"highlights" - Heft 32 / Winter 2015/16
Informationsmagazin der Universität Bremen
Forschung an den Brennpunkten
Von Sophia Hoffmann und Roy Karadag
Forschung finde im Elfenbeinturm statt, die Suche nach der wissenschaftlichen Wahrheit habe die Realitäten der Welt nicht ausreichend im Blick - so lautet hin und wieder der Vorwurf an Hochschulen. Dass es oft andersherum ist, beweisen zwei Forschungsprojekte im Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) der Universität Bremen. Der Politik- und Islamwissenschaftler Dr. Roy Karadag und die Politologin Dr. Sophia Hoffmann sind dort unterwegs, wo derzeit Weltgeschichte geschrieben wird: in der Türkei und im Nahen Osten. Während Roy Karadag die aktuelle Situation politischer Journalisten in der Türkei untersucht, hat sich Sophia Hoffmann auf die Sicherheitsarchitektur von Hilfsorganisationen in Flüchtlingslagern spezialisiert. Beide forschen nicht ausschließlich vom Bürostuhl aus, sondern sind häufig vor Ort. Immer wieder verschaffen sie sich einen persönlichen Eindruck und sprechen dabei direkt mit den handelnden Personen. Nicht von ungefähr: Politik- und sozialwissenschaftliche Forschung am Puls des aktuellen Geschehens ist einer der Grundsätze des InIIS.
Die Türkei, NATO-Mitglied und Land an der strategisch wichtigen
Nahtstelle zwischen Europa und Asien, hat sich stark verändert. Nach
einem blutigen Krieg mit der kurdischen PKK und innen- wie
außenpolitischer Stagnation setzte mit dem Aufstieg der konservativen
Regierungspartei AKP seit der Jahrtausendwende eine neue Entwicklung
ein. Unter dem charismatischen Ministerpräsidenten und heutigen
Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan gab es einerseits einen
wirtschaftlichen Aufschwung, andererseits aber auch einen
gesellschaftlich-politischen Wandel. Aus westlicher Sicht wurde
"durchregiert": Bürgerrechte wurden eingeschränkt, kritische
Polizisten und Staatsanwälte entlassen, oppositionelle Stimmen mundtot
gemacht, der Staat nach AKP-Vorstellungen "umgebaut". Zuletzt wurde
das Land, das in den Auseinandersetzungen der Region eine wichtige
Rolle spielt, selbst wieder tiefer in diese hineingezogen: Schwere
Bombenanschläge verschiedener Gruppen erschütterten die Türkei und
destabilisierten die politische Lage.
"Die Regierungspartei AKP hat das Land auf ganz widersprüchliche Weise transformiert", sagt Roy Karadag, der selbst türkische Wurzeln hat und die Entwicklung des Landes seit Jahren forschend begleitet. Sein Interesse gilt unter anderem den institutionellen Veränderungen, der außenpolitischen Positionierung und demokratietheoretischen Fragen.
Ganz genau schaut er sich den Wandel im türkischen Journalismus an: "Dort gab es Journalistinnen und Journalisten, die investigativ arbeiteten und es dabei zu Rang und Namen gebracht hatten", erläutert er. "Sie wurden in den vergangenen Jahren mehr oder minder 'kaltgestellt'. Mich interessieren die Mechanismen dahinter. Meine Vermutung ist, dass auch 'liberale Regime' Möglichkeiten haben, mit sehr einfachen Mitteln Unfreiheiten und Einschränkungen zu schaffen. Die Türkei liefert dafür zahlreiche Beispiele."
Allein 2015, so Karadag, wurden in dem Land Dutzende Journalisten entlassen. "Kritische Berichterstattung, die sich mit Korruption oder politischen Seilschaften beschäftigt, ist nicht erwünscht. Investigative Journalisten werden von der AKP und ihren Anhängern als Feind betrachtet." In der Regel reiche ökonomisch-politischer Druck auf die Eigner der Zeitungen - die oft Großunternehmen sind - um regierungskritische journalistische Arbeit zu unterbinden. Der InIIS-Wissenschaftler hat sich mit zahlreichen entlassenen Journalistinnen und Journalisten getroffen, um sie zu ihren Karriereverläufen zu befragen. Er will die Systematik des langsam steigenden Drucks nachvollziehen, der auf diese Menschen aufgebaut wurde. Auch ihr Überleben in der jetzigen Situation und die Zukunftsaussichten sind ein Thema für ihn. "Das Muster ist oft ähnlich. Erst gibt es persönliche Diffamierungen in Pro-AKP-Zeitschriften - ein sicheres Zeichen, dass man in die Schusslinie der Machthabenden geraten ist. Dann werden leitende Redakteure angerufen, und man bekommt plötzlich weniger und schließlich gar keine Aufträge mehr. Oder man wird aus einer Festanstellung entlassen." Zunehmend, so Karadag, laufe dieser Prozess nicht mehr versteckt, sondern offen ab - "und ich will auch herausbekommen, warum die türkische Gesellschaft so etwas überhaupt zulässt und welche Auswirkungen es auf die innenpolitische Situation hat."
Auch Sophia Hoffmann ist über ihre wissenschaftliche Arbeit tief in die Geschehnisse der Region eingebunden und mit ihren Interessen sehr nah am aktuellen Geschehen. Ihr Blickwinkel ist jedoch ein anderer: Sie interessiert sich für die Sicherheitsmaßnahmen, die humanitäre Organisationen mittlerweile systematisch in ihre Arbeit einbauen. "Das Selbstverständnis von humanitären Organisationen war lange: Wir sind neutral, deshalb greift uns niemand an. Aber gezielte Bombenanschläge auf das Internationale Rote Kreuz im Irak und in Afghanistan haben die Lage komplett verändert", sagt sie. Heute werden Sicherheitsmanager und professionelle Kräfte beschäftigt, die den Schutz für humanitäre Helfer und die Projekte organisieren und gewährleisten. Nur: Wie funktioniert das? Wie sieht es tatsächlich vor Ort aus und inwieweit unterscheiden sich die Pläne auf dem Schreibtisch von der realen Situation, etwa in Flüchtlingslagern?
Sophia Hoffmann, die sich schon länger für derartige Fragen interessiert und Arabisch spricht, ist 2015 für zwei Monate in die jordanische Hauptstadt Amman gereist, um vor Ort zu recherchieren. Schwierig gestaltete sich schon allein der Zugang zu den fern von der Hauptstadt gelegenen Flüchtlingslagern Azraq und Zaatari nahe der syrischen Grenze - "da kommt man nicht einfach so hin und schon gar nicht einfach so rein", berichtet sie. Gute Kontakte, Glück und wichtige Empfehlungen brachten die Forscherin schließlich weiter und führten zu Interviews mit den richtigen Leuten. "Das Sicherheitsmanagement der humanitären Institutionen hat sich professionalisiert, und es wächst ungebrochen. Es gibt Menschen, die sich nur damit beschäftigen. Und es kursieren zahlreiche Standardwerke, Anleitungen oder Broschüren dazu. Ich schaue mir einerseits die verschiedenen Modelle an und analysiere sie: Wie sieht der ideale Plan von Sicherheit aus?" Aber um das Spannungsverhältnis zwischen Wunsch und Wirklichkeit zu erforschen, schaut sich Hoffmann eben auch diese Wirklichkeit in Jordanien an. Die dortigen Lager des Flüchtlingshilfswerks der Vereinten Nationen (UNHCR) sind relativ neu und boten sich deshalb an.
Die Erfahrung von Sophia Hoffmann: "Da, wo die Sicherheitslage
wirklich kritisch ist, treibt die Tat den Plan vor sich her." Zwischen
Theorie und Praxis des Sicherheitsmanagements lägen dann oftmals
Welten: "Da entwickeln sich oft ganz aktuelle Handlungsfelder, die in
keinem Plan auftauchen." Während in Jordanien, wo es zurzeit relativ
sicher ist, manche Bestimmungen gar nicht umgesetzt würden,
beeinflusst das Sicherheitsmanagement für Helfer in Syrien jeden
Schritt und Tritt: "In Syrien leben die ausländischen Helfer in teuren
Hotels in der Hauptstadt und sind in ihrer Bewegungsfähigkeit extrem
eingeschränkt. Das konkrete Ausführen humanitärer Hilfe wird sowohl in
Syrien als auch Jordanien fast nur von Einheimischen erledigt. Dass
dies auch für Jordanien gilt, war eine neue Erkenntnis für mich. Der
Bildungsstand in beiden Ländern ist so hoch, dass die
Hilfsorganisationen hier problemlos geeignete Menschen finden, die
effektiv arbeiten."
Die beiden InIIS-Experten betonen, dass sie im Detail vielleicht unterschiedliche Forschungsansätze haben, übergreifend aber zu ganz ähnlichen Themen arbeiten. Die aktuellen Entwicklungen in der Region sind derzeit nicht mehr vorhersehbar und überlagern die wissenschaftliche Arbeit. "Unsere gemeinsame Basis ist ja das grundlegende Verständnis der Region, seiner vielfältigen Akteure und der verschiedenen Interessenlagen. Von daher ist unsere Expertise immer wieder gefragt", sagt Roy Karadag. Deshalb arbeiten die beiden Forscher auch gern zusammen. In einem gemeinsamen Text für das Orient-Magazin zenith haben sie beispielsweise herausgearbeitet, dass die einzelnen Parteien im Nahen Osten durchweg von der Existenz der Terrorgruppe "Islamischer Staat" profitieren - wenn auch auf ganz unterschiedliche Art und Weise (Link zum Artikel: http://unihb.eu/ZYSEFgSm).
Dr. Sophia Hoffmann/Dr. Roy Karadag
Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS)
www.iniis.uni-bremen.de
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Quelle:
highlights - Informationsmagazin der Universität Bremen
Heft 32 / Winter 2015/16, Seite 18-20
Herausgeber: Rektor der Universität Bremen
Redaktion: Kai Uwe Bohn, Universitäts-Pressestelle
Postfach 330440, 28334 Bremen
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E-Mail: presse@uni-bremen.de
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"highlights" erscheint zweimal jährlich und ist erhältlich
bei der Universitäts-Pressestelle.
veröffentlicht im Schattenblick zum 27. Februar 2016
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