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FORSCHUNG/142: Mannheimer Sozialforscher - Spitzenkandidaten machen Europa demokratischer (idw)


Universität Mannheim - 27.08.2015

Mannheimer Sozialforscher: Spitzenkandidaten machen Europa demokratischer

• Europäische Wahlstudie untersuchte den Wahlkampf von Juncker, Schulz und weiteren Kandidaten um das Amt des EU-Kommissionspräsidenten
• Wissenschaftler messen positive Effekte auf die Wahlbeteiligung


Mit der erstmaligen Nominierung von Spitzenkandidaten für das Amt des EU Kommissionspräsidenten bei der Europawahl 2014 hat die Europäische Union einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu mehr Demokratie getan. Das ist das Ergebnis einer Studie von Politikwissenschaftlern des Mannheimer Zentrums für Europäische Sozialforschung (MZES) der Universität Mannheim und der London School of Economics and Political Science (LSE).


Spitzenkandidaten sollten Wahlbeteiligung und Legitimation erhöhen Um das Amt des Kommissionspräsidenten bewarben sich unter anderem Jean Claude Juncker für die Europäische Volkspartei (EVP), Martin Schulz für die Sozialdemokratische Partei Europas (SPE) und Guy Verhofstadt für die Allianz der Liberalen und Demokraten für Europa (ALDE). Erklärtes Ziel der EU war es, den Wählerinnen und Wählern mit den Kandidaten klare personelle Alternativen zu präsentieren, um damit mehr Aufmerksamkeit für die Politik der EU zu gewinnen und die Wahlbeteiligung zu erhöhen. So sollte das Demokratiedefizit und das damit verbundene Legitimationsproblem der EU angegangen werden.


"European Election Studies" (EES): über 30.000 Menschen in 28 Ländern befragt

Die Mannheimer Politikwissenschaftler Professor Dr. Hermann Schmitt und Sebastian Popa haben in Zusammenarbeit mit Kollegen aus allen EU-Mitgliedsländern massenhaft Daten zur Europawahl 2014 erhoben und in monatelanger internationaler Teamarbeit ausgewertet. Unter anderem führten die Sozialwissenschaftler im Rahmen der bereits seit 1979 an der Universität Mannheim koordinierten "European Election Studies" (EES) besonders aufwändige repräsentative Nachwahlbefragungen in allen 28 EU-Mitgliedsstaaten durch. In jedem Land wurden rund 1.100 Wählerinnen und Wähler detailliert zu ihrem politischen Verhalten befragt, insgesamt also über 30.000 Menschen.

Auf dieser Basis kommen Schmitt, Popa und ihre Londoner Kollegin Sara Hobolt in einer nun veröffentlichten Untersuchung zu dem Schluss, dass der Wahlkampf der Spitzenkandidaten tatsächlich Wirkung zeigte. So habe die Personalisierung des Wahlkampfes die individuelle Wahrscheinlichkeit einer Wahlbeteiligung messbar erhöht. "Wer beispielsweise den Kandidaten Martin Schulz in der Befragung wiedererkannte, der hatte eine um 37 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit zur Wahl zu gehen, als der Durchschnitt", erklärt Hermann Schmitt. In Bezug auf Jean-Claude Juncker seien ähnliche Werte ermittelt worden.


Wahlbeteiligung ging erstmals nicht zurück

Auch die Wahlkampfveranstaltungen der Spitzenkandidaten in den einzelnen Ländern zeigten Wirkung: Einwohner der von den Kandidaten besuchten Länder nahmen mit größerer Wahrscheinlichkeit an der Wahl teil, als die Einwohner nicht besuchter Länder. Das gelte insbesondere für die Besuche der eher "klassischen" Wahlkämpfer Schulz und Verhofstadt, die den direkten Kontakt zu den Bürgerinnen und Bürgern suchten, betont Sebastian Popa. Juncker setzte bei seinen Veranstaltungen dagegen eher auf Treffen mit nationalen Spitzenpolitikern sowie auf Pressekonferenzen und Galadinners. "Man könnte mutmaßen, dass das mit Blick auf sein späteres Amt als Kommissionspräsident hilfreich war. Die allgemeine Wahlbeteiligung konnte er mit dieser Taktik aber nicht messbar erhöhen", ergänzt Schmitt.

Überhaupt hat die Nominierung der Kandidaten auf den ersten Blick nicht viel an der Wahlbeteiligung geändert: EU-weit gingen 2014 nur rund 43 Prozent der Berechtigten an die Urne. Bei der vorangegangenen Wahl 2009 waren es ebenfalls rund 43 Prozent. Rechnet man Kroatien heraus, das erstmals an einer Europawahl teilnahm und wo nur jeder Vierte zur Wahl ging, so ergibt sich eine Gesamtbeteiligung von rund 44 Prozent, also ein minimaler Anstieg gegenüber 2009. Bemerkenswert ist dies, da die Beteiligung an Europawahlen seit deren Einführung im Jahr 1979 bisher von Wahl zu Wahl gesunken war. Zeichnet sich also sogar eine Trendwende bei der Wahlbeteiligung ab, zurückzuführen auf die Benennung der Spitzenkandidaten?


"Schulz-Effekt" ist umstritten

Die Forscher bleiben bei der Interpretation ihrer Ergebnisse vorsichtig. Schließlich wurden in ihren Befragungen selbst die populärsten Kandidaten Juncker und Schulz nur von etwa jedem fünften Wähler überhaupt richtig erkannt. Speziell in Deutschland war die Wahlbeteiligung im Vergleich zu 2009 zwar um fast fünf Prozentpunkte gestiegen. Ob es sich dabei um einen "Martin-Schulz-Effekt" handelte, ist aber fraglich, da parallel zur Europawahl in mehreren Bundesländern Kommunalwahlen stattfanden, was ebenfalls eine höhere Beteiligung bewirkt haben könnte.

Der Gesamteffekt der Spitzenkandidaten sei daher sicherlich nicht groß, ordnet Schmitt die Resultate ein: "Aber bei der nächsten Wahl wird der Kandidatenwettbewerb schon besser etabliert sein und es wird sich vielleicht auch ein Amtsinhaber zur Wiederwahl stellen. Und dann werden die Wahlkämpfer zunehmend auch Leute erreichen, die bisher mit der EU wenig bis gar nichts am Hut haben." Europa habe mit der Nominierung von Spitzenkandidaten daher einen wichtigen Schritt auf dem Weg zu mehr Demokratie getan, resümiert der Politikwissenschaftler.


Weitere Informationen:
Schmitt, Hermann, Sara Hobolt and Sebastian Popa:
Does personalization increase turnout? Spitzenkandidaten in the 2014 European Parliament elections.
European Union Politics.
Online verfügbar unter DOI: 10.1177/1465116515584626


Weitere Informationen unter:

http://eeshomepage.net/
- Website der European Election Studies (EES)

http://www.mzes.uni-mannheim.de/d7/de/projects/europawahlstudie-2014
- MZES-Projekt "Europawahlstudie 2014"

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
http://idw-online.de/de/institution61

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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Universität Mannheim, Katja Bär, 27.08.2015
WWW: http://idw-online.de
E-Mail: service@idw-online.de


veröffentlicht im Schattenblick zum 29. August 2015

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