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ETHNOLOGIE/001: Papua-Neuguinea - Magie im Ausverkauf (MaxPlanckForschung)


MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftsmagazin der Max-Planck-Gesellschaft 1/2008

Psycholinguistik
Magie im Ausverkauf

Von Susanne Beer


Es ist eine Art Dienstjubiläum: Vor 25 Jahren kehrte der Sprachwissenschaftler Gunter Senft vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik zum ersten Mal aus Papua-Neuguinea zurück. Seitdem zieht es ihn immer wieder zu den Trobriand-Inseln, wo er die Sprache Kilivila und die Kultur erforscht. Beides hat sich seither drastisch verändert.

Abb.: Ein nur noch seltener Anblick vor Tauwema: das letzte Masawa-Kanu unter vollen Segeln. Dingis haben die aufwändig von Hand hergestellten Boote verdrängt.
Foto: Gunter Senft


Die Werkhalle der Firma Pfaff ist so groß wie ein Handballfeld. Insgesamt 60 Maschinen teilen das Areal in Bereiche von Geräten immer gleichen Typs - Außenrund-, Flächen- und Innenschleifmaschinen. Es ist laut, der Schleiflärm beherrscht die Halle. Die Arbeiter bedienen die Maschinen routiniert und ohne viel zu reden, manche stehen tänzelnd an ihrem Arbeitsplatz, um so die erzwungene Haltung zu durchbrechen und Stehbeschwerden zu lindern. Dass Gunter Senft im Herbst 1977 als Ferienarbeiter seine Kollegen - im wissenschaftlichen Sinne - beobachtet, wissen sie nicht. Ihn interessieren die Kommunikationsstrukturen; wann, wie, wie oft und worüber reden die Leute miteinander? "Ich hab dem Volk aufs Maul geschaut", lautet Senfts Kurzzusammenfassung seiner Arbeit bei Pfaff.

Fünf Jahre später: Gunter Senft steigt aus einer Dash 7. Das Kleinflugzeug hat ihn zum ersten Mal zu den Trobriand-Inseln gebracht, die zum südpazifischen Papua-Neuguinea gehören. "Ich hatte die romantische Klischeevorstellung, direkt in das so lebendig gezeichnete Bild von Bronislaw Malinowskis ethnografischem Meisterwerk Argonauten des westlichen Pazifik zu treten, das er im ersten Viertel des letzten Jahrhunderts verfasst hatte", erinnert er sich. Der erste Eindruck passt gut dazu: Palmen, Strand, Hütten und freundlich-misstrauische und barfüßige Insulaner in traditioneller Bekleidung - größer hätte der Kontrast zur Kaiserslauterner Werkhalle nicht ausfallen können.

Doch Senft will hier in der Südsee etwas Ähnliches wie zuvor in der Pfalz: Er will verstehen, wie und worüber die Menschen miteinander sprechen. Nur: Bislang kann der Deutsche so gut wie nichts in Kilivila sagen; bei Pfaff in Kaiserslautern konnte er im westpfälzischen Dialekt munter mitmischen, weil er selber aus der Stadt stammt. In Kilivila beherrscht er nur den Satz: "Ich will Kilivila lernen - Magigu banukwali Kilivila". Außerdem kann er fragen: "Wer, was, wo" und kann deuten: dies, das, hier und da. Ein Bildwörterbuch ist im Gepäck. Sein Ziel ist ehrgeizig: Gunter Senft will eine Grammatik des Kilivila schreiben. Im Nachhinein sagt er: "Ich habe nicht absehen können, wie viel Arbeit das tatsächlich ist."


Wie ein Elefant im Porzellanladen

Die ersten Eindrücke sind für ihn das Dorf Tauwema auf der Insel Kaile'una und Kilagola, der Chief und dessen Familie. Seine Habseligkeiten darf Senft in der Kirche unterbringen; sie dient ihm zunächst auch als Schlafstätte, bis eine eigene Hütte für ihn gebaut ist. Es beginnt eine spannende Zeit, in der sich die Dorfmenschen und Gunter Senft beäugen. Ihm ist klar, dass er viele Fehler machen wird. "Doch viel später gewahr zu werden, dass man sich bisweilen wie ein Elefant im Porzellanladen benommen hat, ist schon erschreckend", gesteht Senft.

"Hast du Interesse, an einem interdisziplinären Projekt über rituelle Kommunikation auf den Trobriand-Inseln mitzumachen?", hatte Wolfgang Klein, Senfts Doktorvater und Direktor am Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in Nijmegen, ihn eines Tages im Mai 1980 gefragt - mitten im Tischtennisspiel vorm Aufschlag. Irenäus Eibl-Eibesfeldt, der Leiter der damaligen Forschungsstelle für Humanethologie am Max-Planck-Institut für Verhaltensphysiologie in Seewiesen, sei auf der Suche nach einem Linguisten für das Projekt. "Ich habe dich bereits empfohlen", sagte Klein. "Feldforschung hast du ja schon in Kaiserslautern erfolgreich betrieben, auf einer pazifischen Insel ist das gar nicht so anders." Dann folgte der Aufschlag - Senft verlor das Match, aber bekam eine Postdoc-Stelle in dem Projekt.

Feldforschung ist nicht nur Methode, sondern lässt auch Freundschaften wachsen: Pulia und Gunter Senft an der 1983 zum Abschied gepflanzten Betelpalme

Mikrofone zeichnen die Äußerungen von Vasopi und Mokeilobu auf, die sie - durch Sichtschutz getrennt - beim Legespiel 'Tinkertoy' machen

Abb.: Feldforschung ist nicht nur Methode, sondern lässt auch Freundschaften wachsen: Pulia und Gunter Senft an der 1983 zum Abschied gepflanzten Betelpalme (links). Mikrofone zeichnen die Äußerungen von Vasopi und Mokeilobu auf, die sie - durch Sichtschutz getrennt - beim Legespiel "Tinkertoy" machen (rechts).
Fotos: Gunter Senft


Ein Land mit 900 Sprachen

Die Trobriand-Inseln liegen abseits der touristischen Hauptwege. Für Linguisten jedoch ist der Archipel wie ganz Papua-Neuguinea mit seinen rund 5,8 Millionen Einwohnern ein Mekka. Amtssprache in Papua-Neuguinea ist Englisch; außerdem gibt es als Verkehrssprachen das Tok Pisin genannte Pidgin-Englisch und Hiri Motu. Daneben werden hier aber fast 900 verschiedene Sprachen benutzt, so viele wie in keinem anderen Land der Welt. Das Kilivila der Trobriand-Insulaner sprechen rund 28.000 Menschen. Es ist eine von 40 austronesischen Sprachen der Milne-Bay-Provinz, zu der die Inselgruppe gehört.

Gunter Senft tastet sich in den ersten Tagen und Wochen langsam durchs Dickicht der Kilivila-Sprache. Jede Äußerung nimmt er auf und versucht sie zu transkribieren. Wie mühsam das sein kann, zeigt die Geschichte mit dem Spinnennetz. "Was ist das? Avaka beya?", fragt der Deutsche einen Gesprächspartner und deutet auf ein Spinnennetz. "Kapali labwala", kommt die Antwort. Da Senft die Bedeutung von kapali als Spinne bereits kennt, glaubt er, dass labwala Netz heißen müsse. Ein Trugschluss: Bwala ist die Bezeichnung für Haus und der Ausdruck kapali la bwala ist wörtlich zu übersetzen als "Spinne ihr Haus". Auf ähnliche Weise kommt Gunter Senft zu einem Spitznamen, der ihn noch lange begleiten sollte: Als Bezeichnung für die kleine Schnitzerei eines Krokodils notiert er uligova in seinem Wörterbuch - und verwendet das Wort fortan für jede hölzerne Handwerksarbeit, ohne zu verstehen, warum die Menschen dabei stets lächeln. Bis er und ein Dorfbewohner bei einem Spaziergang über die Insel Krokodile sehen und Senft wieder einmal wissen will, was das ist. Der Mann fängt an zu kichern und sagt: uligova - das Wort für Schnitzerei lautet tokwalu.

Wenn Gunter Senft von seiner Feldforschung in Tauwema spricht, dann merkt man, dass ihn seine Erfahrungen dort sehr geprägt haben, nicht nur sein Forscher-, sondern auch sein Privatleben. Die Trobriand-Inseln sind für ihn eine zweite Heimat. Und so dürfe niemand, gesteht der ruhig und besonnen wirkende Mann, mal eben so fragen, wie es auf den Trobriand-Inseln sei. Denn das rührt an seine intensivsten Erlebnisse und es kann passieren, dass er mit seinen Berichten eine Gesprächsrunde unfreiwillig dominiert.

Dabei geraten die Erkenntnisse, die der nun 55-Jährige auf linguistischem Gebiet gesammelt hat, bisweilen in den Hintergrund, während das Verhalten der Trobriander und ihre Kultur in den Vordergrund rücken - wenn man diese beiden Bereiche überhaupt voneinander trennen kann. Schon Malinowski sprach von "Ethnolinguistik"; andere Bezeichnungen sind "anthropologische Linguistik" oder "linguistische Anthropologie". Diese Disziplin versucht zu beschreiben, "wie die Kultur ihren Niederschlag in der Sprache findet, welche Aspekte dieser Kultur wie sprachlich kodiert sind, wie diese Aspekte tradiert werden und wie Sprache insgesamt als konstituierender Faktor auf die Kultur ihrer Sprecher zurückwirkt", erklärt Senft.

Insgesamt rund 40 Monate hat Senft bis heute in Tauwema verbracht. Seine Frau begleitete ihn bei seinem ersten, 17 Monate währenden Aufenthalt für ein Jahr. 1989 brachten sie für mehr als vier Monate sogar ihre beiden zwei und vier Jahre alten Kinder mit. "Sie fielen als blonde Germanenkinder besonders auf", sagt Senft und lächelt. Von diesen Erlebnissen zehrt er noch heute: "Manchmal unterhalten meine Frau und ich uns aus Spaß auf Kilivila." Der Besuch mit der Familie rückte den Feldforscher bei den Trobriandern zudem in ein anderes Licht. Als das Ehepaar mit seinen Kindern nach Tauwema kam, werteten die Inselbewohner das nicht nur als Vertrauensbeweis, sie erkannten die Senfts nun auch als richtige Erwachsene an. Sie redeten sie nicht mehr mit gugwadi - "Kinder" an, sondern mit tomwaya und numwaya - "alte Frau" und "alter Mann".

Warum ein "Doktor der Sprachen" vier Monate brauchte, ehe er erste Vier- und Fünf-Wort-Sätze mehr oder weniger korrekt äußern konnte, haben die Dorfbewohner nie verstanden. Mehr noch: "Sie hatten Angst, als inkompetente Sprachvermittler dazustehen", erklärt Senft und nahm sich deshalb vor, besonders gut und schnell zu lernen. Zehn neue Vokabeln täglich - das hielten er und seine Frau bis zum Ende des Aufenthalts durch. Die Tatsache, dass ständig eine Kindermeute die Spaziergänge der Europäer lachend, feixend und redend begleitete, motivierte Senft zusätzlich: "Ich wollte wissen, was sie da sagten." Am Ende hat Gunter Senft Wort gehalten: Mit einer Grammatik und einem Wörterbuch des Kilivila kehrte er zurück nach Tauwema.

Mit sonnigen Grüßen aus Tauwema: Das Dorf ist für den Sprachwissenschaftler Gunter Senft zweite Heimat geworden. 'Seine' Hütte steht direkt am Strand.

Abb.: Mit sonnigen Grüßen aus Tauwema: Das Dorf ist für den Sprachwissenschaftler Gunter Senft zweite Heimat geworden. "Seine" Hütte steht direkt am Strand.
Fotos: Gunter Senft

Sich fotografieren zu lassen, ist nicht jedermanns Sache: Der misstrauische Isaya im Sonntagsstaat und drei Mädchen auf dem Weg zur Schule.

Sich fotografieren zu lassen, ist nicht jedermanns Sache: Der misstrauische Isaya im Sonntagsstaat und drei Mädchen auf dem Weg zur Schule.

Abb.: Sich fotografieren zu lassen, ist nicht jedermanns Sache: Der misstrauische Isaya im Sonntagsstaat und drei Mädchen auf dem Weg zur Schule.
Fotos: Gunter Senft


In der Luft lauern fliegende Hexen

Gunter Senft weiß, dass auf Kai-le'una alles andere als paradiesische Zustände herrschen. "Es ist knochenharte Arbeit, die die Trobriander in ihren Gärten bei tropischer Hitze leisten, wo sie Yamswurzeln, Taroknollen, Bananen, Bohnen oder Papaya für den Eigenbedarf anbauen." Er passt sich an, so gut es bei über 30 Grad und einer Luftfeuchtigkeit von über 90 Prozent eben geht. Er lässt sich bekochen und nimmt es hin, vier Wochen am Stück Yamswurzeln mit Sardinen oder auch mit Hummer zu essen. Er hat sein Unbehagen vor allem möglichen Getier abgelegt, das nachts raschelnd seine Hütte mit ihm teilt. Er pilgert jeden Morgen zur Badegrotte, um sich zu waschen und nutzt wie die Dorfbewohner die freie Natur als Toilette. Er spielt mit Kindern und lernt, dass man Babys nicht hochwirft, um ihnen Jauchzer zu entlocken - schließlich gibt es fliegende Hexen, die den Kindern gefährlich werden könnten. Er bemerkt, dass Privatheit ein Fremdwort für die Trobriander ist - "Wir sind der Fernseher für die Leute" - und doch vermittelt er den Trobriandern vorsichtig, dass zum Beispiel das Hand-in-Hand-Gehen mit seiner Frau in der Öffentlichkeit für Europäer normal ist. Er ist Ansprechpartner, wenn es um medizinische Hilfe geht, er verbindet Wunden und wird von Kilagola, dem Dorf-Chieff adoptiert.

Er und seine Frau Barbara, die vor allem den Kontakt zu den Frauen des Dorfes findet, merken, wie kooperativ und sozial die Menschen sind, wenn sie Fremde akzeptiert haben. Und welchen Stolz sie haben: "Die Trobriander bringen sogar Verwaltungsleute aus der weit entfernten Provinzhauptstadt dazu, Kilivila zu lernen, weil sie sich dem Tok Pisin als Lingua franca verweigern."

Mit einer Fülle von Daten kehrt Senft, begleitet von seiner Frau, Ende 1983 nach Deutschland zurück - und forscht zunächst am Schreibtisch in der Forschungsstelle für Humanethologie weiter. Er analysiert das im Feld mithilfe des internationalen phonetischen Alphabets transkribierte Material und übersetzt es ins Englische. Darunter sind Gespräche, Lieder, Reden, Trauerrituale mit Klageformeln, magische Formeln, Mythen, Witze, Beschreibungen für den Bau von unterschiedlichen Kanus, für den Hausbau, über das Flechten von Körben und Klatsch. Nachdem 1984 die erste Grammatik und das erste Wörterbuch gedruckt sind, wendet sich Senft den Zahlwörtern und dem damit verbundenen komplexen Klassifikationssystem des Kilivila zu.

Im Mai 1989 kehrt Gunter Senft zurück nach Tauwema. Er bemerkt schnell, dass sich die Lebenssituation drastisch verändert hat. "Diese Veränderungen trafen mich schlimmer, als manche bis dahin erlebten Formen des sogenannten Kulturschocks in meinem Wandern zwischen zwei Welten und Kulturen", gesteht Senft. Er macht sie zu einem zentralen Thema seiner Forschung, weil die kulturellen Umwälzungen auch einen Wandel der Sprache nach sich ziehen. Dieser wiederum wirkt sich nicht nur auf die Grammatik aus, sondern auch auf das mündlich überlieferte kulturelle Erbe und damit auf die kulturelle Identität der Trobriander.

In den Jahren 1982/83 war die überwiegende Mehrheit der Trobriander noch traditionell gekleidet, berichtet Senft: "Die Frauen trugen farbenprächtige, aus Bananen- und Pandanusblättern hergestellte Grasröcke und die Männer entweder einen Lendenschurz aus der Rinde der Betelpalme gefertigt oder ein knielanges Lendentuch, den sogenannten lap-lap oder sulu aus bunten Baumwollstoffen, ein Kleidungsstück, das typisch für den gesamten südlichen Pazifik ist."

Nun führen die Dorfbewohner stolz - und schwitzend - ihre westliche Kunstfaserkleidung vor, die in den Augen der Missionare und christlichen Dorfpriester viel anständiger und sittsamer ist. "Grasrock und Lendenschurz gehören inzwischen zu so etwas wie einer eigenen trobriandischen Folklore", bemerkt Senft bitter, "vergleichbar mit dem Trachtenschmuck bei Festumzügen in Oberbayern." Nacktheit gilt als unanständig, obwohl strikte Regeln für moralisches Verhalten auch im sexuellen Bereich schon immer gegolten haben.

Weil Nacktheit als unanständig gilt, sind Lendenschurz und Grasrock nun Folklore. Moligala (links) und Boseyada in traditioneller Kleidung aus Naturmaterialien.

Weil Nacktheit als unanständig gilt, sind Lendenschurz und Grasrock nun Folklore. Moligala (links) und Boseyada in traditioneller Kleidung aus Naturmaterialien.

Abb.: Weil Nacktheit als unanständig gilt, sind Lendenschurz und Grasrock nun Folklore. Moligala (links) und Boseyada in traditioneller Kleidung aus Naturmaterialien.
Foto: Gunter Senft


Auch die Alltagsdinge stellen die Trobriander nicht mehr selbst aus Naturmaterialien her, sondern kaufen industriell produzierte Waren. Sie tragen kaum noch traditionellen Körperschmuck aus Muscheln. Und weil kaum noch Frauen Grasröcke anziehen, sind die Färbemethoden für sie unwichtig geworden. Statt der großen Masawa-Auslegerkanus, die in ritueller gemeinschaftlicher Arbeit entstehen, nutzen die Trobriander heute kleinere, weniger aufwändig hergestellte Kanus oder Boote aus Aluminium und Fiberglas. So leidet nicht nur das Ansehen der einst versierten Handwerker, auch das damit verbundene Vokabular gerät in Vergessenheit.

Handmade in Tauwema: Motaesa fertigt einen Armreif aus einem Schneckengehäuse. Kadawaya arbeitet an einem traditionellen Grasrock für ihre Tochter Yebwaku, die einen ihrer modernen Röcke ausbessert.

Handmade in Tauwema: Motaesa fertigt einen Armreif aus einem Schneckengehäuse. Kadawaya arbeitet an einem traditionellen Grasrock für ihre Tochter Yebwaku, die einen ihrer modernen Röcke ausbessert.

Abb.: Handmade in Tauwema: Motaesa fertigt einen Armreif aus einem Schneckengehäuse. Kadawaya arbeitet an einem traditionellen Grasrock für ihre Tochter Yebwaku, die einen ihrer modernen Röcke ausbessert.
Fotos: Gunter Senft


Gleichzeitig beobachtet Senft, wie eine Reihe von Lehnwörtern Einzug in die Sprache hält: "Es gibt Wörter, die bislang kein Äquivalent im Kilivilawortschatz hatten, wie susipani für saucepan, seya für chair oder tara'utusi für trousers. Und es existieren mittlerweile Lehnwörter, obwohl es dafür sogar mehrere Äquivalente in Kilivila gibt. Allerdings haben die neuen Wörter meist eine geringfügig andere Konnotation. Beispiele dafür sind boli für ball (im Gegensatz zu moi, einem aus Pandanusblättern geflochtenen Ball) oder beleta für belt (im Gegensatz zu duliduli, pegala, segigi, vakala - unterschiedliche Typen von selbst hergestellten Gürteln).

Senft sieht in solchen Veränderungen unter anderem die Folge von Alphabetisierungskampagnen und der vermehrten Gründung von Schulen. Schulen bringen den Einwohnern Bildung und Entwicklung, sie befördern durch den Kontakt mit Englisch aber auch den Sprachwandel, so Senft. Benutzten 1983 nur ein paar einzelne Dorfbewohner Tauwemas Lehnwörter, sind sie nun immer mehr auf dem Vormarsch und "sollen belegen, dass man modern und gebildet ist." Bisweilen haben sie Kilivila-Ausdrücke auch schon komplett ersetzt, ausgerechnet dort, wo es an die engsten Verwandtschaftsbeziehungen rührt. Die Bezeichnungen inagu für "meine Mutter" und tamagu für "mein Vater" sind den Wörtern Mama und Papa gewichen.

Der Wandel hat zudem die Pragmatik des Kilivila, die Art, wie man mit sprachlichen Äußerungen handelt, beeinflusst. Da Schnitzer, Korbflechter oder andere Handwerker Probleme haben, Lehrlinge zu finden, verschwinden Höflichkeitsfloskeln. Denn der Nachwuchs erwirbt nicht nur das Spezialwissen, sondern erhält auch ein ausgeklügeltes Training, wie man diese taktvollen Redewendungen richtig einsetzt. Abgesehen von einem gewissen ästhetischen Verlust kommt dies auch einem Wandel im sozialen Umgang gleich.

Neben dem Expertenwissen, das verloren geht, registriert Senft bei seinen Aufenthalten vor allem, wie die Rolle der Magie und die der magischen Rituale zurückgedrängt wird, was zu einer Verarmung sprachlicher Formeln führt. Der Glaube an die Kraft magischer Worte schwindet, während gleichzeitig der Einfluss christlicher Missionare und Dorfpfarrer zunimmt. Sie torpedieren das von ihnen als Heiden-Rituale angesehene Brauchtum subtil, indem sie betonen, dass es zwei Wege der Lebensführung gibt - den traditionellen und den christlichen.


Missionare und Magier im Wettstreit

Gerade Frauen und Mitglieder rangniedriger Clane machten sich die Missionarsargumente zu eigen, sagt Senft: "Diese Entwicklung führt zu starken Spannungen innerhalb vieler Familien - besonders aber dort, wo die Ehemänner frommer Frauen Experten für bestimmte Formen von Magie sind." Da sich die Überzeugung im Rückzug befindet, mit der Magie die Natur und das Leben meistern zu können, entsteht ein spirituelles und politisches Machtvakuum, in das wiederum die Priester vorstoßen.

Die Abkehr von magischen Ritualen wirkt sich in den Augen von Gunter Senft auch nahezu existenzgefährdend aus - sie fördert nämlich das Bevölkerungswachstum auf den Trobriands. Die Missionare versuchen vor allem die sexuellen Moralvorstellungen nach ihren Regeln zu verändern. Daher ist es für junge Mädchen aus der Mode gekommen, von erfahrenen Heilkundigen einen Trank zu erbitten, der aus bestimmten Kräutern gebraut und mit magischen Formeln besprochen wird. Dieser Trank macht sie - je nach Dosierung - für eine bestimmte Zeit unfruchtbar.

Da die traditionelle Geburtenkontrolle nun verpönt ist, werden immer mehr Kinder geboren. Auf dem begrenzten Raum der Inselgruppe ist das fatal, weil die Flächen zum Anbau von Nahrungsmitteln nicht ausreichen und der Zeitraum zwischen zwei Nutzungszyklen, in denen die Gärten zur Erholung brach liegen, immer kürzer wird. Dabei sind Nährstoffe im Mutterboden der kargen Koralleninseln ohnehin Mangelware.Wie sehr der Stellenwert von magischen Formeln gesunken ist, bemerkt Gunter Senft auch daran, dass man ihm diese vermehrt zum Tausch anbietet. Noch 1983 erhält der Deutsche von Kilagola, dem Chief von Tauwema, dessen Kanu-Magie als Geschenk zur Adoption. Kilagolas Bruder schenkt ihm als Zeichen seiner Freundschaft Formeln seiner Wetter-Magie, und einer der Dorfältesten gibt ihm einige Formeln seiner Garten-Magie. Wie ein Ausverkauf solcher persönlichen und geheimen Informationen wirkt für Senft die Tatsache, dass nur sechs Jahre später gleich zwölf Dorfbewohner versuchten, im Tausch für Geld und Tabak magische Formeln loszuschlagen. "Ein klarer Beweis dafür, dass magische Formeln für die Mehrheit der Trobriander unwichtig geworden sind und ihren Wert als Eigentum, das man nur an seine Nachkommen weitergibt, verloren haben", zieht Senft nüchtern Bilanz.

Noch wächst die Nahrung quasi vor der Hüttentür, doch immer mehr Menschen müssen sich den Platz für ihre sogenannten Gärten teilen: Drei Männer beim Pflanzen von Taro-Knollen. Fotos diese und rechte Seite: Gunter Senft

Abb.: Noch wächst die Nahrung quasi vor der Hüttentür, doch immer mehr Menschen müssen sich den Platz für ihre sogenannten Gärten teilen: Drei Männer beim Pflanzen von Taro-Knollen.
Fotos diese und rechte Seite: Gunter Senft


Auch das System von gesellschaftlicher Organisation und Macht ist durcheinandergewirbelt, seit christliche Dorfpfarrer Status erlangt haben, weil Magier als Bewahrer traditioneller Machtverhältnisse in den Hintergrund gedrängt wurden. Ursprünglich leben die Trobriander in einer matrilinearen Gesellschaft, in der der Vater nicht als Verwandter seiner Kinder gilt. Kinder tragen den Eigennamen ihrer Mutter, der Clan-Besitz ist, und werden von ihren Onkeln versorgt.

Jetzt entwickelt sich ein patrilineares Verwandtschaftsystem: Da die Väter das Schulgeld der weiterführenden Schulen für die Kinder zahlen müssen, investieren diese nicht mehr in die Kinder ihrer Schwestern. Für die Abrechnung des Schulgeldes geben die Kinder mittlerweile die Namen ihrer Väter als Nachnamen an, zusätzlich zu ihren Eigennamen der Mutter. So verwischt die Clanzugehörigkeit.

Das Fazit Senfts klingt zunächst ernüchternd: "Es ist den christlichen Missionaren außerordentlich gut gelungen, die Inselgesellschaft in ihrem Sinne zu verändern, weil sie nicht nur die alltägliche Welt, sondern auch die ureigenen Glaubensvorstellungen der Trobriander verändert haben." So wird die Welt der Totengeister, die dem alten Glauben nach in ihrem unterirdischen Paradies auf der Insel Tuma leben, bei Ernte- und Trauerfeiern zwar noch besungen. Doch kaum noch einer versteht die in einer speziellen, altertümlichen Sprachvarietät gesungenen Lieder, weil die trobriandische Auffassung von den letzten Dingen immer mehr von christlichen Vorstellungen verdrängt wird.

Strukturierte Abläufe: Zu Beginn eines Trauerrituals tauschen Frauen Röcke zu Ehren eines Verstorbenen. Das Milamala-Erntefest wird in Tauwema mit Tänzen und Liedern für die Totengeister eröffnet. Fotos: Gunter Senft

Strukturierte Abläufe: Zu Beginn eines Trauerrituals tauschen Frauen Röcke zu Ehren eines Verstorbenen. Das Milamala-Erntefest wird in Tauwema mit Tänzen und Liedern für die Totengeister eröffnet. Fotos: Gunter Senft

Abb.: Strukturierte Abläufe: Zu Beginn eines Trauerrituals tauschen Frauen Röcke zu Ehren eines Verstorbenen. Das Milamala-Erntefest wird in Tauwema mit Tänzen und Liedern für die Totengeister eröffnet.
Fotos: Gunter Senft


Das Handeln der Missionare und den wachsenden Einfluss der westlichen Welt ausschließlich zu beklagen, greift jedoch zu kurz. Denn wir profitieren durchaus von diesen Veränderungen, findet Senft. "Schließlich hängen wir alle von den Märkten ab, die Missionare erst für die frühen Kolonialisten und dann für unsere exportorientierten Ökonomien eröffnet haben." Und in aller Regel sei auch der Sprachwissenschaftler oder Völkerkundler in fremden Kulturen auf die Zusammenarbeit mit der Mission angewiesen. Deren Mitarbeiter könnten ihnen oft als Einzige die jeweiligen Gesellschaften zugänglich machen. "Feldforschung ist dabei nicht nur ein methodologischer Ansatz, sondern auch und vor allem eine Form der mitmenschlichen Begegnung", erklärt Senft. "Deshalb kann ich getrost behaupten: Trobriand ist überall!"

Das gilt auch in anderem Zusammenhang: Überall sind Sprachen im Sterben begriffen, auch in Europa. Das schottische Gälisch oder das Niederdeutsche sind nur zwei Beispiele. "Wenn wir aber lediglich über den Verlust von Kulturen und Sprachen lamentieren, die uns sehr fremd sind, können wir einen gewissen Ethnozentrismus mit einem Schuss Romantik als Überbleibsel des Mythos vom 'Edlen Wilden' nicht verhehlen", sagt Senft.


Kulturelle Vielfalt braucht Optimismus

Überhaupt dürften Wissenschaftler erst im zweiten Schritt vorsichtig versuchen, die Veränderungen von Kulturen und Sprachen mehr oder weniger subjektiv zu bewerten. Zunächst müssten sie diese ausschließlich beschreiben und dokumentieren. "Die Richtung dieser Entwicklungen zu beeinflussen, wäre dann eine politische Aufgabe." Trotzdem hofft der Sprachwissenschaftler auf verständnisvolle Touristen, Politiker, Missionare und Wissenschaftler, die akzeptieren, dass jede Gesellschaft kulturelle Vielfalt und Unterschiede braucht, und die helfen, diese zu erhalten. Gunter Senft weiß: "Dies ist eine vielleicht zu optimistische Sehweise."


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Eine Idylle in Anführungszeichen

Die Trobriand-Inseln in der Salomonsee gehören zu Papua-Neuguinea. Das Land mit etwa 5,8 Millionen Einwohnern umfasst die östliche Hälfte der Insel Neuguinea (die westliche Hälfte gehört zu Indonesien) sowie zahlreiche kleine Inseln und liegt nördlich von Australien im Pazifik. Ihren Namen haben die Trobriand-Inseln im äußersten Südosten Neuguineas von dem Franzosen Denis de Trobriand, der 1793 die ganze Südsee ersegelte und die Inseln erforschte. Die flachen Koralleninseln haben in Westeuropa durch den britisch-polnischen Anthropologen Bronislaw Malinowski einen gewissen Bekanntheitsgrad erlangt; der erforschte ab 1914 die Inseln und berichtete in seinem Buch "Die Argonauten des westlichen Pazifik" über die Trobriander. Malinowski gilt als Vater der Feldforschung und hat als sogenannter teilnehmender Beobachter in der Gemeinschaft der Trobriander gelebt, ihre Sprache gelernt und ihre Kultur studiert. Das entsprach Anfang des 20. Jahrhunderts einer radikalen Abkehr von bislang verwendeten Methoden und ermöglichte völlig neue Einsichten in die Kulturen fremder Völker.

"Die Trobriand-Inseln sind palmengesäumte idyllische Südseeinseln, die mangels genügender Infrastruktur touristisch noch wenig erschlossen sind." Diese Einschätzung im Reiseführer ist durchaus richtig, wenngleich das Wort "idyllisch" nicht ausnahmslos positiv gesehen werden sollte. Es gibt kaum Straßen in etlichen Gegenden des gesamten Landes; viele Ortschaften sind nur per Flugzeug oder Boot beziehungsweise Einbaum zu erreichen. Die Bevölkerung auf den Trobriand-Inseln lebt von der Subsistenzwirtschaft. Das heißt, die Menschen entnehmen dem Land, was sie zum Leben brauchen. Sie roden so viel Wald, dass sie ihre Hütten bauen und Felder - in Papua-Neuguinea heißen sie Gärten - anlegen können. Sie bauen vor allem Yams an, jagen, fischen und züchten Schweine. Die Menschen sind eng mit Land und Wald verbunden. Nicht nur wirtschaftlich, sondern auch sozial, kulturell und spirituell. Die meisten Papua-Neuguineer sind seit der Kolonialzeit christianisiert worden, der alte Ahnenglaube ist nur noch stellenweise lebendig.

Quelle der Karte: Diercke Weltatlas, Westermann

Quelle der Karte: Diercke Weltatlas, Westermann


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Quelle:
MaxPlanckForschung - Das Wissenschaftmagazin der Max-Planck-Gesellschaft
Ausgabe 1/2008, S. 75-83
Herausgeber: Referat für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit der
Max-Planck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V.
Redaktionsanschrift: Hofgartenstraße 8, 80539 München
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Der Bezug des Wissenschaftsmagazins ist kostenlos.


veröffentlicht im Schattenblick zum 4. Juli 2008