Beginn an als "politische Bildungsarbeit" benannt, konzipiert und durchgeführt. Hier werden Prozesse in Gang gesetzt, die eine Reflexion zu Politik und Gesellschaft beinhalten und das Ziel verfolgen, kritisches Bewusstsein und Mitgestaltung zu fördern.


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Die Arbeit im Bildungsbereich von maiz wird von folgenden zentralen Grundsätzen geleitet: Wir leisten politische Bewusstseinsbildung und keine karitative Arbeit. Wir fördern Subjekte - nicht Klientinnen oder Objekte. Bildung ist immer politisch. Sie kann jedoch den Status quo bestätigen oder ihn infrage stellen. Bildungsprozesse werden in maiz als realitätsverändernd verstanden.

Sprache wird nicht nur als Kommunikationsmittel verstanden, sondern auch als Prozess der Konstruktion von Bedeutungen. Im Gegensatz zu einer Position, die lernende Migrantinnen als Personen einstuft, die an Orientierungs- und Informationsdefiziten leiden, werden wir vom Prinzip der Anerkennung, der Aufwertung und der Erweiterung des Wissens und der Kompetenzen der beteiligten Teilnehmerinnen geleitet.

Der Lernprozess geschieht weder durch ausschließliche Vermittlung von Wissen und Informationen noch anhand von Trainingssettings. Er gestaltet sich vielmehr im Rahmen einer inhaltlichen Auseinandersetzung mit den für die jeweiligen Kurse relevanten Themen.


Dialogisches Prinzip

Wir orientieren uns an einem dialogischen Prinzip: In Einklang mit den Ansätzen der "Pädagogik der Unterdrückten" verstehen wir Dialog als ein Treffen von Subjekten, die sich mittels Reflexion und Praxis an die Welt wenden, um sie zu verändern. Das Bewusstsein und die Reflexion über die gesellschaftliche Position der beteiligten Personen sowie die Thematisierung des Machtgefälles zwischen hegemonialen und ausgegrenzten Gruppen sind sowohl Bedingung als auch Ergebnis des dialogischen und antirassistischen Bildungsprozesses.

Im Prozess der politischen Bildungsarbeit ist eine Spannung zwischen zwei Dimensionen zu erkennen: einerseits sollen die Kursteilnehmerinnen den Bildungsprozess ausgehend von ihren jeweiligen gesellschaftlichen Positionen, von ihrem spezifischen Wissen, ihren Geschichten, Erfahrungen, Kulturen gestalten; andererseits sollen sie sich auch die Codes, Fertigkeiten und Kulturen der Dominanzgesellschaft aneignen. In einem kritischen Bildungsprozess geht es nicht um die Bevorzugung einer dieser Dimensionen, sondern um die Spannung zwischen beiden. Die Aufgabe der Lehrerinnen besteht darin, einen Prozess zu ermöglichen, um die verschiedenen Spannungen als solche zu erkennen, ihre Entstehung zu verstehen und Formen zu suchen und zu erfinden, um mit ihnen umzugehen.

Empowerment wird in maiz als politische Strategie verstanden, die das Ziel struktureller Transformation verfolgt. Dies impliziert eine Auffassung von Empowerment, wonach sowohl eine Transformation des Individuums als auch der gesellschaftlichen Verhältnisse, der sozialen und kulturellen Normen und der Beziehungen zwischen den Geschlechtern beabsichtigt wird. Im Gegensatz zu einer Auffassung von Empowerment, die sich auf die Lösung der Problemsituation durch die Aktivierung von individuellen Potenzialen konzentriert, betrachten wir die Förderung der Auseinandersetzung mit der Frage nach den Problemursachen als wesentlichen Teil von Empowermentprozessen.


Kritik an "interkultureller Pädagogik"

Eine interkulturelle Perspektive manifestiert sich in unserer Bildungsarbeit vor allem als didaktische Aufarbeitung bestimmter Themen, sie ist aber nur eine von mehreren Ansätzen in unseren Kursen. Eine vordergründige Anwendung der interkulturellen Perspektive würde unseren Grundsätzen nicht entsprechen, denn eine interkulturelle Pädagogik priorisiert "Kultur" als die zentrale Differenzdimension.

Die ausschließliche kulturelle Betrachtung der Kursteilnehmerinnen und der mit Migration verbundenen Phänomene würde eine Einengung bedeuten und folglich eine Beschäftigung mit jenen Zugehörigkeitsordnungen, die entlang unterschiedlicher Differenzlinien entstehen (wie Nationalität, Ethnizität, Geschlecht, Alter, Religion, Klasse/Sozialstatus, Besitz), nicht ermöglichen. Die große Herausforderung besteht darin, im Rahmen der Bildungsarbeit diese Ordnungen nicht zu reproduzieren und zu zementieren, sondern sie zu reflektieren und zu problematisieren.

Die Arbeit im Bildungsbereich von maiz richtet sich in erster Linie an Migrantinnen, aber auch an jugendliche MigrantInnen, die bei uns die Möglichkeit haben, einen Lehrgang zur Vorbereitung für den Hauptschulabschluss zu absolvieren. Das Bewusstsein und die Reflexion über die gesellschaftliche Position der beteiligten Personen sowie die Thematisierung des Machtgefälles zwischen hegemonialen und ausgegrenzten Gruppen sind sowohl Bedingung als auch Ergebnis des dialogischen und antirassistischen Bildungsprozesses und spiegeln sich in allen Angeboten von maiz wider.


Deutschkurse

Die Teilnehmerinnen unserer Deutsch- und Alphabetisierungskurse werden sowohl sprachlich als auch soziokulturell auf die Erfordernisse des Alltags sowie des Arbeitsmarktes vorbereitet und bei diesen begleitet. Im Rahmen der Kurse werden im Sinn einer politischen Bildungsarbeit gesellschaftlich-politische Themen bearbeitet und eine kritische Auseinandersetzung mit der Migrationspolitik in Österreich sowie mit der Situation in den Herkunftsländern, mit den (Hinter-)Gründen, Formen und Bedingungen der Frauenmigration geführt. Auch die Situation als Migrantin in Österreich bildet einen Schwerpunkt dieses Lernprozesses: Informationen bezüglich ihrer Rechte und ihrer "Nicht-Rechte" werden erkundigt, vermittelt, diskutiert. Strategien der Ermächtigung und der Partizipation sowie die Fähigkeit zur Mutmaßung einer anderen Wirklichkeit, die zur Veränderung und Verbesserung der Situationen der Migrantinnen beitragen kann, werden in einem dialogischen Prozess gefördert.


Selbstorganisierte Bildung

Das Kursprogramm bei maiz beinhaltet u.a. PreQual, ein von uns konzipiertes Pilotprojekt im Rahmen des internationalen Leonardo-da-Vinci-Bildungsprogrammes, das den Zugang von Migrantinnen zu Gesundheitsberufen und deren Ausbildungen erleichtern soll. Mit Prequal steps wird seit Herbst 2007 das erfolgreiche Konzept von PreQual in vier weitere EU-Länder transferiert, getestet und evaluiert.

Aus der jahrelangen Erfahrung in Bildung, Beratung und Begleitung von Frauen (mit und ohne Migrationshintergrund) entwickelten maiz und die Frauenstiftung Steyr auch ein Konzept zur Unterstützung von asylberechtigten Frauen und subsidiär schutzberechtigten Frauen bei ihrem Einstieg in eine qualifizierte Berufstätigkeit: MOVE umfasst Beratung, Berufsorientierung, Auseinandersetzung mit der Lebens- und Arbeitssituation in Österreich, Qualifizierung, erste Praxiserfahrungen im gewählten Berufsfeld und konkrete Begleitung und Unterstützung beim Einstieg in ein Arbeitsverhältnis oder Ausbildungsmodell (z.B. Implacement-Modell). Ziel ist es, dass am Ende der Maßnahme jede Teilnehmerin eine sehr konkrete Perspektive für einen Ausbildungs- oder Arbeitsplatz hat.

Besonderes Augenmerk wird auf die bereits mitgebrachten Qualifikationen, Kompetenzen und Erfahrungen sowie auf die berufsspezifischen Aspekte und eine Auseinandersetzung mit antirassistischen und feministischen Strategien gelegt. Wir verstehen diese Maßnahme als 'work in Progress, bei der bereits im Konzept, im Besonderen aber in der Umsetzung alle Beteiligten eingebunden sind und sämtliche Inhalte sowie Methode und Evaluation in Hinblick auf die Zusammenarbeit mit der Zielgruppe entwickelt und umgesetzt werden.


Bildung als realitätsverändernder Prozess

Wesentliche Elemente in den genannten Kursen sind die erwähnten partizipativen, antirassistischen und antisexistischen Bildungsgrundsätze von maiz, die Bildung vor allem auch als einen politischen, realitätsverändernden Prozess betrachten. Im Bewusstsein der Unzugänglichkeit von Maßnahmen, die darauf zielen, Migrantinnen ausschließlich durch Bildungsangebote bzw. durch Erwerb von Deutschkenntnissen bessere Chancen am Arbeitsmarkt zu ermöglichen, entschieden wir uns für ein vielseitiges Konzept, das im Sinn von politischer Bildungsarbeit entwickelt und durchgeführt wird. Ein wichtiges Potenzial und gleichzeitig methodologische Voraussetzung unserer Tätigkeiten liegt in der internen Vernetzung der verschiedenen Arbeitsbereiche: Beratung und Begleitung, Öffentlichkeitsarbeit, Kulturarbeit, Gesundheitsprävention für Sexarbeiterinnen, Arbeit mit jungen MigrantInnen. Wir versuchen dadurch ein grenzüberschreitendes Arbeiten durchzuführen, das die Verschmelzung von Formen und Methoden, die Intensivierung der gemeinsamen Öffentlichkeitsarbeit sowie die Entwicklung und das Erproben von neuen Arbeitsmethoden und Strategien ermöglicht.


Rubia Salgado ist Mitbegründerin und Mitarbeiterin von maiz in den Bereichen Bildungs- und Kulturarbeit.

Webtipp:
www.maiz.at


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Quelle:
Frauensolidarität Nr. 103, 1/2008, S. 12-13
Herausgeberin:
Frauensolidarität - Entwicklungspolitische Initiative für Frauen,
Berggasse 7, 1090 Wien,
Telefon: 0043-(0)1/317 40 20-0
Telefax: 0043-(0)1/317 40 20-355
E-Mail: redaktion@frauensolidaritaet.org,
http://www.frauensolidaritaet.org

Die Frauensolidarität erscheint viermal im Jahr.
Einzelpreis: 5,- Euro;
Jahresabo: Inland 20,- Euro; Ausland 25,- Euro.


veröffentlicht im Schattenblick zum 19. April 2008