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MELDUNG/136: Ungleich verteilter Wohlstand erhöht das Risiko für Bürgerkriege (idw)


Eberhard Karls Universität Tübingen - 03.06.2014

Ungleich verteilter Wohlstand erhöht das Risiko für Bürgerkriege

Tübinger Wissenschaftler untersuchen die weltweite Entwicklung von Einkommens-Ungleichheiten über die letzten zwei Jahrhunderte



Je ungleicher der Wohlstand in einer Gesellschaft verteilt ist, desto höher das Risiko von Bürgerkriegen: Zu diesem Ergebnis kommen Professor Jörg Baten und Christina Mumme von der Abteilung für Wirtschaftsgeschichte an der Universität Tübingen in einer Studie. "Überschreitet die ungleiche Verteilung gewisse Schwellenwerte, sind die Auswirkungen innerhalb einer Region enorm", sagt Wirtschaftshistoriker Baten. Der Zusammenhang mit ungleicher Wohlstandsverteilung könne beispielsweise das häufige Auftreten von Bürgerkriegen in Lateinamerika und Afrika in den letzten 200 Jahren erklären oder zum derzeitigen Verständnis der Situation in Osteuropa beitragen. "Dort ist die Schere zwischen Arm und Reich in den vergangenen Jahren erheblich aufgegangen. Oft werden konfliktträchtige nationale und ethnische Identitäten 'wiederentdeckt', wenn Unzufriedenheit aufgrund von Einkommensungleichheit entkräftet werden soll."

Eine zunehmend ungleiche Verteilung von Wohlstand beobachten die Wissenschaftler in vielen Regionen weltweit: In einer weiteren Studie hatten sie in Zusammenarbeit mit der Universität Utrecht erstmals Daten zur weltweiten Entwicklung der "Ungleichheit von Einkommen" in den vergangenen zwei Jahrhunderten verglichen. Demnach hatten sich die Einkommen in Europa und Nordamerika zwar bis in die 1970er Jahre angeglichen - aber seitdem nimmt vor allem in Osteuropa und den USA die ungleiche Verteilung von Wohlstand wieder zu.

"Die aktuelle Debatte über den Anstieg der Ungleichheit zeigt, wie zentral dieses Phänomen für das Verständnis wirtschaftlicher Entwicklung und das Überleben marktwirtschaftlicher Wirtschaftsformen ist", sagt Baten. Das Forscherteam hatte sowohl die Ungleichheit innerhalb von Regionen als auch zwischen Regionen untersucht und präsentiert nun neue Fakten. Dabei verwendeten die Wissenschaftler den sogenannten "Gini-Koeffizienten", der als Maß für Ungleichheit verwendet wird: 0 würde eine (theoretisch mögliche) Situation mit völlig gleichen Einkommen für alle beschreiben, 1 die völlige Ungleichheit. Viele Länder weisen im Durchschnitt einen Ungleichheitsfaktor zwischen 0.30 und 0.60 auf.

Bisher sei man in diesem Bereich weitgehend auf Vermutungen angewiesen, so die Wissenschaftler, insbesondere was die langfristige Entwicklung in Afrika, Asien und Lateinamerika betrifft, aber auch für viele Länder der westlichen Welt. Die Studie zeige nun, dass die drei Regionen Westeuropa, Osteuropa und Nordamerika zwar einen sehr langfristigen Abwärtstrend der Ungleichheit aufwiesen, sich die Einkommen also über einen langen Zeitraum angeglichen hatten. Allerdings habe sich dieser Trend in den letzten 20 Jahren umgekehrt, sowohl in Nordamerika als auch in Osteuropa gehe die Schere wieder auseinander. "In Westeuropa ist der Wiederanstieg bisher in einer überschaubaren Größenordnung", sagt der Wirtschaftshistoriker. Der Gini-Koeffizient der Einkommensungleichheit sei in Westeuropa von Werten zwischen 0.43 und 0.52 im 19. Jahrhundert auf 0.36 um das Jahr 1980 gesunken und dann bis 2000 wieder auf 0.37 gestiegen.

Im Gegensatz dazu habe Afrika einen langfristigen Anstieg ungleicher Einkommen erlebt, der in den 1960er bis 1980er Jahren seinen Höhepunkt erreichte - seitdem sinke die Ungleichheit wieder leicht ab. In Lateinamerika sei die Kluft zwischen den Einkommen während der letzten 200 Jahre konstant hoch geblieben, in Asien eher dauerhaft niedrig, unabhängig von der Höhe des Einkommens. Der Mittlere Osten habe zwei Perioden erlebt, in denen Wohlstand besonders ungleich verteilt war, eine vor 1870 und die zweite in den 1960er und -70er Jahren. Hier sei seit den 1980er Jahren wieder eine leichte Angleichung der Einkommen zu beobachten.

Geht man davon aus, dass höhere Ungleichheit einen Bürgerkrieg wahrscheinlicher macht, so könnte auch der Ungleichheitstrend in den USA Zündstoff bergen. "Wenn diese Entwicklung für längere Zeit anhält, könnte dies auch dort den Boden für gefährliche Konflikte bereiten", sagt Baten. Selbstverständlich gebe es aber keinen Automatismus für Bürgerkriege bzw. hänge ihr Ausbrechen von einer Vielzahl weiterer Faktoren ab.


Zum Weiterlesen:
Jörg Baten und Christina Mumme, "Does Inequality Lead to Civil Wars? A Global Long-Term Study Using Anthropometric Indicators (1816-1999)" kürzlich erschienen in: European Review of Political Economy 32 (Dezember 2013), S. 56-79.

Jan Luiten van Zanden, Jörg Baten, Péter Földvari, und Bas van Leeuwen, "The Changing Shape of Global Inequality 1820-2000. Exploring a New Dataset" kürzlich erschienen in: Review of Income and Wealth 60-2 (Juni 2014), S. 279-297.

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution81

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Eberhard Karls Universität Tübingen, Antje Karbe, 03.06.2014
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veröffentlicht im Schattenblick zum 5. Juni 2014