Schattenblick →INFOPOOL →SOZIALWISSENSCHAFTEN → FAKTEN

BERICHT/071: Die Empörten (Einblicke/Uni Oldenburg)


EINBLICKE - Forschungsmagazin der Universität Oldenburg
Nr. 56/Herbst 2012

Die Empörten

Von Andreas Eis



Stuttgart 21, Blockupy und tausende Klagen gegen den EU-Rettungsschirm: Die Bürgerproteste nehmen zu, und immer mehr soziale Bewegungen entstehen. Der Sozialwissenschaftler Andreas Eis versteht das als Antwort auf eine Krise, die niemand so recht thematisiere: die Legitimationskrise parlamentarischer Demokratie.


Etwa 700 meist junge Menschen werden im Mai 2012 auf dem Weg nach und in Frankfurt am Main in Gewahrsam genommen. Straftaten vorwerfen kann man ihnen nicht - lediglich die vermutete Absicht, an nicht genehmigten Versammlungen teilzunehmen.

Anlässlich der "Europäischen Aktionstage Blockupy" inszenieren die Stadt Frankfurt und die hessische Landesregierung den Ausnahmezustand. Das Protestforum richtet sich gegen Sparpolitik und die Macht der Banken. Mehr als hundert Organisationen unterstützen die Bewegung: darunter Jugendverbände der Gewerkschaften, Friedens- und Umweltgruppen, Arbeitsloseninitiativen, anarchistische und sozialistische Vereine sowie Vertretungen der Studierenden. Entsprechend bunt und vielfältig sind die geplanten Aktionen: von Blockaden über Workshops und Konzerte bis hin zu einer Rave-Tanzdemo. Doch dazu kommt es nicht. Massive staatliche Interventionen schränken die Grundrechte der potenziellen Teilnehmer ein. Um Blockaden des Bankenviertels und befürchtete Ausschreitungen einiger Autonomer zu verhindern, werden sämtliche Veranstaltungen verboten - selbst Vorträge, Lesungen und Diskussionen. Die Zugänge zum DGB-Haus werden gesperrt, der Uni-Campus wird abgeriegelt, zahllose Aufenthaltsverbote für die gesamte Innenstadt werden verhängt.

Massive Reaktionen also auf eine Protestbewegung, die in New York als Occupy Wall Street begann und schnell internationalen Zuspruch fand. Solche Bürgerproteste nehmen zu - die Entstehung neuer sozialer Bewegungen ist auch eine Antwort auf die tief greifende Legitimationskrise parlamentarischer Demokratie.

In der Politischen Bildung wird diese Legitimationskrise bislang kaum thematisiert. Nur wenige Sozialwissenschaftler stellen deren Bedeutung als Lerngelegenheit heraus. In vielen Studien der Governance- und Policyforschung bleiben die schwindenden Teilhabechancen der Bürger weitgehend unterbelichtet - die staatliche Intervention bei den Aktionstagen von Blockupy ist nur ein Beispiel dafür.

Dabei protestieren viele Menschen nicht nur gegen die Auswirkungen der Finanzkrise, gegen Sparprogramme und Rettungsschirme. Sie fordern auch, demokratische Entscheidungswege neu zu justieren. Denn Staatlichkeit hat sich für sie spürbar verändert: Transnationales Regieren in Expertengremien jenseits von Parlamenten und Öffentlichkeit stellt die klassischen Wege demokratischer Willensbildung in Frage. Dem stehen auf der Ebene der Subjekte neue Formen des Regiertwerdens gegenüber. Junge Menschen werden weniger als emanzipatorische Akteure adressiert, denn als "Unternehmer ihrer selbst" (Ulrich Bröckling). Sie sollen selbstverantwortlich ihre berufliche Mobilität und soziale Sicherung regulieren. Gleichzeitig zeigen Ergebnisse der politischen Kulturforschung etwa von Brigitte Geißel, dass die Voraussetzungen politischer Teilhabe für viele Bürger sehr begrenzt sind - die Partizipationschancen sind zunehmend ungleich verteilt.

Engagementpolitik statt kritischer Demokratiebildung: Wenn Bildungsforscher die Legitimationskrise überhaupt thematisieren, dann indem sie häufig politische Partizipation auf soziales Engagement reduzieren. Geradezu euphorisch werden Projekte des Service- und Demokratielernens beworben und öffentlich gefördert. Doch die gesellschaftlichen Konfliktlinien und Legitimationsdefizite werden in vielen dieser Projekte nicht thematisiert: Unberücksichtigt bleiben die Mechanismen sozialer Schließung und die Gründe für den (Selbst-) Ausschluss von immer mehr Menschen aus dem Feld der politisch anerkannten Akteure und Entscheidungsprozesse. Vielmehr gelten privates Engagement, Selbstverantwortung und Unternehmergeist als neue Bildungsziele. Sie sollen nicht zuletzt den Rückzug des Wohlfahrtstaates kompensieren.

Nicht wenige Sozial- und Bildungsforscher suchen die Defizite bei den Bürgern selbst. Sie seien der "eigentliche Schwachpunkt unserer Demokratie", meint etwa der Dresdner Politologe Werner Patzelt. Die Bürger verstünden das politische System nicht und wären immer weniger bereit, in Parteien und Verbänden mitzuwirken. Sie würden für Politik nicht annähernd die Mühe und Zeit investieren wie für den Kauf eines neuen Autos oder eines iPhones.

Eine ähnliche Diagnose stellte bereits Joseph Schumpeter mit der Empfehlung, man möge politische Entscheidungen konsequenterweise Experten und Fachausschüssen überlassen. Heute ziehen Wissenschaftler zur Begründung der Expertendemokratie empirische Studien heran, die belegen sollen, dass die meisten Bürger nicht über die nötige "political literacy", über basale Kenntnisse und Fähigkeiten verfügen. Sie hätten zu hohe Erwartungen, betrachteten den Staat lediglich als Dienstleister und würden daher zwangsläufig von parlamentarischen Prozessen enttäuscht. Protestbewegungen sind nach dieser Logik Ausdruck von Verantwortungsflucht und Rückzug in Spaß-, Konsum- und Freizeitkulturen, bei denen eben auch der Protest sich zum Event wandelt.

Allein bei den Bürgern die Ursache für eine Krise der Demokratie zu suchen, ist abwegig - bedenkt man nur die jahrelangen Auseinandersetzungen um die EU-Dienstleistungsrichtlinie, um Stuttgart 21 oder die Schulreform in Hamburg. Es sind nicht nur Occupy-Aktivisten und linke Splittergruppen, die demokratische Defizite einklagen. Das Bundesverfassungsgericht verhandelte im Herbst 2012 Klagen gegen den Euro-Rettungsschirm und die Fiskalunion, denen sich über 37.000 Bürger und Politikerinnen von der CSU, über die SPD bis zur Linken angeschlossen hatten. Dabei ging es um das Demokratiedefizit bei europapolitischen Entscheidungen und das Haushaltsrecht des Bundestags - ein Kernelement demokratischer Souveränität also.

Politische Bildung und Bildungsforschung muss die Legitimationsdefizite und aktuellen Krisenphänomene problematisieren und ihre Folgen für politische Sozialisations- und Lernprozesse analysieren. Die Lerngelegenheit der Krise besteht in der Analyse ihrer sozioökonomischen Ursachen, in der Kritik defizitärer Legitimationswege, dem Aufzeigen politischer Alternativen und der Erprobung neuer Verfahren der Partizipation wie das von der Piratenpartei eingeführte Verfahren des "liquid feedback". Dabei kann das Stimmrecht durch die Parteibasis fallbezogen wahrgenommen werden. Abhängig von der jeweiligen Fragestellung stimmen die Mitglieder selbst ab oder können ihre Stimme auf ausgewählte Delegierte - aber eben nicht für alle Entscheidungen - übertragen.

Wichtig ist, dass Politische Bildung den Abbau demokratischer Teilhabechancen und die Formen von Entdemokratisierung thematisiert - wie zum Beispiel die Schwächung der Parlamente durch Expertengremien, Europäisierung, Lobbyismus und kommerzielle Politikberatung. Politik kann nicht auf die effiziente Regelung öffentlicher Probleme durch administrative Verfahren reduziert werden.

Erst als Gegenbewegung dazu werden die Empörung, die Bürgerproteste und der große Erfolg der Piratenpartei verständlich. Junge Menschen suchen wirksame Wege politischer Einflussnahme. Viele Bürger zweifeln jedoch, ob ihnen überhaupt eine aktive Rolle außer der des Leistungsträgers oder der solventen Konsumentin eingeräumt wird. Im Zentrum politischer Bildungsforschung und Bildungspraxis müssen daher gerade die verhinderten Möglichkeiten demokratischer Mitbestimmung durch Mechanismen der Selbst- und Fremdausschließung stehen. Stuttgart 21, Blockupy oder Aktionen gegen das ACTA-Abkommen sind Beispiele für die Mobilisierung von Bürgerprotesten.

Der enorme Erfolg der Piratenpartei wiederum zeigt, dass auch in parlamentarischen Strukturen neue Wege basisdemokratischer Beteiligung möglich sind, die bereits vielfältig von den etablierten Parteien adoptiert werden. Politik ist ein öffentlicher Streit um Konflikte und Alternativen. Sie braucht neue Räume und Zugänge zu diesen Arenen sowie genügend Zeit, die Stimmen der Bürger ernst zu nehmen. Reduzieren sich die Sozialwissenschaften hingegen auf Fragen öffentlicher Verwaltung und ökonomisch effizienter Steuerung, blenden sie den Rückzug der Bürgerinnen aus der Politik weitgehend aus. Eine so verstandene entpolitisierte Politikwissenschaft spiegelt die Entpolitisierung der Bürger, statt diese zu reflektieren. Sie versagt gegenüber den eigenen Ansprüchen des Faches, tatsächlich eine Politische Wissenschaft zu sein.


Zur Person

Jun.-Prof. Dr. Andreas Eis ist seit 2011 Hochschullehrer für "Didaktik des politischen Unterrichts und der politischen Bildung" an der Universität Oldenburg. Er studierte Sozialkunde und Philosophie in Jena, Rennes (Frankreich) und East-Lansing (USA). Als Wissenschaftlicher Mitarbeiter war er an den Universitäten Augsburg und Jena tätig, wo er promovierte. 2009 bis 2011 übernahm Eis die Vertretungsprofessor für Didaktik der Sozialwissenschaften an der Universität Frankfurt/Main.


Bildunterschriften der im Schattenblick nicht veröffentlichten Abbildungen der Originalpublikation:

Seite 14:
"Junge Menschen suchen wirksame Wege politischer Einflussnahme". Momentaufnahme von der Demonstration "Freiheit statt Angst" im September 2011 in Berlin.

Seite 15:
"Erfolg der Piratenpartei erst als Gegenbewegung zum Abbau demokratischer Teilhabe verständlich": Demonstrierender Pirat in Berlin ...

Seite 15:
... und Piratin auf einem Parteitag in Chemnitz.

Seite 16:
Prof. Dr. Andreas Eis: "Politische Bildung muss die aktuellen Krisenphänomene problematisieren".

*

Quelle:
Einblicke Nr. 56, 27. Jahrgang, Herbst 2012, S. 12-17
Herausgeber: Das Präsidium der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg
Presse & Kommunikation:
Ammerländer Heerstraße 114-118, 26129 Oldenburg
Telefon 0441/798-5446, Fax 0441/798-5545
E-Mail: presse@uni-oldenburg.de
www.presse.uni-oldenburg.de/einblicke/
 
Das Forschungsmagazin EINBLICKE erscheint zweimal im Jahr


veröffentlicht im Schattenblick zum 8. Januar 2013