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ETHNOLOGIE/003: Kirgistan - Die Schwiegermutter auf der Schwelle (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 2/2009

Die Schwiegermutter auf der Schwelle

Von Birgid Fenzel


Was nach Abenteuer klingt, ist harte Arbeit: Um jenseits romantisierender Verklärung ein Bild vom Alltagsleben der Kirgisen entwerfen zu können, sammelte Nathan Light die Lebensgeschichten von rund 300 Frauen und Männern. Dabei interessiert den Wissenschaftler vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale vor allem der Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen in der postkommunistischen Gesellschaft.


An der alten Seidenstraße im Herzen Zentralasiens liegt Kirgistan, umgrenzt von China, Tadschikistan, Usbekistan und Kasachstan. Ein Land, das Vorstellungen weckt von langen Karawanen, die sich auf der Seidenstraße langsam ihren Weg von Asien nach Europa bahnen. Mit wertvoller Fracht und Wissen im Gepäck ziehen sie vorbei an jenen Orten, an denen schon sehr früh die religiöse und politische Weltgeschichte geprägt wurde. Bilder drängen sich auf von kriegerischen Nomaden und Armeen, die mit fortschrittlicher Technologie die umliegenden Gebiete eroberten und sie unter ihrer Herrschaft vereinigten.

"Solche Vorstellungen sind nicht falsch, aber durch sie verstellt sich der Blick auf das sehr viel komplexere Ganze", sagt Nathan Light vom Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung. Wissen wird in diesem Fall ersetzt durch Klischees, die aus einem Mischmasch von Erkenntnissen aus Reisebroschüren und Klappentexten zu dramatischen Werken der Geschichte Zentralasiens zusammengeklittert scheinen. "Jeder kennt Dschingis Khan, aber nur wenige Europäer interessieren sich für das alltägliche Leben dort zu seiner Zeit oder heutzutage", stellt Light fest, der 1989 in Kirgistan seine ersten Feldforschungen begann.

Die allgemeine Neugierde beschränke sich letztlich doch zumeist wieder nur auf Elemente des Exotischen oder Extremen. Eine Haltung, wie sie auch zu Beginn des ethnologischen Interesses in Europa im frühen 16. Jahrhundert geherrscht hatte. Als Teil der Erkundung der unbekannten Regionen Europas ging es eher darum, über die Kuriositäten von Mensch und Natur in den neu entdeckten Regionen zu berichten. Von diesem Ansatz habe sich die Ethnologie allerdings im Lauf der Zeit schrittweise verabschiedet. "Ich muss genau diese Haltung auf den Kopf stellen und untersuche das Alltägliche: Wie Menschen geboren werden, wie sie aufwachsen, Familien gründen und ihr ganz normales Leben führen. Denn heute geht es nicht nur darum, exotische Unterschiede zu studieren", sagt Light.

Dazu betreiben eine Reihe von Forschern des Max-Planck-Instituts ihre Feldstudien in verschiedenen Regionen Kirgistans. So gibt es Projekte über die religiösen, rechtlichen und politischen Praktiken ebenso wie zur Geschichte, zum Arbeitsleben der Landbevölkerung oder über den Alltag der Menschen in den Apartmentblocks in der Metropole Bischkek.


Feldforschungen in Familienangelegenheiten

Wie viele Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Abteilung "Sozialistisches und Postsozialistisches Eurasien" von Direktor Chris Hann interessiert sich auch Nathan Light besonders für Regionen mit wechselnden Machtverhältnissen oder in gesellschaftlichen Umbruchsituationen. Gerade in solchen Wendezeiten können Ethnologen spannende Strukturen entdecken. In diese Richtung zielt auch der gebürtige US-Amerikaner mit seinem aktuellen Projekt. "Mir geht es darum, den Wandel von Verwandtschaftsbeziehungen in der postkommunistischen Gesellschaft zu untersuchen", beschreibt er sein Hauptinteresse.

Die Arbeit des Forschers stellt eine gute Balance her zwischen der britischen Sozialanthropologie mit ihrem Schwerpunkt auf der Untersuchung konkreter sozialer Beziehungen und der amerikanischen Kulturanthropologie, die einen stärker idealistischen Kulturbegriff geprägt hat, der Ideen und Diskurse in den Mittelpunkt stellt. "In der modernen Welt verstehen sich Menschen und ihre sozialen Gruppen als Einheiten mit einer einzigartigen Kultur und Geschichte. Von jedem Individuum wird erwartet, dass es sich einem dieser Kollektive anschließt, die eine gemeinsame Geschichte und Kultur und ein nationales oder lokales Territorium besitzen", erklärt Light diesen Aspekt.

Um ein Bild jenseits romantisierender Verklärung aus Tourismusbroschüren vom echten Alltagsleben der Kirgisen entwerfen zu können, sammelte Light die Lebensgeschichten von rund 300 Frauen und Männern. Insgesamt verbrachte er in den vergangenen vier Jahren 18 Monate in dem Land. Von der Hauptstadt Bischkek aus startete er seine Feldforschungen. Mit dem Bus oder per Anhalter fuhr er gen Westen in die kleinen Dörfer und Siedlungen der Provinz Talas sowie hoch oben ins Zentrum des "Himmelsgebirges" an den See Yssyk Köl.

Anfangs habe er noch versucht, strategisch an die Auswahl seiner Zielorte für die Feldforschung heranzugehen, musste aber vor Ort feststellen, dass das so nicht funktioniert. "Ich versuchte Dörfer auszuwählen, die ich für typisch hielt. Aber letztlich stellte sich heraus, dass jedes einzelne von ihnen seine eigene Geschichte und kulturellen Eigenarten hat." Zu guter Letzt fiel seine Wahl auf fünf Dörfer und die Metropole, die ihm Daten für einen Vergleich lieferten. Bei seinen Interviews interessierte sich der Ethnologe für die Lebensgeschichten seiner Gesprächspartner im Allgemeinen und für ihre Verwandtschaftsverhältnisse und Austauschrituale im Besonderen.

Vorbehalte gegenüber ihm, dem Fremden, der überdies seine Nase in Familienangelegenheiten stecken wollte, habe er nirgendwo erlebt: "In den meisten Fällen schätzten es die Leute, interviewt zu werden, und genossen es, dass sich jemand für ihre Lebensgeschichte interessierte." Insbesondere die älteren Menschen waren sich ihrer Rolle als Zeitzeugen durchaus bewusst: "Die meisten von ihnen betrachteten ihre Lebensläufe als persönliches Zeugnis für die Komplexität geschichtlicher Veränderungen."


Lehmböden und Strohbetten trauert keiner nach

In den Interviews, die Nathan Light mit einem Rekorder aufzeichnete, erzählten sie ihm, wie sie im Kommunismus zurechtkamen und wie sie heute unter neuen ökonomischen Bedingungen, denen der Marktwirtschaft und des Liberalismus, leben. "Die Gesellschaft hat sich seit dem Ende des Sozialismus dort gewaltig verändert - hinsichtlich der größeren ökonomischen Möglichkeiten und Freiheiten, aber auch der höheren Bereitschaft der Kirgisen, wieder traditionelle Formen von Verwandtschaftsbeziehungen, Religion und sozialer Organisation zu akzeptieren", beschreibt der Max-Planck-Forscher seinen Eindruck. Gleichzeitig ermögliche die neue Freiheit den Menschen einen differenzierteren Blick auf die Welt und die Dinge: "Allgemein lässt sich feststellen, dass Kirgisen dadurch ihre sozialen Optionen viel bewusster auswählen können als früher."

Doch selbst während sozialistischer Zeit gehörten die Familienbeziehungen zum festen Bestandteil sowjetischer Politik. Ursprünglich lebten die meisten Kirgisen als Hirtennomaden in Clanzusammenhängen, doch mussten sie in den 1920er- und 1930er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts diese Lebensform aufgeben und im Kollektiv mit anderen ethnischen Gruppen in verstaatlichten Betrieben Landwirtschaft betreiben. Dabei lernten die Kirgisen dann auch Weizen, Kartoffeln, Tabak und andere Dinge selbst zu erwirtschaften, die sie zuvor nur gegen Naturalien aus russischer oder Wolga-deutscher Produktion eintauschen konnten.

Viele vermittelten in den Gesprächen nicht gerade den Eindruck, ihrer alten Lebensform nachzutrauern. "Sie erzählten mir von den Lehmböden in den Häusern und den Betten aus Stroh und schienen dabei doch eher die Vorteile der neuen landwirtschaftlichen Technologien und das Leben in festen Häusern zu schätzen als die erzwungene Kollektivierung als Gewalttat zu empfinden", sagt Light.

Auch in andere kirgisische Lebensweisen griff das Sowjetregime in massiver Weise ein. Auf dem Weg zu einer vollkommen atheistischen Gesellschaft wurden sämtliche religiöse und spirituelle Praktiken von den Behörden streng kontrolliert. Familienfeste wie Hochzeiten oder Beerdigungen mussten konform zur Sowjetideologie ablaufen - und die verbot althergebrachte Praktiken: etwa durch die Eltern arrangierte Hochzeiten oder die Zahlung eines Brautpreises. Söhne und Töchter hatten fortan in den Familien Anspruch auf gleiche Behandlung und das Recht auf freie Partnerwahl. Mit dem Verbot der alten Hochzeitstradition entfielen auch die materiellen Transaktionen, die bis dahin bei der Zusammenführung zweier Familien üblich waren.

So gesehen griffen die Restriktionen in den Kern der kirgisischen Gesellschaft ein. Denn Verwandtschaftsbeziehungen, Gütertransfer und soziale Beziehungen gehören für diese Menschen zu den wichtigsten Ereignissen im Leben - nebst den dazugehörigen Feierlichkeiten, die mit großem Aufwand begangen werden. "Zu diesen Ereignissen zählen auch Geburtstage, Beschneidungen, Hauseinweihungen oder der Erhalt eines Brautgeldes", zählt Light weitere Höhepunkte im kirgisischen Alltagsleben auf.


Zeremonienmeister halten die Festgäste im Zaum

Um all diese Ereignisse gebührend zu feiern, haben sich nach kirgisischem Verständnis Dutzende oder sogar Hunderte Gäste zu gesellen, die sich aus der patrilinearen (auf den Vater bezogenen) Familie rekrutieren, aber auch aus dem Freundeskreis oder der neuen, angeheirateten Verwandtschaft stammen können. Unzählige Geschenke werden überreicht. "Das Prozedere dauert oft Stunden", weiß Light aus Erfahrung. Die Geschenke sind dabei nicht nur ausschließlich für den Gastgeber bestimmt, sie können auch für seine Verwandtschaft gedacht sein - etwa Kleidung für die Großeltern oder eine materielle Unterstützung für die Feier selbst.

Für den ordnungsgemäßen Ablauf der Feier ist ein Zeremonienmeister, der Tamada, zuständig. Er passt auf, wer gerade die Bühne erklimmt, bestimmt, welche Spiele angesagt sind oder was sonst noch zwecks Vermeidung von Langeweile unter den Gästen anzustellen ist. Die Figur des Zeremonienmeisters erscheint dem Ethnologen auch als Indikator für einen kulturellen Wechsel. "Der Tamada wurde im postsowjetischen Kirgistan zu einer der begehrtesten Berufsgruppen", so Light. Jeder kenne drei oder vier berühmte Zeremonienmeister. Je nach Anreiseweg kassieren diese pro Auftritt bis zu 400 Euro. "Der Tamada, mit dem ich die meiste Zeit verbrachte, war auch für das anständige Benehmen der Gäste verantwortlich", erinnert sich Light an seine Erlebnisse auf kirgisischen Hochzeiten.

Daher sei der Zeremonienmeister bemüht gewesen, den Alkoholkonsum der Gäste in Grenzen zu halten. "So veranstaltete er Wettbewerbe, bei denen die Mitspieler möglichst viele ungeöffnete Wodkaflaschen von ihren Tischen zur Bühne bringen mussten - das ist interessant, denn eigentlich ist der ursprüngliche Tamada in Georgien für den steten Weinfluss auf Festen verantwortlich."

Während der Sowjetära seien diese Feiern deutlich kleiner ausgefallen und mehr im häuslichen Bereich erfolgt. Doch sei das Prinzip dasselbe gewesen: Hochzeitsfeiern bedeuteten für die beteiligten Familien einen engen Bund, der nicht nur zwischen den Vermählten fürs Leben geschmiedet wurde, sondern zwischen beiden Linien. "Im kirgisischen Denken sind die Schwiegereltern des eigenen Kindes die verlässlichsten Partner", erklärt Light das besondere Verhältnis zwischen den Eltern der Braut und jenen des Bräutigams.

Solche bedeutsamen und auch kostspieligen Ereignisse jedoch erforderten eine sorgfältige Auswahl im Vorfeld: Drum prüfe, wer sich ewig bindet - die Hochzeiten gehören auch in Kirgistan zu den wichtigsten Methoden, starke soziale Bande zwischen zwei Gruppen zu knüpfen. Die Bestimmung der Ehepartner durch die Eltern kann jedoch auch zu komplexen Problemen führen, wie der Wissenschaftler in seinen Gesprächen erfahren hat: "Zum Beispiel, wenn das Paar schon selbst eine eigene - andere - Wahl getroffen hat."


Das Recht auf freie Partnerwahl

In vorsowjetischer Zeit lösten einige dieser Paare den Konflikt mit den Eltern durch Flucht. Wenn es den beiden erst gelang, gegen den Willen der Eltern eine Weile zusammenzubleiben, willigten diese schließlich ein. Außerdem wäre die junge Frau andernfalls schwerlich an einen anderen Mann zu vermitteln gewesen, weil sie ja schon zuvor mit jemand zusammen gewesen war.

Unter dem Verbot arrangierter Ehen zu Sowjetzeiten nutzten viele junge Kirgisen das Recht auf freie Partnerwahl. Zugleich verbreitete sich ein anderes Hochzeitsritual: Ala kachuu - die Entführung der Braut, bei dem der potenzielle Bräutigam mit Unterstützung von Freunden eine junge Frau entführt und sie ins Haus seiner Eltern bringt. Dort erwarten sie schon die zukünftige Schwiegermutter und die anderen Frauen der Familie. Mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln versuchen sie das Mädchen an der Flucht zu hindern und zur Einwilligung in die Hochzeit zu nötigen. Zum Prozedere gehört es, dass sie die junge Frau mit Bannzaubern belegen und mit Flüchen bedrohen. Als weiteres Druckmittel wird gern auch Brot vor die Türschwelle gelegt und manchmal legt sich die Schwiegermutter auch selbst vor die Tür - beides darf aus Respekt vor der Grundnahrung beziehungsweise vor dem Alter nicht überschritten werden.


Fliehende Bräute bringen Schande

Hat das Entführungsopfer erst einmal die Nacht in dem fremden Haus verbracht, kann es nicht wieder zu seinen Eltern zurück. Dies gilt, selbst wenn die Entführte nicht vergewaltigt wurde - was auch nicht selten vorkommt -, denn allein durch die Nacht in dem fremden Haus gilt ihre Ehre nach dem strengen Sittenkodex vieler Kirgisen schon als verloren. Durch das Weglaufen würde sie ihren Eltern Schande bereiten. "Auch heute noch ist die Autorität der Eltern sehr stark", sagt Light, "wenn die Mutter des entführten Mädchens sagt, dass sie bleiben soll, läuft sie nicht weg."

Nun gab es auch schon Entführungen von Frauen zu Hochzeitszwecken in vorsowjetischer Zeit - zum Beispiel, weil der hohe Brautpreis oder die Kosten einer Hochzeitsfeier die Mittel der Eltern überstiegen oder weil soziale Unterschiede einer Eheschließung im Wege standen. In der Regel lag dabei ein Einverständnis zwischen der jungen Frau und ihren Entführern vor, die durch diesen Akt gesellschaftlichen Zwängen ausweichen konnten.

Verständlich wird dies vor dem Hintergrund der komplizierten Geschlechterrollen in dieser Kultur. So war und ist das Thema Männerbeziehungen für die meisten unverheirateten Frauen ziemlich schwierig: Ihre Eltern sähen sie zu gern unter der Haube, auch sie selbst würden gern bald heiraten - nur dürfen sie das auf keinen Fall zeigen. Ein zu offensichtliches Interesse an einer baldigen Hochzeit gilt in der öffentlichen Meinung als Mangel an Zurückhaltung und Selbstkontrolle. Aus diesem Dilemma retteten sich viele durch eine inszenierte Entführung. Auch konnte eine junge Frau auf diese Weise einer von den Eltern arrangierten Ehe ausweichen, indem sie dafür sorgte, dass sie noch vor der Hochzeit geraubt wurde. Damit hatte ein Mädchen ein Instrument in der Hand, selbst die Wahl zu treffen. "Es gab aber auch Fälle, bei denen der junge Mann mit der Entführung seine eigenen Eltern zwang, seine Auserwählte zu akzeptieren", so Nathan Light.

In seinen Interviews zu den Lebensgeschichten hat der Forscher außerdem herausgefunden, dass in den frühen Zeiten sozialistischer Herrschaft arrangierte Ehen trotz Verbots sehr wohl verbreitet waren - allerdings sehr diskret gehandhabt wurden. "Wenn das Mädchen nicht einverstanden war, erlaubten ihre Eltern der Familie des jungen Mannes die Entführung ihrer Tochter", beschreibt Light eine gängige Praxis. Eine seiner Gesprächspartnerinnen, eine 65-jährige Frau, hatte ihm erzählt, wie sie von zwei Schwägerinnen des jungen Mannes ins Haus ihrer zukünftigen Schwiegereltern zu Fuß eskortiert wurde; eine andere Frau berichtete ihm von ihrer Entführung auf einem Eselskarren.

Für den Ethnologen bieten diese kirgisischen Varianten des Brautraubs faszinierende Einblicke in die Strukturen sozialen Handelns: "Vier oder fünf verschiedene Gruppen von Akteuren folgen hier einer identischen kulturellen Konvention." Das Ganze beginnt mit der Entführung der jungen Frau durch einen jungen Mann mithilfe seiner Freunde. Dann müssen die älteren männlichen Verwandten des Jungen zum Haus der Braut, um sich bei deren Eltern zu entschuldigen und Geschenke zu überbringen. Als Nächstes dürfen dann die Schwägerinnen der Braut zu ihr - und können entweder dazu beitragen, dass sie wieder gegen darf, oder reden ihr die Flucht aus.

"Jede dieser Aktionen ist voller kultureller Konventionen, wie die Beteiligten ihr Ziel erreichen können. Geregelt ist der ganze Prozess durch strenge Vorgaben zu korrektem Verhalten", sagt der Max-Planck-Forscher. Überhaupt sei es ohne Kenntnis des lokalen sozialen Hintergrundes schwierig, das Prozedere zu verstehen: "Von außen betrachtet, ist es unmöglich nachzuvollziehen, wie diese Praxis im Lauf der Zeit zu einer ganz normalen Hochzeitsstrategie werden konnte." Sie sei verboten, anstrengend, gefährlich - doch zugleich akzeptiert. "Und sie bewältigt schließlich auch einige der Probleme, die im Zusammenhang mit anderen Hochzeitstraditionen existieren."

Mittlerweile haben sich auch internationale Menschenrechtsorganisationen und nationale Frauenrechtsgruppen dieses Themas angenommen, doch finden sie mit ihrer Kritik an den gewaltsamen Brautentführungen im Land nur wenig Gehör. "Viele Kirgisen erkennen nicht an, dass die Entführung gegen den Willen der Frau erfolgt ist", bringt Nathan Light etliche Meinungen auf den Punkt, die er von den Menschen aus den Dörfern und Städten zwischen Bischkek und Talas des Öfteren zu hören bekommen hatte. Überhaupt fassten weite Teile der Landbevölkerung den Brautraub als etwas ganz Selbstverständliches auf, das man gar nicht hinterfragen müsse. "Für sie ist das ein ganz normaler Lauf der Dinge."


Was an Ende wirklich zählt

In seinen 300 Interviews und in den vielen Stunden der teilnehmenden Beobachtung verschiedenster Ereignisse des Alltags- und Festlebens hat Nathan Light allerdings auch Hinweise auf einen Wandel gefunden. "Es gibt viele Anstrengungen, Brautraub zu bekämpfen, und manche davon sind durchaus erfolgreich." Man hat es mit einem vielschichtigen Phänomen zu tun, das in der Gesellschaft auf komplexe Art verwurzelt scheint. So sei die Vorstellung einer romantischen Liebesheirat mit freier Partnerwahl von weiten Teilen der Bevölkerung Kirgistans akzeptiert, für nicht wenige gilt sie sogar als romantisches Ideal.

Der Umsetzung in die Praxis wiederum stehen so viele Hindernisse entgegen, dass viele den Brautraub letztlich für die bessere Alternative halten. Und schließlich spielt auch der Faktor Zeit eine wichtige Rolle. Denn die Menschen dort würden es genießen, ihre Beziehungen über einen langen Zeitraum aufzubauen und starke Bande zu entwickeln. "Und eine gute Beziehung lässt einen schwierigen Anfang vergessen", sagt Light.


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 2/2009, Seite 88-95
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
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veröffentlicht im Schattenblick zum 1. Oktober 2009