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FORSCHUNG/106: Gesetze der Moral (uni'kon Uni Konstanz)


uni'kon 38|10 - Universität Konstanz

Gesetze der Moral

Prof. Christoph Knill erhielt für die Erforschung des moralpolitischen Wandels von 25 Staaten den "ERC Advanced Grant", den höchsten Wissenschaftspreis der Europäischen Union

Von Jürgen Graf


"Nur ihrem Gewissen unterworfen" sind Abgeordnete des Bundestags gemäß Artikel 38. Umso markanter wird dieser Passus, wenn es tatsächlich das Gewissen einer Kulturgemeinschaft ist, das den Ausschlag für politische Entscheidungen gibt: Moralpolitik wird jener Typus der Gesetzgebung genannt, der vorrangig durch Wertekonflikte in der Gesellschaft geprägt ist. Prof. Christoph Knill untersucht den Wandel der Moralpolitik in den letzten 30 Jahren anhand von Gesetzesänderungen in 25 OECD-Staaten.

Der Konstanzer Politikwissenschaftler erstellt damit jedoch nicht nur ein Bild des Moralwandels von Staaten, sondern leistet auch jenseits von politischen Gewissensfragen Pionierarbeit: Mit seinem umfangreichen Projekt kann erstmalig Staatstätigkeit in einer Gesamtheitlichkeit erfasst werden. "Die theoretische Innovation besteht darin, dass für einen gesamten Politikbereich die Regulierungstätigkeit von Staaten sehr genau nachgezeichnet wird", skizziert Knill: "Dies ergibt ein sehr umfassendes Bild der staatlichen Tätigkeit und eine einzigartig gute Basis, um die Ursachen zu erforschen." Für das aufwendige Projekt wurde Christoph Knill vom Europäischen Forschungsrat mit dem "ERC Advanced Grant", dem höchsten Wissenschaftspreis der Europäischen Union, ausgezeichnet. Damit verbunden ist eine Förderung in Höhe von 2,1 Millionen Euro. Christoph Knill ist damit der erste deutsche Politikwissenschaftler, der diese Auszeichnung erhält.

Wie geht ein Staat mit den Themen Abtreibung, Sterbehilfe und Todesstrafe um? Ist ein Staat, der mit hohen Moralvorstellungen hart gegen Suchtmittel vorgeht, gleichermaßen restriktiv gegenüber Pornographie und Prostitution? Und wie verändern sich durch Moral gefestigte Gesetze, wenn sich gesellschaftliche Veränderungen ereignen? "In moralpolitischen Entscheidungen ist häufig nicht so sehr wissenschaftliche Evidenz entscheidend als vielmehr tradierte Wertvorstellungen in der Bevölkerung", charakterisiert Christoph Knill. Die erste Phase seines fünfjährigen Forschungsprojekts wird eine exakte Nachzeichnung moralpolitischer Gesetzesänderungen in 25 Staaten sein. Der Aufwand dieser fundamentalen Datensammlung und dieses Ländervergleichs wird erst in vollem Umfang deutlich, wenn man sich vor Augen führt, in wie viele unterschiedliche Sprachen und Rechtstraditionen sich das Forschungsteam einarbeiten muss. Kein Wunder, dass sich bislang noch kein Forscher an dieses Großprojekt herangewagt hat: "Moralpolitik ist ein untererforschter Politikbereich", bestätigt Christoph Knill.

Diese immense Datenerhebung wird für Knill die Basis für theoretische Modelle zu staatlicher Regulierung im Allgemeinen und zu Moralpolitik im Speziellen sein: die zweite Phase von Knills Forschungsprojekt.

Nichtraucherschutz und Tabaksteuern, Statistiken von Drogentoten, Abtreibungsgesetze: All diese Themen wurden in der bisherigen Forschung einzeln untersucht, doch nie zuvor wurde die Moralpolitik als gesamtheitliches Phänomen erfasst: "Wenn man sich Moralpolitik über verschiedene Bereiche hinweg anschaut, dann erblickt man ein sehr widersprüchliches Bild auch innerhalb von Staaten. Sie sind dann vielleicht sehr restriktiv in einem Bereich, aber dafür sehr moderat in anderen Gebieten", erläutert Christoph Knill. "Japan ist beispielsweise ein sehr interessanter Fall: Japan hat aus seiner Kultur heraus im Bereich der Pornographie und Prostitution eine sehr liberale Tradition, hat sich dann im 18. und 19. Jahrhundert sehr stark an die westlichen Standards angepasst, um in den letzten Jahren wieder auszuscheren, wieder wegzudriften, in die Tradition zurückzufallen."

Welche Faktoren bedingen solche moralpolitischen Entwicklungen? Gibt es ein einheitliches Bild hinter den vielheitlichen moralpolitischen Konzepten? Zeichnet sich möglicherweise gar eine Annäherung der Moralpolitiken in der globalisierten Welt ab? Kultureller Austausch und Wandel, internationale Eingriffe, wirtschaftliche Verhältnisse und politischer Problemdruck: Politische und kulturelle Wechselwirkungen auf nationaler und internationaler Ebene werden in der zweiten Phase von Christoph Knills Forschungsprojekt eine wesentliche Rolle einnehmen. Die Erforschung solcher Wechselbeziehungen steht dabei nicht ohne Vorarbeit: In zwei EU-Großprojekten forschte Knill bereits nach Zusammenhängen in internationalen Politiken: Das Projekt "CONSENSUS" untersucht die nachhaltige politische Entwicklung im internationalen Raum auf Wechselwirkungen und Synergien zwischen Ökonomie, Sozial- und Umweltpolitik. "ENVIPOLCON" analysiert die Angleichung der Umweltpolitik in 24 Staaten und fragt nach Einflüssen für deren Ausformung. Gemeinsam ist den Großprojekten von Christoph Knill der akribische Blick auf Wechselprozesse und Zusammenhänge in den separaten und dennoch verknüpften Entwicklungen von Staaten.

Der Anspruch seines Forschungsprojektes ist für Knill keine Gewissensfrage: Seine Datensammlung muss umfassend sein, seine Theorie muss auch die ausscherenden Sonderfälle erklären können: "Der Ansatz ist ganz neu und sehr aufwendig, aber es ist dieser Ansatz, der die Tätigkeit von Staaten am exaktesten misst."


Seit 2004 ist Christoph Knill Professor für Vergleichende Policy-Forschung und Verwaltungswissenschaft an der Universität Konstanz. Zuvor hatte er seit 2000 eine Professur für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt Europäische Studien an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Er leitete mehrere große Forschungsprojekte, darunter die EU-finanzierten Großprojekte "ENVIPOLCON - Environmental Governance in Europe" und "CONSENSUS - Confronting Social and Environmental Sustainability with Economic Pressure". Als erster deutscher Politikwissenschaftler erhielt er 2010 den renommierten "ERC Advanced Grant" des Europäischen Forschungsrates.


Der "ERC Advanced Grant" richtet sich an bereits positionierte internationale Spitzenforscher, die durch herausragende Forschungsleistungen auf sich aufmerksam gemacht haben. Der Wissenschaftspreis ist insofern zugleich eine Förderung wie auch eine Auszeichnung des gekürten Wissenschaftlers. Ausschlaggebend für die Vergabe des Wissenschaftspreises ist die unkonventionelle und pionierartige Perspektive der Projekte auf wissenschaftliches Neuland. "ERC Advanced Grant"-Projekte sind auf einen Zeitraum von fünf Jahren veranschlagt.


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Quelle:
uni'kon 38|10, S. 10-12
Herausgeber: Der Rektor der Universität Konstanz
Redaktion: Claudia Leitenstorfer, Dr. Maria Schorpp
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veröffentlicht im Schattenblick zum 7. August 2010