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ETHNOLOGIE/006: Für einen Ethnologen eine klare Sache - Natürlich sind Ossis eine Ethnie (idw)


Johannes Gutenberg-Universität Mainz - 21.04.2010

Für einen Ethnologen eine klare Sache: Natürlich sind Ossis eine Ethnie

Ethnologieprofessor Thomas Bierschenk kritisiert veralteten Ethnienbegriff im Stuttgarter Arbeitsgerichtsurteil zur "Ossi-Klage"


(Mainz, 21. April 2010, lei) Das Urteil des Stuttgarter Arbeitsgerichtes vom 14. April 2010 stellt nach Meinung des Mainzer Ethnologen Prof. Dr. Thomas Bierschenk eine eklatante Fehlentscheidung dar, weil es auf einem veralteten Begriff der Ethnie beruht. Allerdings liege der Irrtum nicht nur beim Richter, sondern schon beim Anwalt der Klägerin, der diese veraltete Definition in den Prozess eingeführt habe. "Die Vorstellung, dass Ethnien so etwas wie Volksstämme sind, die auf der Grundlage gemeinsamer Geschichte, Sprache, Religion, Tradition und Abstammung existieren und die eine gemeinsame 'Kultur' teilen, die sich von anderen Kulturen eindeutig unterscheidet, geht im Grunde auf Vorstellungen Herders im 18. Jahrhundert zurück", erläutert Bierschenk, Professor am Institut für Ethnologie und Afrikastudien der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. "Diese Vorstellungen wurden durch Forschungen widerlegt und gelten unter Ethnologen heute als überholt." Stattdessen sei das Wir-Gefühl einer Gruppe entscheidend.

Ursprünglich bezeichneten die Griechen alle Nichtgriechen, zumal ihre persischen Gegner, abwertend als "Ethnien". Diese Ethnien waren für die Griechen zivilisatorisch minderwertig - was sich schon an der Hässlichkeit ihrer Sprache zeige. Deshalb wurden sie lautmalerisch auch als "Brabbler", als "Barbaren" bezeichnet. Ähnlich glaubten im 19. und frühen 20. Jahrhundert europäische Reisende, Missionare und Kolonialherren, dass Afrika von "Stämmen", später "Ethnien" genannt, bewohnt sei. Präzise ethnologische Forschung ergab dann aber, dass die gemeinsame geschichtliche Abstammung dieser Gruppen oft im Nachhinein aus politischen Gründen konstruiert wurde, dass es eher selten ist, dass Sprachgrenzen mit anderen, zum Beispiel kulturellen Grenzen zusammenfallen, dass die "Sitten und Gebräuche" einer Gruppe oft sehr unterschiedlich sind oder aber sich von denen der Nachbarn nicht unterscheiden. Wie schwierig es ist, eine gemeinsame und exklusive "Kultur" zu definieren, hat sich ja auch in der deutschen Debatte zur "Leitkultur" gezeigt.

Gegenüber solchen "substantivistischen" Vorstellungen hat sich daher in der neueren Forschung ein Ethnienbegriff durchgesetzt, der eher ein ausgeprägtes Wir-Gefühl von Gruppen betont. Dieses Wir-Gefühl entwickelt sich in erster Linie in Abgrenzung zu anderen Gruppen - Ethnien sind immer nur Ethnien in Bezug auf "signifikant Andere", von denen sie sich abgrenzen und von denen sie ihrerseits als Gruppe wahrgenommen werden. Ohne Wessis keine Ossis und ohne Ossis keine Wessis. Das Wir-Gefühl wird durch bestimmte "Identitäts-Markierer" gestützt: Das kann der grüne Rechtsabbiegepfeil sein, Gurken aus dem Spreewald oder die Jugendweihe, vielleicht auch bestimmte Redewendungen und vor allem die Vorstellung, geschichtliche Erfahrungen zu teilen, in einem weiten Sinne verwandtschaftlich verbunden zu sein, und, mit ganz starker Bindungskraft, das Gefühl der Diskriminierung durch "die Anderen". Diese Identitäts-Markierer müssen aber kein System einer einheitlichen und exklusiven Kultur bilden. Und immer wird man sich verschiedenen Wir-Gruppen zugehörig fühlen. Je nach Kontext wird dann einmal akzentuiert, dass man Ossi, ein anderes Mal, dass man Sachse, und ein drittes Mal, dass man Deutscher ist.

"Ein solcher konstruktivistischer Begriff von Ethnie ist allerdings im Grunde nicht justiziabel", räumt Prof. Bierschenk ein, "da die Frage, ob eine Gruppe in diesem Sinne eine Ethnie sei, immer nur relativ, mit mehr oder weniger, beantwortet werden kann." Im Falle der Ossis mit ihrem ausgeprägten Wir-Gefühl allerdings eher mit "mehr".

"Ich weiß nicht, ob der Gesetzgeber sich was dabei gedacht hat, als er den Begriff der Ethnie aus europäischen Richtlinien übernahm", so Bierschenk. "Warum hat man sich nicht auf die juristische Weisheit der Väter des Grundgesetzes verlassen? Dort heißt es doch in Paragraph 3 ganz eindeutig, dass niemand wegen seiner 'Heimat und Herkunft' benachteiligt werden darf."

Weitere Informationen unter:
http://www.ifeas.uni-mainz.de

Kontaktdaten zum Absender der Pressemitteilung unter:
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Quelle:
Informationsdienst Wissenschaft e. V. - idw - Pressemitteilung
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Petra Giegerich, 21.04.2010
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veröffentlicht im Schattenblick zum 23. April 2010