Schattenblick → INFOPOOL → SCHACH UND SPIELE → SCHACH


REZENSION/013: Jörg Palitzsch - 64 Felder erobern die Welt (SB)


Jörg Palitzsch


64 Felder erobern die Welt

Das Schachspiel in Kultur und Alltag



Auch wenn der Titel des jüngst erschienenen Buches von Jörg Palitzsch mit martialischer Attitüde daherkommt, die Abgründe des Krieges sind keineswegs das Thema. Mit Soldateska und Pulverdampf hat das Buch rein gar nichts am Hut. Die Eroberung der Welt, von der hier gesprochen wird, vollzieht sich gewissermaßen friedvoll und platonisch auf dem weiten Gebiet von Kunst und Kultur bis in die Alltagswelten der Menschen hinein.

Es geht ums Schachspiel und die unwiderlegbare Tatsache, dass das nostalgische Bild von einem altväterlichen Zweikampf am Brett, das hier und da in unseren Köpfen spukt, längst "aus dem Schatten von Kaffeehäusern und geschlossenen Clubs" (S. 7) herausgetreten ist und "schon lange alle Kulturbereiche durchdrungen" (S. 7) hat, wie es pointiert im Vorwort heißt. Schach wird nicht nur überall auf der Welt gespielt, die Welt selbst ist zu ihrem Brett geworden.

Wer noch Zweifel daran hegen sollte, dass die Verzahnung zwischen Schach und Kulturbetrieb heutzutage tief in die Alltagswahrnehmung der Menschen hineingreift, der findet im Buch ein reichhaltiges Potpourri an Belegen fürs Gegenteil. Er wird erkennen, wie emotional ansprechend und suggestiv schachliche Stilmittel und Motive inzwischen die moderne Pop-Kultur bereichern. Kaum ein Bereich bleibt ausgespart. In Comics und Filmen setzen Schachszenen ihre eigene Note. Auch im Liedgut der Musikindustrie, ob nun ohrenbetäubender Rock oder schmalziger Schlager, wird der ewige Stoff von Leid, Liebe und Schmerz filigran mit Symbolen aus der Schachwelt gefühlvoll verquickt. Nicht mehr wegzudenken ist das Schach aus der Literatur. Den kantigen Charakteren im Gangsterkrimi verleiht es eine mephistophelische Verschlagenheit und im Politthriller bauen Drahtzieher in den Geheimdiensten mittels schachstrategischem Kalkül weltumspannende Spionagenetzwerke zum Umsturz von Regierungen auf. Selbst die betonstrotzende Architektur bedient sich gern der schachlichen Symbolsprache. Auf den Bühnen dieser Welt ist das Schach ebenso zu Hause wie in der Werbebranche, die für sich im Andocken ans Schach neue Ausdrucksmittel zum Anpreisen von Waren und Dienstleistungen entdeckt hat.

Wo etwas allzu vertraut geworden und in Fleisch und Blut übergegangen ist, fehlt uns oft die nötige Distanz dafür, dass beispielsweise alltagsfremde Metaphern unseren Wortschatz prägen und der Blick auf die Wirklichkeit neue Bedeutungen erfahren hat. Wenn jemand sagt, er müsse etwas 'in Schach halten' oder dass eine vertrackte Angelegenheit zur 'Hängepartie' gerät, muss ihm nicht unbedingt bewusst sein, dass er damit Begriffe aus der Schachwelt entlehnt, vielleicht weiß er noch nicht einmal, welche eigentliche Bedeutung sie im Turnierbetrieb haben. Ein Schachspieler mit gefurchter Stirn am Brett steht für Konzentration, gilt als jemand, der tief grübelt und nachdenkt. Niemand käme auf den Gedanken, dass er vielleicht verzweifelt ist und mit der Situation nicht klarkommt. Bei einem Menschen hingegen, der einsam auf einem Stuhl hockt und die Stirn kraus zieht, wäre der Eindruck von Kummer das Naheliegendste.

Palitzsch war ehemals stellvertretender BZ-Redaktionsleiter und schreibt seit 2019 für die Schachmagazine 'KARL' und 'Rochade Europa'. Im letzteren unterhält er gar eine Rubrik, wo er Filme mit Bezug zum Königlichen Spiel, Schachmotive auf Plattencovern und schachspezifische Bücher bespricht. Bei dieser Arbeit kam ihm denn auch die Idee zu einem Buch über den weitreichenden Einfluss des Schachspiels auf Kultur und Alltag. Palitzsch möchte den Leser dazu anregen, "das königliche Spiel von vielen anderen Seiten kennenzulernen" (S. 9).

Und das gelingt ihm auf eine sehr liebenswerte und unterhaltsame Weise, wenn er zum Beispiel aufzeigt, dass die Comicwelt mit ihren bunten Strips selbst dem ernsthaften Schachspiel noch eine humoristische Seite abzugewinnen vermag, wo der Serienheld Lucky Luke gegen einen Goldminenbesitzer statt mit Revolverkugeln den Sieg mit Geistesblitzen davonträgt oder der Mann, der schneller als sein Schatten schießt, sein Pferd Jolly Jumper in zwei Zügen mattsetzt, wo der Gefängnishund Rantanplan gegen den Giftzwerg Averell von den Daltons eine Schachpartie spielt, die an Absurdität kaum zu überbieten ist. Ob nun Micky Maus oder Donald Duck, Prinz Eisenherz oder Tim und Struppi, das Schachspiel hat sich im Comic als lustvolles Mosaik oder sinnstiftendes Element bestens etabliert. Anspruchsvoller geht es dagegen in der Kunstform des Graphic Novel zu, wo der Grafiker und Illustrator Thomas Humeau die Schachnovelle von Stefan Zweig in eine mitreißende Bilderwelt entführt und den Erzählstoff in eine düstere Stimmung versetzt.

Der Autor nimmt den Leser in den weiteren Kapiteln mit auf eine Reise durch die Kulturgeschichte des Schachspiels, in der Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller ebenso wenig fehlen dürfen wie der Poet und Sprachkünstler Christian Morgenstern, der Jesuit Jacobus Balde oder der persische Philosoph Omar Khayman. Schachmotive spielten von Anfang an auch bei der Philatelie eine besondere Rolle, die nicht nur die Lust auf das Sammeln von Briefmarken erhöht, sondern darüber hinaus verdeutlicht, dass das Schachspiel schon früh als identifikationsstiftendes Merkmal in den Kulturschatz nahezu sämtlicher Nationen aufgenommen wurde, unabhängig davon, ob auf den Marken die Konterfeis berühmter Schachmeister, kunstvoll dargestellte Figuren oder historischer Szenen aus dem Turnierbetrieb prangen.

Einen besonderen Platz im Buch nimmt der surrealistische Künstler Marcel Duchamp ein, der nicht nur die Kunst revolutionierte, sondern dem Schachspiel auch von ganzer Seele verfallen war. Gemeinsam mit dem amerikanischen Komponisten und Musiktheoretiker John Cage entwickelte er das Projekt "Reunion", das auf der Bühne des Ryerson Theatre in Toronto im März 1968 seine Uraufführung feierte. Das Einzigartige daran war, dass die gespielten Schachzüge dabei in Töne verwandelt wurden, was den Zuschauern ein ungewöhnliches Hörereignis bescherte.

Schach auf die Bühne brachten unter anderem auch Benny Andersson und Björn Ulvaeus vom schwedischen Pop-Quartett ABBA. In Zusammenarbeit mit dem Texter Tim Rice entstand 1986 das Musical "Chess", das, angelehnt an den WM-Kampf 1972 in Reykjavik zwischen Bobby Fischer und Boris Spasski, eine Parabel um Macht, Liebe und Manipulation vor dem Hintergrund des Konflikts zwischen Ost und West zu Zeiten des Kalten Krieges erzählt.

Ein Kunstwerk ganz eigener Art stellt "Skat und Matt" des Karikaturisten Frank Stiefel dar. Jede Skatkarte schmückt das satirisch überzeichnete Gesicht oder eine eigentümliche Pose eines berühmten Schachspielers bzw. Weltmeisters, wobei die vier Damen im auffallenden Look durch Judit Polgar, Hou Yifan, Elisabeth Pähtz und Alexandra Kostenjuk repräsentiert werden.

Mit Schachgroßmeistern läßt sich gut werben, um Kunden zu gewinnen und Artikeln aller Art einen besonderen Kaufanreiz zu verleihen, obwohl der Zusammenhang zum Schachspiel nicht immer ersichtlich ist. "Schachspieler vermitteln Intelligenz, Seriosität, Originalität und Durchsetzungswillen" (S. 91). Mitunter reicht schon das Schachbrettmuster, wenn beispielsweise eine Lebensversicherung für die planerische Verläßlichkeit ihres Versicherungsportfolios wirbt. Auf Plakaten mit der mehrdeutigen Aufschrift "Sie sind am Zug" (S. 92) lockte die Zigarettenmarke Camel. Zu sehen war das bekannte Kamel der Marke zwischen Pyramiden und Palmen in einer Wüste mit dem Muster eines Schachbretts.

Ein eigenes Kapitel widmete der Autor dem politischen Schach als Projektionsfläche für gesellschaftliche Vorgänge und Beispiel für militärisches und strategisches Denken. Anerkennenswertermaßen überging er dabei die dunkelste Epoche nicht, als das Schachspiel in der Zeit des Nationalsozialismus dazu instrumentalisiert wurde, jüdische Schachmeister in Abgrenzung zum sogenannten arischen Schach mit antisemitischen Stereotypen zu verunglimpfen, wobei Alexander Aljechin eine bis heute strittige, jedenfalls unrühmliche Rolle spielte.

Sehr modern, wenn auch nicht von jedem Schachfreund gutgeheißen, ist das Schachboxen, das ursprünglich auf eine Comic-Trilogie des französischen Künstlers Enki Bilal zurückgeht und eine Zukunft beschreibt, in der alle Aspekte des Lebens vermessen und vereinheitlicht sind und die Menschen jeden Ansporn zur Renitenz verloren haben. Der Niederländer Iepe Rubingh griff den Gedanken der kämpferischen Tüchtigkeit sowohl auf geistiger als auch körperlicher Ebene jedenfalls auf und vereinte strategisches Denken und flinke Fäuste zu einer Sportkuriosität.

Auch wenn es einen Schachfilm im eigentlichen Sinne nicht gibt, bestenfalls in Form einer Dokumentation, hat das Schachspiel dank seiner kulturellen Universalität in allen gängigen Filmgenres seinen Platz gefunden, sei es zur Verdichtung von Charakteren oder zur Illustration von Wahnsinn und Einsamkeit, es "sprengt träumerische Filmbilder mit Sequenzen, denen eine wahre Bedeutung innewohnt" (S. 120). Von der Stummfilmkomödie "Schachfieber", über das Melodram "Casablanca", den Ingmar Bergmann-Klassiker "Das siebente Siegel", den Science-Fiction-Kultfilm "2001: Odyssee im Weltraum", den Kriminalfilm "Der Hund von Baskerville", den Agententhriller "Liebesgrüße aus Moskau", den Spielfilm "Die Grünstein-Variante" bis hin zur Netflix-Serie "Das Damengambit" und die Neuverfilmung der "Schachnovelle" untersucht Palitzsch die im Film verwendeten Schachszenen auf ihren inhaltlichen Zweck und ihre Bedeutung für den Übertrag aufs kulturelle Terrain mit feiner Spürnase und Akribie, so dass sich dem Leser Hintergründe öffnen und ihm Wissenswertes zugetragen wird.

Ein lesenswertes Buch allemal, nicht nur, weil es amüsant und eingängig geschrieben ist und die Recherchearbeit nie zu kurz kommt, vor allem aber, weil es das Schach aus der allzu stubenhaften und klausnerischen Enge einer spezifischen Fachlektüre herausholt und in die weite Welt der Kultur entlässt.

7. Februar 2022


Jörg Palitzsch
64 Felder erobern die Welt
Das Schachspiel in Kultur und Alltag
Joachim Beyer Verlag 2022
175 Seiten, 19,80 EUR
ISBN 978-3-95920-150-6
 
veröffentlicht in der Schattenblick-Druckausgabe Nr. 171 vom 12. Februar 2022


Zur Tagesausgabe / Zum Seitenanfang